Mittwoch, 8. März 2023

Auf Jakobswegen ans Ende der Welt


Gehen ist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.
Werner Herzog
What life has taught me I would like to share
with those who want to learn

Bob Marley

Himmelspfad und Sternenfeld ist kein Wanderführer, ich sage es lieber gleich. Ich erzähle auch nicht kontinuierlich von einer Fußreise, die dann doch zu einer Pilgerfahrt wurde, biete keine monotone Tag-für-Tag-Beschreibung vom Ausgang der Wanderung bis an ihr Ende, beschreibe nicht minutiös einen Tagesablauf nach dem nächsten. Obwohl ich das auch tue, denn es gehört zu einer Wanderung, dass die Ereignisse des Tages und der bewältigte Weg Schritt für Schritt und Tag für Tag immer wichtiger werden, weil sie dem Wanderer, der wochenlang nichts anderes unternimmt, als zu gehen, zu essen und zu schlafen, ihren Rhythmus auf den Leib schreiben. Ich erzähle von mehr und von anderem. Das eine oder andere Zitat, die eine oder andere Bemerkung, mag sich auf der einen oder anderen Seite wiederholen, weil sie zu den geschilderten Ereignissen passt, denn ich habe die Erzählungen meiner Wanderungen nicht kontinuierlich geschrieben, sondern an mehreren Orten, unter unterschiedlichen Umständen, mit langen Pausen zu verschiedenen Zeiten. Sie nun zu "säubern" oder zu glätten, fällt mir nicht ein, denn ich würde die Spontanität verfälschen, in der sie entstanden sind.

Ich entwerfe ein Szenario, das meine Wanderungen auf mehreren Jakobswegen in Spanien in den Jahren 2017 bis 2019 mischt, wie es mir gefällt, und wie mir die Landschaften, Orte und Menschen gefallen haben, denen ich begegnete. Ich bedauere nicht, dass ich respektlos mit den Erwartungen an eine Erzählung über eine Jakobsweg-Fußreise umgehe. Dafür, so hoffe ich, biete ich Kurzweiliges über den Weg hinaus. Mein Szenario bietet den Vorteil, dass es die Reflexion von der Doktrin befreit, sich die Freiheit nehmen, sich erlauben kann, respektlos subjektiv und fantasievoll narrativ zu sein. Was berichtet, was probierend erzählt wird, kann jederzeit durchbrochen und erörtert werden, Platz schaffen für Kommentar, Interpretation und Authentizität. Selbst fürs Fabulieren. Was ich präsentieren werde, ist eine serielle Erzählung, einem einzigen Thema gewidmet, das sich in fünf voneinander unabhängigen Staffeln entfaltet. Jede dieser Staffeln verbindet Reiseerzählung, Kulturbeschreibung und autobiografisches Schreiben in einer Reihe fortlaufend erzählter Episoden.
Einem Wirbel von Geschichten zuzuhören, schreibt Anna Lowenhaupt Tsing, und sie zu erzählen kann man als Methode bezeichnen. Und warum nicht die Behauptung aufstellen, dass der Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis allein darin besteht, dass Erinnerungen eine bestimmte Bedeutung für eine Person, und wenn es gelingt, vielleicht für eine soziale Gruppe besitzen. Reisen sind eine Bewegung im Raum, Erinnerungen eine Bewegung in der Zeit. Sie gleichen auch, behauptet Walter Benjamin, einem Tigersprung ins Vergangene. Für mich besitzen Erinnerungen eine dreifache Qualität: sie sind erfreulich und angenehm, neutral oder emotional ungefärbt, mitunter schmerzhaft und unerwünscht.
In den Beiträgen dieses Blogs wandere ich Fußreisen auf spanischen Jakobswegen nach, erzähle von meinen Erlebnissen und Erfahrungen, von Landschaften und Begegnungen mit Pilgern aus aller Welt. Mein Weblog ist kein Reiseführer, dem man Eins zu Eins nachwandern kann, wohl aber ein Reflexionstableau für eine Inspiration, ein Kompendium der Einstimmung für diese Wege. Er dokumentiert nicht alle Etappen meiner Wanderungen, sondern beschränkt sich auf zu Episoden zusammengefasste Etappen.
Die erste Staffel von Erzählungen führt zurück ins Jahr 2017, auf den Camino del Norte, entlang der spanischen Biskayaküste. Er beginnt in Irún, an der französisch-spanischen Grenze, und verlässt erst hunderte Kilometer weiter in Ribadeo die Küste. Man nennt ihn zurecht den Küstenweg, denn er biegt erst dort ins galicische Mittelgebirge ab, und führt den Wanderer südwestlich weiter bis er Santiago de Compostela erreicht. Ich bin auf dem Camino del Norte von Irún nach Gíjon gewandert, erzähle aber nur von meiner Fußreise durch das Baskenland, eine fantastische Berglandschaft mit alten verwunschenen Wegen, auf denen bereits Menschen mit Maultieren unterwegs waren, als die Westgoten ankamen. Bauern zu ihren Pflanzungen, Händler, in ständiger Konkurrenz mit Schmugglern, mit ihren Waren von einem Ort in den nächsten, Migranten, vor wem auch immer auf der Flucht, und Briganten, die keinen Unterschied machten, wem sie das Wenige oder ihren Reichtum nahmen. Eine Wanderung zwischen Berg und Meer, Aussichten aus der Höhe über die Biskaya, die sich wie ein blauer Spiegel in der Frühlingssonne unter mir ausbreitete. Atmemraubende Anstiege hinauf in die Berge, die jede Anstrengung lohnten, einfach nur um oben zu sein, die Welt zu meinen Füßen. Kantabrien, die zweite Autonome Provinz, durch die der nördliche Jakobsweg verläuft, hat schöne Landschaften, viel zu weit entfernt von den Bergen, und dichter besiedelt. Dafür entschädigt Kantabrien mit Steilküsten, an die sich weit unten die Brandung bricht, während der Weg am Saum der hochgelegenen Küste mäandert. Doch gefallen hat es mir in Kantabrien nicht. Asturien, wo mich die Berge von der Küste weg ins Landesinnere lockten, ist ganz anders und ich bin länger geblieben. In Oviedo traf ich auf den Camino Primitivo und wanderte durch das asturische Mittelgebirge über Lugo nach Santiago de Compostela, und von dort ans Kap Finisterre und weiter nach Muxía, ans Ende meiner ersten Pilgerfahrt.

Camino del Norte

Der Camino Primitivo ist ein Jakobsweg der Sonderklasse. Ihm wird nachgesagt, er sei beschwerlicher und fordernder als die anderen Wege nach Santiago de Compostela. Das ist er nicht, und jeder, der auf seinen Rhythmus achtet, kann ihn gehen. Er ist der ursprüngliche, der erste der Wege in die Jakobusstadt, als es noch keinen anderen gab, denn damals hatten die Mauren die iberische Halbinsel unter ihre Herrschaft gebracht. Ich finde, er ist der schönste Jakobsweg, den ich gewandert bin, dicht gefolgt vom Camino Sanabrés, der ihm ohne Weiteres das Wasser reichen kann. Der Primitivo wartet mit einer Kette landschaftlicher Highlights auf, verschlafener Orte und kultureller Besonderheiten. Aber davon hat Spanien ohnehin viel zu bieten. Oviedo im Rücken wird es zunehmend ländlicher, entspannter und trotz der vielen Spuren der Kultivierung der Landschaft durch den Menschen, natürlicher, ursprünglicher, einsamer. Ein Weg für Liebhaber der Natur, die nicht genug davon bekommen, im Freien zu sein. Bis der Wanderer dann nach vielen Tagen landschaftssatt in die alte Römerstadt Lugo kommt, in eine quirlige, moderne Stadt hinter einer antiken Stadtmauer, die ihresgleichen sucht, ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, als Hispanien römische Provinz war, was sie nicht vergessen hat.

Camino Primitivo

2018 war ich wieder in Spanien unterwegs. Von Sevilla aus wanderte ich auf der Vía de la Plata nach Norden, wechselte in Granja de Moreruela auf den Camino Sanabrés nach Ourense; nicht nach Astorga, auf den Camino Francés, was auch möglich gewesen wäre, aber die Festivalatmosphäre, die mir 2017 auf dem populärsten der Jakobswege begegnete, machte mir die Wahl leicht. Die Vía de la Plata verläuft über tausend Kilometern aus dem Süden Spaniens, aus Andalusien, in den Norden, nach Galicien. Wieder erzähle ich über ausgewählte Etappen und nicht von der ganzen Fußreise. Ich erzähle nichts über Salamanca, wo es mir trotz meiner Erwartung nicht gefallen hat, und auch nichts über den Weg bis nach Zamora. Dafür erzähle ich ausführlich über meine Zeit in Andalusien und der Extremadura sowie von meiner Wanderung auf dem unvergleichlichen Camino Sanabrés, der Landschaft zwischen Zamora und Ourense, die so ursprünglich ist wie die des Camino Primitivo. Müsste ich mich entscheiden, könnte es sein, dass dieser Abschnitt eines der Jakobswege, die ich kenne, mein Favorit wäre.
Nach wochenlangem Gehen durch die Täler und Berge im Landesinneren sehnte ich mich nach dem Meer, nach dem weiten, offenen Blick bis an den Horizont. Ich fuhr von Ourense mit dem Bus nach Porto, um meine Fußreise nach Santiago de Compostela auf dem Caminho Português de la Costa fortzusetzen. Die Etappe von Ourense nach Santiago de Compostela muss ich nun ein anderes Mal gehen. Viele Wege führen nicht nur nach Rom, sondern auch nach Santiago. Nach einer Woche setzte ich in Caminha über den Río Miño nach A Guarda und war zurück in Spanien, wieder auf galicischem Boden. Nur wenige Tage später, ich erinnere mich an Regen, Regen und Regen, wandte ich dem Meer den Rücken zu, denn der Caminho Português bog in Redondela ins Landesinnere ab und führte über Pontevedra und Padrón nach Santiago de Compostela und Fisterra, ans Ende der Welt und zurück ans Meer. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen werde.

Vìa de la Plata

Im Vergleich zum Camino Francés, und in gewisser Weise auch zum Camino del Norte, ist der Camino Sanabrés ein beschwerlicherer Weg. Die Mühe des Wegs ist keinesfalls eine geografische oder physische Kraftanstrengung, sondern die psychische Herausforderung, die die Vía dem Wanderer zumutet. Es ist die Einsamkeit einer Landschaft, in der selbst abgelegene Orte selten sind, und sich Gemeinschaft mit anderen erst abends in den Herbergen ergibt; jedenfalls meistens. Es ist die andauernde Konfrontation mit sich selbst, die immer dann eintritt, wenn die Ablenkungen der Zivilisation ausbleiben, und wenn alle möglichen Gedanken sich ungefragt einstellen. Die Vía de la Plata ist für die Wanderer der richtige Weg, die es mit sich selbst aushalten, es sei denn, sie entscheiden sich dagegen, sie allein zu gehen.

Camino Sanabrés

Santiago de Compostela

Jeder Pilger kennt Santiago, die Jakobusstadt, und wer sie noch nicht gesehen hat, macht sich mit Sicherheit falsche Vorstellungen und Erwartungen. Pilgern nach Santiago wird von Jahr zu Jahr populärer, und die Wege werden immer voller, sodass Ruhe und Kontemplation drohen auf der Strecke zu bleiben. Ich frage mich, ob eine Pilgerfahrt dorthin noch zu empfehlen ist, bin mir aber auch bewusst, dass Darstellungen wie mein Weblog weiter dazu beitragen, das Pilgern, wie einst im Mittelalter, wieder zu einer Massenbewegung zu machen.
In Wirklichkeit gibt zwei verschiedene Santiagos, die trotzdem eine einzige urbane Identität bilden: das Santiago der Bewohner und das Santiago der Pilger. Zwischen beiden Städten verläuft eine unsichtbare Grenze, und wer sie überschritten hat, wähnt sich in einer anderen Welt. Während das touristische Santiago der Pilgerscharen eine mittelalterliche Kulisse bewahrt, die die Fantasie der Pilger triggert, gibt sich das andere Santiago als eine moderne, quirlige spanische Großstadt. Die Atmosphären der beiden Santiagos mischen sich nicht, geradeso, als ob ein himmlischer Wächter auf der Grenze steht und genau darauf achtet, dass nichts Modernes die restaurierte Illusion des künstlich erhaltenen Santiagos der Vergangenheit stört. Doch gleichgültig ob naive Anschauung des Gegebenen oder kritische Reflexion der kommerziellen Umstände: An Santiago de Compostela kommt niemand vorbei, der sich erst einmal auf den Weg gemacht hat.

Am Ende der Welt

Wer in Santiago de Compostela angekommen ist, und wen auf dem wochenlangen Weg der Wandervirus infiziert hat, sodass er nicht stillstehen kann und weitergehen muss, für den gibt es den Camino de Finisterre, der ihn an eines der Enden der Welt bringt, die die europäische Atlantikküste zu bieten hat. Über Fisterra, das kleine Städtchen am Ende des Camino de Finisterre, den ultimativen Sehnsuchtsort, kurz bevor der Pilgerweg das Ende der Welt erreicht, gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Vielleicht nur, dass die Umgebung des Kaps mein Lieblingsort des ganzes Weges ist. Ich weiß nicht einmal, warum das so ist, warum ich mich so wohl fühle in Fisterra, wo doch täglich auch hunderte Pilger für eine Stippvisite vorbeischauen. Im Vergleich mit anderen spanischen Städtchen, durch die ich gewandert bin, ist Fisterra nicht einmal sehenswert, auch nicht interessant. Es sei denn, man mag die engen Gassen mit ihrer historischen Architektur rund um eine zentrale Praza mit ihrer landestypischen Gastronomie, ein historisches Zentrum, in dem man glaubt, die Zeit stände still, das Fisterra wie jede andere Stadt in Spanien bewahrt. Vielleicht liegt es auch nur daran, weil der Ort das Ende markiert, den Tod einer Fußreise, der auf Neues hinweist, lässt man den Appendix Muxía einmal beiseite. Vielleicht ist es das Gefühl, angekommen zu sein, endlich still stehen bleiben zu können. Ein Ewigkeitsmoment, in dem die ganze Pilgerfahrt in einem einzigen Gefühl des Glücks kondensiert. Von hier aus geht nur noch zurück, wendet sich der Wanderer wieder dem Sonnenaufgang zu, und ein neuer Lebensabschnitt kann beginnen. Eines weiß ich aber doch: Der kleine Ort auf einer Halbinsel, auf drei Seiten vom Atlantik umspült, der dort endlos erscheint, ist ein idealer Ort, um durch seine Gefühle und Gedanken zu flanieren, und müßig in den Tag hineinzuleben.

An den Anfang: Auftakt



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