Selten sind die Dinge, was sie zu sein scheinen. Aber sind sie deshalb gleich etwas Anderes? Sehnsucht! Unruhe! Fernweh! Das sind die drei Gefühle, die mich schon früh von zu Hause weglockten. Hätte ich vor einigen hundert Jahren gelebt, ich wäre zur See gefahren. Doch ich bin Ethnologe geworden und an Kultur, besonders an der spannenden Symbiose von Kultur und Landschaft, Geschichte und Literatur interessiert, an den Erzählungen, die sich Menschen über die Phänomene und die Ereignisse erzählen, die ihnen begegnet sind. Was mit Petroglyphen an Felswänden und Gemälden in finsteren Höhlen begann, mündete in eine unglaublich vielfältige, narrative Literatur. Es gibt unzählige Geschichten, und manche ragen wegen der Aura der Erstmaligkeit, die sie umgibt, unter ihnen hervor. So blieb es nicht aus, dass ich mich irgendwann auf dem Jakobsweg wiederfand, um den Apostel zu besuchen. Nicht im katholischen Sinne, nicht einmal im religiösen, eine Begegnung, die nicht wenig mit meiner Neugier auf ein Danach zu tun hat. Im Leben gibt es immer wieder Persönliches zu erledigen, und meine katholische Sozialisation gehört dazu.
Jakobus ist eine schillernde Persönlichkeit, dessen charismatische Aura noch postum über Jahrhunderte hinweg faszinierend weiterwirkt. Letzten Endes mich seine Legenden erreicht. Ich bin mit den katholischen Heiligenlegenden und deren Wunderglauben aufgewachsen. Ich erinnere mich gut daran, ich war noch ein Kind, wie alte Frauen im dämmerigen Licht der Pfarrkirche meiner Heimatstadt murmelnd vor einem hölzernen Mann standen, der mitleidvoll auf sie herabblickte. Er stand im Vorraum, zwischen den letzten Bänken und dem Hauptportal, vor einer geriffelten Säule. Er strahlte eine numinose Präsenz aus, die nicht zu übersehen war. „Das ist der Heilige Antonius von Padua mit dem Jesuskind auf dem Arm“, sagte meine Mutter zu mir, „er steht Gott nahe.“ Alte Frauen opferten diesem bescheiden wirkenden Mann in der braunen Mönchskutte. Sie baten ihn darum, ihre Fürbitte an Gott weiterzuleiten; eine Kerze oder etwas Kleingeld für ein Wort in Gottes Ohr. Ich weiß nicht, ob er immer noch dort steht, und in seiner leicht gebeugten Haltung auf die Bittenden herabblickt, deren Botschaft er weiterleitet. Ein Götterbote, hoffentlich nicht so zwiespältig wie der griechische Hermes, der oft nur die halbe Wahrheit übermittelt.
Ich zweifele noch immer, ob ich ein Pilger bin. Die meisten Menschen glauben, ein Pilger ist jemand, der aus religiösen Motiven zu einer Manifestation des Heiligen irgendwohin unterwegs ist. Für mich hat Pilgern nichts mit Religion zu tun, wohl aber mit dem Glauben, dass ein Weg zuerst nach Innen führen muss, damit er in der äußeren Welt wahrgenommen und gelebt werden kann. Das hat nichts mit Konfession zu tun, manches vielleicht mit Religion, viel jedoch mit Reflexion, mit Intuition und unbestimmten Gefühlen oder Gedanken, mit dem Spüren von Atmosphären. Manche nennen es Spiritualität und können damit besser leben. Doch das ist Wortklauberei, denn dieses Gefühl, oder besser diese Atmosphäre des Göttlichen, wo immer sie jemand verortet, gehört zu den Grundbedürfnissen der menschlichen Natur. Sie sind bereits spürbar, zuerst nur vage und unbestimmt, bevor sie als Projektionen artikulierbar werden. Wir gehen unseren Lebensweg in beiden Welten: der inneren und der äußeren, die sich nur gemeinsam in Balance befinden. Keine ist ohne die andere vollständig. Es ist nicht vorstellbar, dass irgendein Gegenstand in dieser Welt nur außen ist, und auch nicht nur innen, sowie jedes Äußere eine innere Seite besitzt. Ein Pilger bewegt sich in beiden Sphären, wandert gleichzeitig durch beide, und erlebt Momente der Ganzheit auf einem spirituell aufgeladenen Weg. Jeder geht seinen eigenen Weg, denn nicht einmal der äußere ist allen gemeinsam, es sei denn, man gibt sich der Illusion der Ununterschiedenheit hin. Die Unruhe, die mich nach vielen Reisen schließlich auf den Jakobsweg gelockt hat, verdanke ich wohl meiner Mutter. Vielleicht nicht das geeignete Wort, denn dieser Einfluss ist nicht nur positiv. Der Flug der Zugvögel ist ein faszinierendes Phänomen, doch die Zugunruhe, die einige Vogelarten veranlasst, immer wieder aufzubrechen, kenne ich gut. Die Theorien, warum manche Vögel das tun, bewegen sich zwischen genetischen und ökologischen Ursachen. Anscheinend sind sie genetisch bedingt. Vor Jahrhunderttausenden begannen unsere fernen Vorfahren ihren Weg als Nomaden. Bedenkt man, dass die Menschheit zwei bis drei Prozent des Neandertalergenoms in sich trägt, erstaunt es nicht, dass in einigen von uns ein Gen aktiv geblieben ist, das uns immer wieder zum Aufbruch treibt. Diese Unruhe hat meinem Leben häufig Ungereimtheiten bereitet, die sich nicht nur positiv auswirkten. Ich war ein unruhiger Geist, wie es meine Mutter nannte, in einer auf Ordnung und Disziplin geeichten Welt. Meinen Bewegungsdrang konnte sie nur schwer kontrollieren. Für sie waren Bildung und soziale Mobilität erstrebenswerte Ziele. Dass auch Reisen durch die Welt dazugehören, hatte sie nicht bedacht. Ihr Credo lautete daher, es geht es immer weiter. Ich wundere mich nicht, dass ich mich der treibenden Lust des Passanten nicht entziehen kann.
Mein Plan, länger zu schlafen und später aufzubrechen, geht nicht auf. Bereits vor acht Uhr sind alle anderen Pilger unterwegs. Mein Gastgeber schaut herein, ob die Wohnung schon leer ist. Ich werde unruhig, fühle mich getrieben, und packe schnell meinen Rucksack. Unten auf der Straße stehen Mutter und Sohn, zwei Engländer, die ich vor Wochen im Baskenland getroffen habe, und schultern ihre Rucksäcke. Es ist erfreulich, alte Bekannte zu treffen, und zu sehen, dass sie auch noch auf dem Weg sind. Um halb neun bin ich zurück im Ort. Grado erwacht und bereitet sich auf seine täglichen Aufgaben vor. Die Gassen im Zentrum glänzen vor Nässe. Die Stadtreinigung ist unterwegs und die ersten Geschäfte öffnen eben ihre Pforten. Es herrscht nicht viel Betrieb. Nur in den Bars stehen Frühaufsteher am Tresen und trinken den ersten Kaffee des Tages. Ich hole mir ein Bocadillo und einen Milchkaffee auf die überdachte Terrasse, und sehe der Stadtreinigung zu, die den Müll an den Straßenrand spritzt. Ich muss warten, bis eine Bank öffnet, denn mein Budget ist fast ausgebraucht. Ich trödele eine Weile durch den Ort, kaufe ein wenig Proviant, und versuche noch einmal Geld abzuheben. Der Automat gibt nichts her und der Bankangestellte hebt resigniert die Schultern. „Sie müssen warten,“ meint er, „es gibt noch keine Buchung.“ Ich werde nicht warten, und mein restliches Geld rationieren müssen. In Salas oder Tineo gibt es die nächste Bank. Zwei Stunden später bin ich zurück auf dem Jakobsweg und verlasse die Stadt. Die Straße steigt gemächlich an und ist großzügig mit gelben Pfeilen ausgestattet. Plötzlich sind es wieder mehr, als ich brauche. Am Ortsende biegt der Weg von der Straße auf eine Piste ab, und der Pfeil ist so versteckt, dass ich ihn zuerst übersehe, und schon auf der Landstraße weitergegangen bin. Obwohl ich mittlerweile ein Gefühl für Wegmarkierungen entwickelt habe, passiert mir das immer noch. Inzwischen ahne ich die gelben Pfeile oder stilisierten Muscheln. Manchmal erwache ich aus meinen Gedanken und erblicke eine Markierung, die wie von Zauberhand an einem Baumstamm oder Zaunpfahl erscheint. Ein anderes Mal gehe ich unachtsam an einer vorbei. Dann bringt mich etwas dazu, innezuhalten, mich umzusehen oder zurückzugehen. Und schon blinzelt mir ein gelber Pfeil schmunzelnd zu. An einer Steigung biegt die Landstraße links nach San Juan de Villapañada ab. Vier Kilometer in die Berge schlängelt sie sich eine Steigung hinauf und verschwindet um eine Biegung zwischen den Bäumen. Dort oben liegt irgendwo die Pilgerherberge, von der der Hospitalero gestern Nachmittag sprach. Doch es ist noch zu früh, um einzukehren, und der Weg wird immer schöner, je höher ich komme. Ein paar Schritte nach links, dann rechts um ein Haus herum, wo ein Hund frenetisch bellt. Fast übergangslos geht es steil bergauf. Als ich mich beim nächsten Haus keuchend umschaue, stehe ich schon hoch über Grado. Am Wegrand grast friedlich ein Kaninchen und mümmelnd genüsslich das frische Gras, als ob es nichts Wichtigeres gibt als ein genüssliches Frühstücksbuffet. Fast beneide ich das kleine Tier, dass nicht vom Wandervirus infiziert, genügsam und gelassen mit dem Ort zufrieden ist, an dem es lebt. Mein Hemd dagegen ist nass vom Schweiß, der meinen Rücken abwärtsfließt. Ich atme schwer, verschnaufe eine Weile. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich noch lange nicht oben angekommen bin.
Ich habe vor, heute Nachmittag in Cornellana zu sein. Also biege ich nicht ab und gehe geradeaus auf eine Piste zu, die vierhundert Meter hoch auf den Pass des Alto de Cabruñana führt. Ich überlege, ob ich über den Gipfel gehe, bin aber zu bequem, um höher zu klettern, und entschließe mich für die Variante, die um den Berg herumführt. Auf einer einsamen Landstraße steige ich steil hinauf nach La Pelona und El Fresnu, und stelle fest, dass ich auf dem vermeintlich bequemen Weg nichts gewonnen habe. Unterwegs wie im Leben endet alles irgendwann, bevor es wieder einfacher wird. Das Geheimnis liegt darin, die Erfahrungen zu akzeptieren, die der Jakobsweg dem Wanderer schenkt. Erst in Acevedo bleibt der Weg eben, und erfreut mich mit schönen Aussichten. Weiler folgt auf Weiler: El Cascayal, dann El Valle, mit mannshoch eingezäunten Häusern, wo mich Hunde verbellen, die ich nicht sehen kann. Ein Esel starrt mich so entgeistert an, als habe er noch nie Wanderer gesehen, was ich ihm nicht glauben kann. Wie durch ein Megafon verstärkt, brüllt er mir ein langezogenes I-aah entgegen, dass mir gellend in den Ohren scheppert. Irgendwo kräht ein Hahn. Nur Menschen treffe ich keine, und nur gelegentlich kommt mir ein Auto entgegen. Weit oben an den Hängen kleben noch mehr Weiler, auf deren Weiden Kuhherden das vor Nässe glänzende Gras wiederkäuen. Die Sonne, die heute Morgen schüchtern durch die Kumuluswolken schielte, hat sich inzwischen ganz zurückgezogen. Der Himmel spannt einen grauen Vorhang vor seine Bühne. Ein leichtes Nieseln treibt durch die Luft. Es ist kühl und feucht geworden. Die Hitze von gestern gerinnt zu einer vagen Erinnerung. Meteorologisch betrachtet, war gestern ein Traum. Doch die Landschaft, durch die ich wandere, bleibt dunkelgrün. Jemand hat satte Töne auf die Leinwand der Natur aufgetragen. Ein blauer Himmel wie gestern, von dem die Sonne brennt, lässt das Grün blass erscheinen und nimmt ihm seine Intensität. Jetzt schimmert es in Dutzenden verschiedenen Tönen, von zart bis kräftig, von Wiese, Weide, Wald und dunklem Tann. Kontinuierlich steigt der Camino Primitivo bergwärts. Aus der Ferne werfen noch höhere Bergketten ihre Schatten voraus, erratische Barrieren, die meinen Weg queren. Die schmale Landstraße führt unaufhaltsam auf das Bergpanorama vor mir zu, jetzt noch grüne Welten auf einer Fototapete. Wo zwischen ihnen verläuft der Jakobsweg?
Auf einer steilen Schotterpiste endet die Landstraße auf Serpentinen, die weit unten an der Autobahn A-63 enden. Ein graues Band in all dem Grün zerbricht das Land weit unter mir mit einer flachen Mauer. Hoch über dem Highway raste ich an einer eingefassten Quelle mitten unter Sträuchern. Samarciellu, unten im Tal, sieht aus wie neu, als hätte man es gerade erst erbaut. Inzwischen hat die Sonne wieder Fahrt aufgenommen. Nachdem die Wolken abgezogen sind, kleidet sich der Himmel in sein schönstes Blau. Ich sitze noch entspannt auf der Einfassung der Quelle, als mich die ersten Pilger überholen. Sportliche Männer, die im Stechschritt den steilen Hang hinab an mir vorbeieilen. Schnell sind sie über die neue Autobahnbrücke verschwunden, jetzt winzig klein und kaum zu sehen. Ich trinke mich satt, bevor ich den steilen Abstieg hinab ins Tal nehme. Viel zu schnell bin ich am Fuß des Berges angelangt, und muss die gerade erst errungene Höhe wieder abgeben.
In steinerne Becken plätschernde Quellen und zahlreiche Brunnen gibt es überall entlang des Jakobswegs. Sie sind alle alt, und haben ohne Unterlass den Durst vorbeiziehender Pilger gestillt. In der christlichen Ikonographie tritt Jakobus in ritualisierter Kleidung auf, in der er das Ideal des Pilgers repräsentiert. Auch die Kleidung der zeitgenössischen Pilger folgt einer Kleidernorm. Für beide gehört die Wasserflasche dazu, die jeder Pilger mit sich führt, einst als Kalebasse, heute als Flasche aus Hartplastik oder dem im Rucksack verstauten Tank mit Trinkschlauch, der ungeeignet ist, um aus den vielen Quellen oder Brunnen zu schöpfen. Wer sich für dieses Trinkreservoir entscheidet, muss sich mit Mineralwasser, das in umweltbelastende Plastikflaschen abgefüllt verkauft wird, oder mit Leitungswasser begnügen, das penetrant nach Chlor schmeckt. Als Pilger ist Jakobus alltagstauglich geworden, seiner mystischen oder kriegerischen Aura entkleidet. Er wird zum Gefährten, zum Nachbarn, zum Mitmenschen. Im 10. Jahrhundert kamen erstmals Jakobus-Darstellungen auf, die ihn als Apostel, Märtyrer oder Heiligen darstellen. Die ältesten Darstellungen zeigen ihn mit den allen Aposteln gleichen Attributen: mit knöchellanger Tunika, dem langen Oberkleid und Umhang, mit der Heiligen Schrift in der Hand und barfuß. Oft umrahmen seine Darstellung sogenannte Phylakterien, am Körper getragene Behälter für magische Schutzmittel oder Reliquien. Ornamente mit seinem Namen oder auf einer Rolle ergänzen die Ikonographie. Ich habe aber auch Darstellungen gesehen, die das Ornat eines Apostels mit dem des Pilgers mischen. Dann kommt auch der Pilger barfuß daher, gekleidet in eine Tunika oder mit einem Buch in der Hand. Als Heiliger ist Jakobus ein Mysterienlehrer. Andere Darstellungen zeigen ihn als miles christi, als Schutzpatron der Soldateska, den christliche Herrscher für ihre politischen Zwecke einsetzten. Bereits die frühesten Abbildungen stellen Jakobus als Krieger dar, in Rüstung oder militärischer Uniform, mit Schwert, Schild und Standarte, auf einem weißen Pferd, dem Symbol der Reinheit, wie er das christliche Heer in die Schlacht führt. Aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts sind Texte überliefert, die ihn als Ritter im Kampf der Reconquista gegen die Mauren in Anspruch nehmen. Er rettete das Christentum vor dem Bösen, so die Doktrin, was seine Verehrung als Krieger begründete. Diese Rolle repräsentiert die problematischste Seite seiner Persönlichkeit. Denn wer zu Jakobus pilgert, muss auch wissen, dass die Soldateska des Fransico Pizarro mit dem Kriegsruf Santiago! auf den Lippen den Inkakönig Atahualpa gefangen nahm und ein Massaker unter seinen Begleitern veranstaltete, dem siebentausend Menschen zum Opfer fielen. Es ist wichtig, genau hinzusehen, um zu verstehen, welche Unterstützung sich der christliche Klerus und Adel einst von einem Jakobus versprachen, den sie Maurentöter, Türkentöter oder Indianertöter nannten, nämlich jemanden, in der Rolle des Botschafters eines eifersüchtig ausschließenden, alttestamentlichen Gottes betrachteten. Mit der Botschaft eines Jesus von Nazareth hat das nichts mehr zu tun. Als Jesus nahestehender Jünger hatte Jakobus möglicherweise andere Vorstellungen vom Zusammenleben der Völker. Ein heiliger Krieger-Jakobus, der einen Ablass für Genozide gewährte, denn im Nachlass aller Sünden liegt das Ziel der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela, war er sicher nicht. Im Befreiungskampf der indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas avancierte der Heilige schließlich auch zum Spanientöter. In der Tradition des Dschihad führt der Islam diesen gerechten Krieg gegen die USA, den modernem Repräsentanten des Bösen. Jakobus, der Ritter, zelebriert Erinnerungskultur im Rahmen des höfischen Rittertums des Hochmittelalters, das auch den literarischen Arthur und die Gralsmythologie hervorgebracht hat. In seiner Rolle als Ritter und Soldat ist Jakobus ein gottgesandter Krieger-Heiliger, wie andere Märtyrer und Nothelfer auch, etwa der Heilige Georg, Schutzpatron vieler Ritterorden, der Heilige Demetrius von Thessaloniki, Schutzpatron der Soldaten oder der koptisch-orthodoxe Heilige Menas. Dieser Heiligentypus ist charakteristisch für das östliche Christentum und verbreitete sich in der Epoche der Kreuzzüge zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert auch in Westeuropa. Interessanterweise spiegelt die Dreifaltigkeit des Jakobus die Struktur mittelalterlicher Herrschaft und ihrer drei Ordnungen, die George Duby in der Nachfolge von George Dumézil erläutert hat: Klerus (Heiliger), Adel (Krieger) und Bauer (Pilger). Durch die Forschungen dieser beiden Wissenschaftler wissen wir auch, dass diese politische Struktur indoeuropäisches Erbe ist. Viele Kapellen oder Kirchen entlang des Jakobswegs besitzen geschnitzte Skulpturen, die ihn als kampferprobten Recken zeigen. Er schwingt sein hoch über den Kopf erhobenes Schwert und teilt, wie der Erzengel Michael, tödliche Hiebe auf die unter den Hufen seines Pferdes liegenden Sarazenen aus. Die Ungläubigen, die es zu vernichten gilt, sind der menschgewordene Drache, der alles Christliche verschlingen will. Eine verhängnisvolle Botschaft, oft hoch über dem Hauptaltar, das den Genozid an allen legitimiert, die nicht im Christentum ihre Religion sehen. Die Schlacht bei Clavijo oder die Eroberung von Coimbra, auf denen dieses Jakobusbild beruht, sind schon lange Vergangenheit. Fraglich erscheint, warum christliche Kirchen diesem Jakobusbild weiter Obdach gewähren.
Jakobus militärische Rolle ist eine historische Anekdote, die der islamischen Bedrohung des christlichen Europas geschuldet ist. Aktuell geblieben ist seine Rolle als Pilger, in der sich Apostel und Ritter aufgelöst haben. Es ist verlockend, den modernen Jakobuskult und die Santiago-Pilgerfahrt als eine weltweite Friedensbewegung anzusehen, deren Teilnehmer sich als eine internationale Gemeinschaft verstehen, die in der Liminalität des Pilgerns, frei von Kirche und Staat, zentrale ethische Werte wie Nächstenliebe, Frieden und soziale Gerechtigkeit vertreten. Mit diesen zentralen Werten des Christentums haben institutionalisierte Kirche und der zentralistische Staat noch immer große Schwierigkeiten. So vielschichtig ist dieser Jakobus, zu dem jährlich wieder Zehntausende unterwegs sind. Zwei Rollen des Jakobus genügen als Leitmotiv für eine Pilgerfahrt: der Wanderer auf der Suche nach der Essenz des Lebens sowie der weise Lehrer im Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen. Dennoch sind Skulpturen und Gemälde, die ihn in seiner Rolle als Krieger zeigen, in vielen spanischen Kirchen kommentarlos ausgestellt. Diese Seite seiner Persönlichkeit taugt nicht zur Repräsentation christlicher Werte im 21. Jahrhundert.
Meine Gedanken verfliegen, wie sie gekommen sind. An die Steinmauer des Brunnens gelehnt, döse ich in der warmen Sonne ein. Das monotone Rauschen der das Tal spaltenden Autobahn bildet eine einlullende Geräuschkulisse. Doch ich bin zu unruhig, um wirklich einzuschlafen. Mich zieht es zurück auf den Weg, als riefe Jakobus zum Aufbruch. Meine Unruhe ist real, ich spüre sie seit Tagen. Unwiderstehlich treibt mich etwas vorwärts, zerrt an mir: Unruhe ist ein Daseinsgefühl, ein charakteristisches Merkmal einer globalisierten Welt. Es betrifft nicht nur mich. Die vielen Pilger, denen ich täglich begegne, die betriebsamer und geschäftiger werdenden Jakobswege, der Wanderboom, der weltweit spürbar wird, sprechen dafür. Ich habe mir Entschleunigung und Gelassenheit zum Ziel gesetzt, und muss mich sehr bemühen, meiner Unruhe die Zügel anzulegen. Es ist eine harte Lektion, die der Jakobsweg mir abverlangt.
Die A-63 schneidet den Camino Primitivo in zwei Teile, in diesseits und jenseits. Für den Santiago-Pilger liegt eine Brücke über diesem Abgrund, auf der er die Autobahn sicher überqueren kann. Jenseits von Samarciellu, wo bescheidene Viehhaltung und etwas Landwirtschaft die Existenz der zurückgebliebenen Alten sichert, quert der Camino Primitivo nach Doriga, dem nächsten kleinen Dorf, noch einmal die Autobahn. Wieder sieht alles nach Viehwirtschaft aus; mächtige Zuchtstiere grasen auf der Weide. Aber die Menschen, die in den Höfen, auf den Weiden und Feldern arbeiten, fehlen in den Orten. Die kleinen Dörfer, durch die ich komme, liegen tagsüber verlassen.
Seit ich in Gijón aufgebrochen bin, hat sich etwas geändert, habe ich mich verändert. Ich nehme die Anstrengungen nicht mehr persönlich, schrecke nicht mehr vor jeder neuen Steigung zurück, suche immer seltener Wege, um sie zu umgehen. Sie sind mir nicht gleichgültig, aber ich nehme sie nicht länger wichtig. Sie sind ein Teil des Wegs, sind da, wie die Bäume da sind, wie die Orte und die Menschen. Ich muss sie nicht mögen, aber ablehnen muss ich sie auch nicht. Sie liegen am Weg, wie alles andere auch. Ich gehe hinauf, und auf der anderen Seite gehe ich wieder hinunter. Dazwischen bin ich oben und fühle mich frei unter einem weiten Himmel. Sie gehören dazu. Mehr nicht! Jenseits des Alto de Cabruñana wird die Wanderung immer angenehmer. Der Camino Primitivo folgt dem sanften Profil der Landschaft, mal kurz hinauf, dann wieder hinunter, meist über idyllische Waldwege. Noch weist nichts auf die anstrengende Wanderung über die Pässe der westlichen Picos de Europa hin, die vor mir liegen. Links am Wegesrand haben hunderte vorüber kommende Pilger auf einem groben Fundament aus Findlingen zahlreiche Haufen unterschiedlich großer Steine aufeinandergeschichtet. Rituelle Steinsetzungen, die Sorgen, Ängste und Belastungen symbolisieren, die losgelassen werden sollen, um befreit weiterzugehen. Jeder Stein verleiht einem Wunsch eine materielle Form, verwirklicht ihn im Leben des Pilgers. Wie Pyramiden verjüngen sie sich zur Spitze hin, oben liegen die kleinsten Steine. Einige der Steinpyramiden reichen mir bis zur Hüfte. Auf jeder liegt oben schon ein kleiner runder Stein, auf den ich, selbst wenn ich wollte, keinen weiteren mehr legen kann. Die Steine haben das Beige des Weges und des Erdbodens um mich herum angenommen. Ich kann den Impuls nicht abwehren, einen Stein dazuzulegen, einen kleinen nur, denn mir fällt nicht viel ein, was ich loswerden möchte. Doch in der Umgebung der Pyramiden finde ich keine losen Steine mehr. Meine Vorgänger haben gründlich aufgeräumt. Der Waldweg endet auf einer breiten sandigen Piste, die über eine riesige Großbaustelle führt, die die Natur auf hunderte Meter im Umkreis massakriert hat. Der martialische Riss in der Landschaft unter brennender Sonne wirkt nach dem Halbdunkel des schattigen Grüns, aus dem jeden Moment eine Fee oder ein Kobold treten könnte, wie ein Schock. Die unvollendete Struktur der mehrspurigen Straße schreddert brutal die Landschaft. Aus allen Himmelsrichtungen treffen Straßen in langgezogenen Schleifen in einem riesigen Kreisverkehr aufeinander. Schnell biege ich auf einen Feldweg am Rand der Baustelle ab, komme zurück an einem malerischen Bach, der plätschernd meinen Weg entlang mäandert, sich aber schnell als schlammiger Pfad erweist. Unerwartet mündet der Camino Primitivo zwischen den vereinzelten Gebäuden eines abgelegenen Bauernhofs. Aus einem der Ställe schallt mir eine lautstark geführte TV-Diskussion um die Ohren.
Cornellana ist nun schon ganz nah. In Casas del Puente komme ich auf eine große und breite Landstraße, auf der reger Verkehr herrscht. Vorsichtig taste ich mich am Rand der Straße entlang zu dem großen Kreisverkehr in La Rodriga, wo endlich die letzte Landstraße nach Cornellana abbiegt. Weit hinten erkenne ich schon die Brücke über den Narcea auf dessen Ufer sich die Kleinstadt ausbreitet. Die Brücke wird gerade erneuert, damit sie dem starken Verkehr, der durch den Ort fließt, gewachsen ist. Die zweite Großbaustelle des Tages, die mich brutal in die alltägliche Wirklichkeit reißt. Auf einem schmalen Weg, den man den Fußgängern am Rand des alten Brückengeländers gelassen hat, gelange ich vor die Tore Cornellanas. Obwohl ich den Empfehlungen des Pilgerführers nicht folge, kann ich mich in dem kleinen Landstädtchen nicht verlaufen. Links hinter der Brücke biegt ein Uferweg zum Kloster San Salvador de Cornellana ab, einem mittelalterlichen Nationaldenkmal und der Sehenswürdigkeit des Ortes. In der Hoffnung auf einen Mittagsimbiss bleibe ich auf der Hauptstraße. Die Häuser reihen sich wie Perlen auf einer Schnur die breite Durchgangsstraße entlang. Die Bürgersteige sind schmal, die restlichen Meter Straße gehören den Fahrzeugen. Cornellana liegt im Koma der Siesta. Die Straßen sind menschenleer. In einem Hauseingang döst eine Siamkatze, die ihre tiefblauen Augen einen schmalen Spalt öffnet, als ich vorübergehe. Nur der Verkehr rauscht ununterbrochen über die leicht ansteigende, schnurgerade die Hausreihen teilende Hauptstraße. Eine einzige Bar hat für die Durchreisenden geöffnet. Ich fühle mich als solcher, und nutze die Gelegenheit für einen verspäteten Imbiss. Anders als in den Straßen herrscht in der Bar Hochbetrieb, ein Kommen und Gehen. Autos halten kurz an oder parken um die Ecke. Die Gäste ziehen Zigaretten am Automaten, trinken Kaffee oder Bier und essen einen Happen auf die Schnelle. Auf der Terrasse sind fast alle Tische besetzt. Am Nebentisch sitzt ein Mann, der in die gegenüberliegende Straße zeigt. „San Salvador,“ sagt er, „die Pilgerherberge.“ Ich gehe durch eine schmale Nebenstraße auf die zweihundert Meter entfernte Kirche mit ihren beiden wuchtigen Türmen zu. Niemand ist unterwegs. Auch der gepflegte, mit einer Gruppe hübsch beschnittener Bäume bepflanzte Vorplatz des Klosters liegt verlassen in der Nachmittagssonne. Nicht die geschäftige Betriebsamkeit eines großen Klosters, die ich erwartet habe, und die hier einst geherrscht haben mag. Ein großes weißes Zelt wartet auf seinen Einsatz. Die Abtei San Salvador de Cornellana besteht aus mehreren miteinander verbundenen Gebäuden, die sich um eine romanische Kirche ordnen. Überrascht stelle ich fest, dass das imposante Bauwerk eine Ruine ist. Das mittelalterliche Kloster sorgt seit dem 12. Jahrhundert für die Pilger auf dem Jakobsweg. Es gibt keinen Orden mehr, und Mönche leben schon lange nicht mehr in dem alten Gemäuer. Der imposante Klosterbau am Rand des kleinen Städtchens auf dem linken Ufer des Narcea, mit dem ehrfürchtigen Namen und der Klosterkirche mit den mächtigen Türmen ist eine Sehenswürdigkeit im Verfall, einsam und verloren, am Rand einer Stadt gelegen, durch die pausenlos der Autoverkehr fließt. Anscheinend nimmt sich niemand der Durchreisenden die Zeit, auf den Bänken am Flussufer eine Rast einzulegen. Die Gebäude werden restauriert, aber die Arbeiter haben ihre Arbeit unterbrochen und sind gegangen. Nur die Fenster und Teile des Dachs sind bereits erneuert. Die große Pforte sehe ich erst später, denn die aus dem 17. Jahrhundert stammende Fassade des Klosters wird von dem Zelt verdeckt. Alle Türen sind verschlossen, Hinweisschilder gibt es keine. Die Fassade des Klosters ragt meterhoch über mir auf, und verstellt mir den Blick. Auf der Suche nach der Herberge laufe ich mehrmals um das Gebäude, gerate in einen verwilderten Garten und an eine Bahnlinie. Am Eingang in den Garten klemmt ein mehrsprachiges Schild lose im Türgriff eines Drahtverhaus. Eine lokale Initiative engagiert sich um die Erhaltung der historischen Anlage und bittet den Besucher, das Kloster zu fotografieren, seine stoische Existenz, die sich gegen die Moderne stemmt, über die sozialen Medien zu verbreiten: Salvemos la iglesia y el monestario de la ruina! Retten wir die Kirche und das Kloster vor dem Verfall! Eine dringend klingende Botschaft im Verborgenen. Die Sanierung des aufgegebenen Klosters wurde 1998 mit einer Investition von vier Millionen Euro in Salas beschlossen. In den Jahren 2007 und 2008 wurde ein weiteres Budget von sechs Millionen Euro genehmigt, an die die Installation eines Hotels und einer Bibliothek geknüpft wurde. Außerdem sollte ein Dokumentarfilm über den Jakobsweg gedreht werden. Angesichts der Passivität der Verwaltung, die das Projekt anscheinend nicht vorwärtsbringt, entstand 2013 eine Bürgerbewegung, die versucht, den schleichenden Niedergang des Klosters aufzuhalten. 2014 hat der Eidgenössische Rat des Fürstentums weitere 1 400 000 Euro zur Sanierung des Dachs und der Decken des Klosters beschlossen. Mittelalterliche Kirchen sind wegen ihrer Beständigkeit die Pyramiden Europas. Aber wie es aussieht, ist es noch ein weiter Weg, dem Kloster San Salvador und seiner Kirche eine angemessene Zukunft zu geben. Die ungewöhnlich moderne, öffentliche Herberge finde ich schließlich auf der Rückseite.
Die Überraschung befindet sich auf der Rückseite des ummauerten Klosters. Ich schiebe das moderne Gittertor zur Seite, das mehr zur Auffahrt eines Reihenhauses passt als zu diesem altehrwürdigen Gebäudekomplex. Am Ende einer gepflasterten Auffahrt stehe ich vor einem ungewöhnlichen Torbogen aus der Anfangszeit des Klosters: die romanische Puerta de la Osa. Auf dem Giebeldreieck über einem Sturz befindet sich ein eigenartiges Basrelief, das mich in einer prähistorischen Höhle nicht so überrascht hätte wie an diesem Ort. Über der mittelalterlichen Klosterpforte wirkt es wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit und Kultur. Durch den antiken Torbogen betrete ich einen großen, kiesbestreuten Innenhof, an dessen linker Seite die Türen zu der modernen Pilgerherberge offen sind. Den Herbergsvater finde ich auf der gegenüberliegenden Seite in einem kleinen Büro. Er ist ein stiller Mann mit einem ernsten Gesicht, mit Halbglatze, auf der Nase eine Brille mit Goldrand, der mich mit strengem Blick mustert. Auf mich wirkt die stille Autorität, die dieser Mann ausstrahlt, wie die eines der Beamten, die man in jeder Verwaltung findet. Ein Bürokrat, der gewohnt ist, dass man tut, was er anordnet. Nachdem er meinen Pilgerpass gestempelt hat, führt er mich an das Gittertor, wo er mir die automatische Schließfunktion erklärt und mir die Verantwortung übergibt, dafür zu sorgen, dass das Tor morgen verschlossen wird. Woher weiß er, dass ich der letzte bin, der das Kloster verlässt? Später höre ich, dass er sein kleines Ritual mit jedem Übernachtungsgast wiederholt. Auf dem Rückweg frage ich ihn nach dem Relief am Tor. Er erzählt mir eine eigenartige Geschichte:
„Das Relief,“ beginnt er, „stellt eine Bärin dar. Ich hatte die Gestalt wegen ihrer Fratze zuerst für einen Dämon gehalten. „Diese Bärin,“ fährt er fort, „liegt beschützend auf einem nackten Kind. Einst verschleppte eine Bärin das Kind eines Adeligen. Dieser veranstaltete eine Treibjagd auf das Tier, fand beide, das Kind und die es stillende Bärin im nahegelegenen Wald.“ Jetzt wird es spannend, denke ich, und frage, was weiter geschah „Mehr ist nicht bekannt,“ antwortet der Herbergsvater plötzlich mürrisch geworden, „ich muss mich um meine Arbeit kümmern.“ Doch ich kenne diesen Plot aus vielen europäischen Märchen, die vom verzauberten Prinzen erzählen. Für die Zeit seiner Initiation durchlebt dieser eine Metamorphose, wird zum Gestaltwandler, beispielsweise zum Bären wie in Schneeweißchen und Rosenrot, oder zum Frosch, wie in Der Froschkönig, zwei der bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm. Die verzauberten Prinzessinnen wandeln ihre Gestalt nicht. Für sie hält das Märchen einen Raum bereit, einen Berg, einen Turm oder eine Höhle, in der sie gefangen auf ihre Erlösung durch einen Prinzen warten. Ich bleibe noch eine Weile am Tor. Mir fällt es schwer, in den beiden Gestalten des Reliefs eine Bärin mit einem Kind zu erkennen. Auf mich wirkt die Szene erotisch, denn die unten liegende Gestalt ist sicher kein Kind, sondern eine Frau, und die „Bärin“ liegt wie kopulierend auf ihr. Ist mit einem einsamen, zölibatären Steinmetz die Fantasie durchgegangen? Mitglieder der Zunft der mittelalterlichen Steinmetze sind, aus Chartes kommend, schon früh über die Jakobswege gewandert, wo sie überall ihre Spuren hinterlassen haben. Sie sind es, die für die synkretistische Ikonographie mittelalterlicher Sakralbauten verantwortlich sind. Die Darstellung eines Fruchtbarkeitsrituals über dem Sturz des Tors einer Abtei aus dem Hochmittelalter, in der zahlreiche Pilger übernachtet haben, bedarf einer ausführlicheren Antwort, als sie mir der Herbergsvater gibt. Ein kulturelles Fragment, ein Mythenrest vielleicht, denn das Kloster befindet sich über prähistorischen Siedlungsschichten, die bis ins Paläolithikum reichen. Es gab eine römische Festung in der Nähe, ein Castro, sowie Handelsstraßen, die sich in der Gegend des Klosters kreuzten, dass am Fluss Narcea ohnehin eine strategisch günstige Lage besaß. Das Kloster mit der mysteriösen Aura bildet keine Ausnahmeerscheinung. Es gibt deren zahlreiche am Jakobsweg, die auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurückblicken. Gegründet wurde San Salvador de Cornellana im frühen 11. Jahrhundert durch eine Stiftung der Infantin Cristina, einer Prinzessin, der Tochter des asturischen Königs Bermundo II. Zu der Stiftung gehörten die umliegenden Dörfer und Kirchen, ergänzt durch deren landwirtschaftliche Betriebe und Viehbestand. Ein Familienkloster, das nicht der bischöflichen Autorität unterworfen war. Nach ihrem Tod wurde die Infantin in dem von ihr gegründeten Kloster beerdigt. Die Familie starb schließlich aus und die Abtei fiel an die Kongregation von Cluny, dem Benediktinerorden, in dessen Besitz es mehrere Jahrhunderte blieb.
Der Hof des Klosters liegt verwaist im gleißenden Sonnenlicht. Schatten spendet ein schmaler Sims, unter dem zwei Tische mit Stühlen stehen. Die beiden kleinen Schlafsäle sind aufgeräumt, und zwischen den alten Mauern ist es kühl. Dämmerlicht sorgt für eine heimelige Atmosphäre. Erst als sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, bemerke ich, dass ich nicht allein bin. In einem der Betten liegt ein Pilger und schläft. Siesta ist auch in San Salvador de Cornellana. Hermann, ein Österreicher aus Graz und Bianca, meine ungarische Begegnung, haben bereits eingecheckt. Bianca wäscht ihre Kleidung, und als ich auf den Hof zurückkomme, hängt sie ihre Wäsche in der prallen Sonne auf eine Leine. Unser Spaziergang durch den Ort ist nur kurz. Eine Stunde später haben wir alles gesehen und sind zurück in der Herberge. Hermann ist aufgewacht und sitzt lesend an einem der Tische. Die ältere Pilgerin, die wir eben noch im Ort getroffen haben, ist inzwischen eingetroffen. Sie hat den Weg am Flussufer entlang genommen, und taucht plötzlich zwischen den Sträuchern an der Abtei auf. Im Klosterhof setzt sie sich betont an den anderen Tisch und packt ihre Vorräte aus. Sie bleibt für sich, und will anscheinend nichts mit uns zu tun haben. Bianca kommt herüber und beginnt mich zuzutexten bis meine Aufmerksamkeit erlahmt. Mir kommt es so vor, als betrachte Hermann mich als Konkurrenz. Er beansprucht die Ungarin für sich, und als wir uns weiter über unsere Pilgererfahrungen unterhalten, zieht er sich beleidigt zurück. Er schafft es aber, unser Gespräch zu unterbrechen. Jetzt bummelt er mit ihr durch den Ort, und das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Ich bin froh, dass sie mit Hermann gegangen ist. Wie gestern hat sich die Bewölkung bis mittags aufgelöst und die Sonne scheint heiß von einem azurblauen Himmel. Gemütliche dreizehn Kilometer und ein langer freier Nachmittag. Erzählen und faulenzen.
Ich sitze allein in der Sonne und genieße die Ruhe als zwei sportlich gestylte Franzosen in die Beschaulichkeit des Klosterhofs einbrechen. Sie zögern keinen Augenblick, schon bin ich in ein Gespräch verwickelt, das mich nicht interessiert. Mich stört die arrogant, aufschneiderische Art der beiden: „In zehn Tagen sind wir in Santiago de Compostela.“ prahlt einer der beiden. Durchtrainiert wie sie sind, glaube ich ihnen. „Wir marschieren nicht“, fügt er hinzu, als er erfährt, dass ich Deutscher bin. Zur Bestätigung zieht er seine Nike-Schuhe aus und zeigt mir seine roten, leicht aufgequollenen Füße, die ich nicht sehen will. Sportlicher Ehrgeiz auf dem Jakobsweg. Für mich passt das noch immer nicht zusammen. Trotzig beschließe ich, die doppelte Zeit zu brauchen, um einen Entschleunigungs-Rekord auf dem Camino Primitivo aufzustellen. Am späten Nachmittag suche ich nach einer Bar. Ich bin hungrig und will etwas essen. Am besten wieder einen gemischten Salat und ein großes Glas Bier. Für mich inzwischen das perfekte Abendessen. Pure Walking Power! Zuerst sagt die Wirtin nein, Salat gebe es keinen. Die Küche sei außerdem noch geschlossen. Anscheinend realisiert sie auf den zweiten Blick, dass ich ein ausgehungerter Pilger bin, und ist sofort zugewandter. Wortlos geht sie nach gegenüber in ein Haus, und kommt mit einer Plastiktüte grüner Salatblätter zurück. Zehn Minuten später steht ein großer Teller vor mir: grüner Salat, Zwiebeln, Tomaten, Oliven, Karotten, Spargel, Thunfisch und zwei hartgekochte Eihälften. Und der obligatorische Brotkorb. Extra für mich zubereitet, schmeckt es mir noch einmal so gut. Ich hätte ihr gerne mit mehr Worten gedankt. Trotzdem hat mir mein verhuschtes muy bien ihr Lächeln beschert. Pilger sind überall am Camino de Santiago hoch respektierte Personen, schließlich nehmen sie ihren anstrengenden Weg auch repräsentativ auf sich. Als die Franzosen kurz darauf auf der Suche nach einer Mahlzeit in der Bar eintreffen und hören, dass es kein Menu del Día gibt, ziehen sie auf der Suche nach etwas Gehaltvollerem weiter. Fleisch wollen sie essen, denn wer viele Kilometer täglich geht, meinen sie, braucht viel Eiweiß. „Wir gehen viel und abends essen wir viel,“ sagt der andere. Als sie meinen Salatteller sehen, fragen sie mit besorgtem Blick: „Pur?“
Oviedo, Grado, Cornellana. Drei Städte, drei Tage. In ihrer Verschiedenheit gefallen sie mir alle. Vieles erinnert mich wieder an die Tage im Baskenland, an die kleinen Plätze, das quirlige Leben in den Straßen und den Bars, wenn es Abend wird. Ich bin zufrieden, dass ich mich für den Camino Primitivo entschieden habe, freue mich über die Leichtigkeit und die Fröhlichkeit, die herrscht, wenn sich Menschen am frühen Abend zum Essen versammeln. Ich bin nur Zaungast und sprachlich ausgeschlossen, doch die Stimmung und die Lebendigkeit, die lachenden Gesichter, die neugierigen Fragen und meine unbeholfenen Antworten und die Freundlichkeit der anderen, beziehen mich mit ein. Ich sitze mitten unter ihnen und freue mich über die ansteckende Geschäftigkeit um mich herum. Für mich sind diese Abende ein Teil des Buen Camino geworden. An der kantabrischen und asturischen Küste habe ich das zuletzt vermisst. Vielleicht hat es mir deshalb dort nicht mehr so gut gefallen. Vielleicht lag es aber auch an dem Tourismus, der überall gegenwärtig war. Bewahre, wer auch immer, den Camino Primitivo vor diesem Schicksal. Aber ich glaube nicht wirklich daran.
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