Sonntag, 18. Dezember 2022

Aufbruch auf den Himmelspfad


Ein Zen-Kōan ist eine Sentenz, die sich nicht rational interpretieren lässt. Genauso fällt mir keine vernünftige Erklärung für meinen plötzlichen Entschluss ein, auf eine Fußreise, gar auf eine Pilgerfahrt, zu gehen. Der Zen-Meister Titsang fragt seinen Schüler Fayen: »Wohin gehst du?« Worauf Fayen antwortet: »Auf eine Pilgerreise.« Titsang will daraufhin von ihm den Grund für diese Reise wissen, und Fayen antwortet: »Ich kenne ihn nicht.« Eine absurde Situation, die keinen Europäer befriedigen wird, aber Titsang ist mit dieser Antwort nicht nur zufrieden, er lobt seinen Schüler mit den Worten: »Ihn nicht zu kennen, kommt ihm am nächsten.«

Viel zu plötzlich stehe ich auf dem Busbahnhof in Irún. Ich fühle mich nicht vorbereitet für das, was vor mir liegt. Eine fast tausend Kilometer lange Fußreise durch Nordspanien. Während ich unsicher und zögernd neben dem Bus stehe, sehe ich auf der gegenüberliegenden Seite zwei Männer eilig vorbeilaufen. Muscheln, ihr Bekenntnis Pilger zu sein, baumeln im Takt ihrer Schritte an ihrem Rucksack. Das Jakobswegsymbol, ein vielstrahliger, gelber Stern auf blauem Grund, ist eine stilisierte Muschel, vielfältig variiert am Jakobsweg. Auf Mauern und Verkehrsschildern, auf Zaunpfähle oder gleich auf Straßen und Wege gemalte oder gesprühte gelbe Pfeile bilden die Wegmarkierung in die Jakobusstadt nach Galicien. Gelegentlich hat ein Pilger einen Pfeil aus Steinen, Holzstücken oder aus Zapfen von Nadelbäumen auf dem Weg ausgelegt. In der Innenstadt von Irún finde ich weder gelbe Muscheln noch gelbe Pfeile. Nur gelegentlich ist eine unauffällige, kleine Messingtafel mit einem Pfeil in das Straßenpflaster integriert. An meinem Rucksack hängt keine Muschel. Berlin liegt nicht am Meer, und Muscheln gibt es nur in Fischläden oder in einer der Markthallen. Die Muschel zeichnete die mittelalterlichen Pilger aus. Ich will meine eigene Muschel vom Ende der Welt als Pilgerzeichen mit nach Hause nehmen. Gleich mit einer Muschel aufzubrechen, ist für mich ein befremdlicher Gedanke. Schnell hole ich meinen Rucksack aus dem Gepäckraum des Busses und laufe hinter den beiden Männern her. Ich hoffe, sie führen mich auf den richtigen Weg, denn die gelben Pfeile, denen ich nun täglich folgen will, sehe ich nirgendwo. Die beiden biegen um eine Ecke, und sind plötzlich, wie vom Erdboden verschluckt. Allein und verloren stehe ich in Irún, einer Stadt, die geschäftiger, unübersichtlicher und größer ist, als ich sie mir vorgestellt habe. Keine Pilger mehr, keine gelben Pfeile und auch kein Jakobsweg. Ich flüchte mich in die erste Taverne am Weg. Ich brauche dringend einen sicheren Ort, um nachzudenken, denn ich fühle mich überfordert. Schlagartig wird mir bewusst, dass es kein Zurück mehr gibt. Ein Bier, eine Bocadilla, und ich finde mich am gleichen Tisch mit den beiden verlorenen Pilgern wieder, an den mich eine resolute Wirtin gegen meinen Willen geschubst hat. Die beiden Männer sind Franzosen und intensiv ins Gespräch vertieft. Sie trinken ihr Bier und beachten mich überhaupt nicht. Keine Möglichkeit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, schon gar nicht über gelbe Pfeile. Schließlich mache ich mich wieder auf den Weg. Ich werde in der Pilgerherberge in Irún übernachten und erst morgen losgehen. Ich habe schon oft gehört und auch gelesen, dass der Jakobsweg seinen eigenen Rhythmus entfaltet, dem sich der Pilger nicht entziehen kann. Dass mir das gleich am ersten Tag passiert, hat mich dann doch überrascht.
Unverhofft stoße ich auf den ersten gelben Pfeil, und gehe ihm freudig wie das Küken der Henne hinterher. Auf einem innerstädtischen Wegweiser lese ich einen Namen, den ich kenne: Hondarribia, eine gut erhaltene, mittelalterliche Ortschaft, die mein Pilgerführer als ersten Höhepunkt des Camino del Norte empfiehlt. Ich habe meine Richtung gefunden, und folge erleichtert dem Weg, den mir das Schild weist. Schnell finde ich heraus, dass Wirklichkeit und Pilgerführer nicht identisch sind. Schneller als gewollt bin ich aus Irún heraus, und auf dem Weg zum Jaizkibel, einem fast fünfhundert Meter hohen Bergmassiv, Ausläufer der Pyrenäen und zweitgrößtes Küstengebirge Spaniens. Der Weg aus der Flussebene hinauf beträgt nur ein paar hundert Meter. Ich stehe vor meiner ersten Herausforderung, die erst für morgen geplant ist.
Es ist bereits 14 Uhr, und zu spät, um eine zwanzig Kilometer lange Fußreise zu beginnen. Doch da die nächste Unterkunft in Hondarribia nur sechs Kilometer entfernt ist, beschließe ich, nicht nach Irún zurückzugehen. Über den Jaizkibel, und seinen höchsten Gipfel, den Alerru, will ich heute auf keinen Fall. Aber wie schon zur Herberge in Irún, finde ich auch den Weg nach Hondarribia nicht. Sylvain Tesson schwärmt davon, im Gelände unterzutauchen. Ich muss mich für solche Eskapaden nicht sehr anstrengen. Ich habe anscheinend ein Faible für Irrwege, denn es passiert mir immer wieder, dass ich die Richtung verliere. Doch jeder Umweg enthält auch seinen Reiz. Aufdringlich einladende gelbe Pfeile führen mich an einem Neubaugebiet am Stadtrand vorbei und auf einem Feldweg aus der Stadt hinaus. Ich treffe zwei Pilger aus Irland, die wie ich, unsicher über ihren Weg sind. Gemeinsam gehen wir auf einer allmählich ansteigenden, asphaltierten Straße zu einer verschlossenen Kapelle, über deren Eingang das rote Jakobuskreuz prangt, dass manche Muscheln an den Rucksäcken der Pilger ziert. Das Kreuz symbolisiert den Apostel als Ritter, als martialischen Matamoros, den Maurentöter, und ist Emblem des Ordens des heiligen Jakobus. Doch all das wusste ich noch nicht, als ich keuchend und nass geschwitzt vor der Kapelle stehe. Bergaufgehen, mit dem ungewohnten Gewicht des Rucksacks auf dem Rücken, ist eine anstrengende Beschäftigung. Die beiden Iren bleiben bei der Kapelle zurück. Meine erste Pilgerbegegnung treffe ich nicht mehr wieder. Inzwischen mühe ich mich weiter die Straße hinauf. Mit Bedauern denke ich an die verpasste Herberge in dem mittelalterlichen Städtchen.
Nicht viel später mündet der Asphalt der Landstraße in einen lehmigen, vom letzten Regen noch schlammigen Pfad, der zwischen Hecken immer steiler aufwärtsführt, und erst an der Kirche der Jungfrau von Guadalupe, der Schutzheiligen von Hondarribia, endet. Ich muss rasten, weil mir die ungewohnte Anstrengung mittlerweile ziemlich zusetzt. Das Heiligtum liegt am Fuß des Jaizkibels und wurde im 16. Jahrhundert eingeweiht. Die Schiffsmodelle, die im Inneren der Kirche an der Decke hängen, sind Weihegaben der Fischer. Eine steinerne Muschel unter den Arkaden erinnert daran, dass ich mich auf dem Jakobsweg befinde. Jedes Jahr im September endet an dieser Kirche eine Wallfahrt, die an einen Sieg über die Franzosen im Jahre 1638 erinnert. Ich müsste mich schon irren, wenn jemand behaupten würde, dass die Jungfrau dabei nicht ihre Finger im Spiel hatte. Ein Brunnen vor der Kirche lädt zur Rast ein, aber erst als ich ausgiebig getrunken und mich erfrischt habe, sehe ich den Hinweis: Kein Trinkwasser! Brunnen sind im Laufe der Jahrhunderte entlang des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela zahlreich gegründet worden. Dieser Brunnen scheint nicht dazu zu gehören.

An der Kirche treffe ich Irina wieder. Sie ist in Bilbao in den Bus nach Irún zugestiegen. Wegen der beiden Franzosen auf dem Busbahnhof in Irún habe ich sie aus den Augen verloren. Nun kommt sie mit ihrem viel zu großen Rucksack schwerfällig den Berg zur Kirche hinauf. Ihre halblangen braunen Haare und ihr blaues Kleid mit den großen roten Blüten flattert im Wind. In den nächsten Tagen sehe ich sie häufiger, und immer, wenn ich ihr Kleid sehe, muss ich an die Küchenschürzen meiner Mutter denken. Noch weiß ich nicht, dass sie in ihrer ungewöhnlichen Kleidung, unter den vielen sportlich gekleideten Pilgern auf dem Jakobsweg, exotisch wirkt. Sie ist Russin und kommt aus Moskau, wirkt aber eher wie eine Landpomeranze aus der Provinz, die zum ersten Mal ihr Dorf verlassen hat. Wie ich, ist sie den ersten Tag unterwegs, und genauso unsicher. Sie ist eine junge, übergewichtige Frau, die mit hochrotem Kopf und sichtbar erschöpft die letzten Meter der Steigung zur Kirche schafft. Sofort stürzt sie sich auf den Brunnen, der nach der langen Steigung einladend am Weg steht. Bevor ich sie warnen kann, dass es kein Trinkwasser ist, hat sie schon in großen Zügen getrunken. Sie ist distanziert, hält Abstand zu mir, und ist ungewöhnlich schweigsam. Erst als ich beharrlich nachfrage, erzählt sie mir, sie sei zum ersten Mal in Europa, aber schon dreimal in Nepal im Himalaya gewandert. Zuerst verstehe ich nicht, warum sie Europa sagt, dachte ich doch bisher, auch Moskau sei Europa. Aber sie sieht das politisch, während ich geografisch denke. Um Europa kennenzulernen, ist sie auf den Camino del Norte gekommen, und wegen der Berge. Ich habe bei Wolfgang Bücher gelesen, dass Moskau durchaus eine Reise lohnt. Er muss es wissen, denn er ist von Berlin aus zu Fuß dorthin gegangen.
Nur ein paar Meter hinter der Kirche steigen wir, von meiner unfreiwilligen Begleiterin GPS- geführt, über die nächste Asphaltpiste weiter den Jaizkibel hinauf. Mir wird erst jetzt bewusst, dass ich bereits am Stadtrand von Irún den ersten Schritt auf diesen Berg gesetzt habe. An einer Querstraße wechselt der Weg auf einen Pfad, der eher für Maultiere als für Menschen geeignet ist. Es geht so steil und steinig auf den Kamm des Jaizkibel hinauf, dass ich mir ein Geländer wünsche. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass ich auf dem Camino del Norte unterwegs bin, bevor ich dazu bereit war. Es ist bereits Nachmittag. Noch liegen dreizehn Kilometer vor mir. Irina folgt mir langsam und gemütlich den Berg hinauf, trödelt, als verfüge sie über alle Zeit der Welt. Nichts in Irinas Aura spricht für Eile. Ihre Gelassenheit steckt mich an, aber sie traut mir nicht, will lieber für sich allein bleiben. Doch außer uns ist niemand auf dem Berg, und ob wir wollen oder nicht, wir sind zu zweit auf dem Weg nach Pasaia. Beruhigt lasse ich mich ganz auf die anstrengende Bergwanderung ein. Es ist ein herrliches, die Brust weitendes Gefühl, in der warmen Frühlingssonne, bei strahlend blauem Himmel auf dem Jaizkibel spazieren zu gehen. Wann habe ich dieses Gefühl zuletzt gespürt?

Die Basken gelten allgemein als Traditionalisten, die mit ihrer überlieferten Kultur eng verbunden sind. Im atlantischen Raum begann 178 v. Chr. die Romanisierung des Baskenlandes, was immer wieder zu Aufständen gegen die unterschiedlichsten Besatzer führte. Während der Völkerwanderung im sechsten Jahrhundert versuchten die Westgoten das Baskenland politisch zu kontrollieren. Im Norden dehnten die Franken ihren Einfluss in die baskische Region aus. Der historische Hintergrund des Rolandslieds spiegelt diese Konflikte wider. Im 10. Jahrhundert wurden am Jakobsweg nach Santiago de Compostela die ersten Städte gegründet, im Baskenland Sangüesa und Estella, durch die inzwischen der Camino Francés führt. Zweihundert Jahre später wurde Bilbao gegründet und die Region zum wichtigsten Eisenlieferanten Westeuropas. Parallel entwickelte sich die baskische Hochseefischerei im Nordatlantik, der eine Ausweitung des Seehandels und des Schiffbaus folgte. Im 17. und 18. Jahrhundert schränkte die Zentralregierung Spaniens, trotz oder gerade wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs des Bürgertums in San Sebastián und Bilbao die baskischen Freiheiten zunehmend ein, um die Kontrolle des internationalen Handels zu übernehmen. Die Basken reagierten auf die Übergriffe mit den sogenannten Matxinada, Volksaufständen, die eine größere Autonomie des Baskenlandes anstrebten. Die politischen Unruhen und wirtschaftlichen Hemmnisse schadeten dem weiteren wirtschaftlichen Aufschwung des 18. Jahrhunderts aber nicht. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte das Baskenland den Beginn des internationalen Tourismus in San Sebastián und anderen Küstenorten, den die terroristischen Aktivitäten der ETA in den kommenden Jahrzehnten immer wieder zunichtemachten. Das Zentrum des baskischen Nationalismus aber blieb Bilbao, geprägt durch die Rückbesinnung auf die eigene Sprache und Kultur. In den politischen Wirren der 1930er Jahre nahm das spanische Parlament das baskische Autonomiestatut an, dem die drei Provinzen Álava, Bizkaia und Gipuzkoa angehören sollten. Doch bereits im gleichen Jahr führten konservativ-monarchistische Militärs unter Führung von Francisco Franco mit Unterstützung des faschistischen Königreichs Italien und des nationalsozialistischen Deutschen Reichs, einen Staatsstreich gegen die im Februar 1936 demokratisch gewählte republikanische Regierung Spaniens durch. Die baskischen Provinzen Bizkaia und Gipuzkoa wurden zu Verräterprovinzen erklärt, die fiskalen Sonderrechte wurden ihnen entzogen, womit ihre kurze Autonomie endete und der Spanische Bürgerkrieg begann. Vor diesem Hintergrund wurde 1959 die radikal-nationalistische Gruppe ETA, Euskadi ta Askatasuna, ein Baskenland in Freiheit, mit dem Ziel, der Befreiung gegründet, der Loslösung und Unabhängigkeit des Baskenlandes von Spanien durch den bewaffneten Kampf. Erst 1979 führte eine Volksabstimmung zur Erneuerung des baskischen Autonomiestatuts der Provinzen Álava, Bizkaia und Gipuzkoa, die heute gemeinsam die spanische Autonome Region Euskadi bilden. Gespräche zur Beendigung der gewalttätigen Konflikte zwischen der ETA und der spanischen Regierung fanden erstmals 1986 in der Hoffnung statt, den baskischen Konflikt auf dem Verhandlungsweg beilegen zu können. 1988 wurde der Antiterrorismus-Pakt, wenn auch nicht einhellig, so doch von beiden Seiten unterzeichnet. Politische Parolen auf Hauswänden und Plakaten, selbst auf der abgelegenen Mauer eines der alten Wachtürme auf dem Jaizkibel, mahnen weiter bestehende Unabhängigkeitsbestrebungen an.

Gemeinsam wandern wir viele Kilometer über den Kamm des Jaizkibel, auf einem schmalen Pfad, der sich immer wieder in den Wiesen verliert. Ich gehe hunderte Meter voraus, Irina folgt mir langsam und gemächlich, oft nur ein bunter Fleck in dem hinter mir ausgebreiteten Grün. Wenn ich eine Pause einlege, geht sie lächelnd an mir vorüber, aber bald habe ich sie wieder eingeholt. Dann bleibt sie stehen und lässt mich wortlos vorbei. So wandern wir gemeinsam über den Kammweg, vorbei an den Ruinen von Wachtürmen, mitten durch Pferde- und Schafherden, über Felsen, die wahllos im Gelände verstreut sind und an steilen Abhängen vorüber. Weit unter uns dehnt sich Irún in der Abendsonne aus. Ich habe einen spektakulären Blick über den unter einem wolkenlosen Himmel im Sonnenlicht glitzernden Golf von Biskaya und das Mündungsgebiet des Bidasoa. Irún mit seinem Hafen und halbmondförmigen Sandstrand liegt mir zu Füßen. Ein perfekter Tag, der alle meine kleinlichen Sorgen und Ängste unter sich begräbt. Welch ein famoser Start in einen Neubeginn. Doch um meine Kondition ist es schlecht bestellt. Während ich auf dem Jaizkibel unterwegs bin, spüre ich die Konsequenzen. Mich beunruhigen Gedanken, dass ich den Weg nach Santiago de Compostela nicht schaffe. Plötzlich kommt mir mein Unternehmen gewagt vor. Meistens überwiegt die Freude auf Neues, die Neugier auf das Fremde, das unmittelbar vor mir liegt. Aber inzwischen weiß ich auch, dass Kondition nichts mit dem Alter zu tun hat, sondern mit Übung. Pilgern scheint eine suspekte Angelegenheit zu sein, die unbequeme Fragen fördert. Ich nehme mir vor, mein Drittes Alter bewusst zu beginnen. Nicht nur beginnen, ich will eine Brücke in einen neuen Lebensabschnitt bauen, mein Alter aktiv gestalten. Solche Gedanken sind magische Beschwörungen, die helfen sollen, meine Unsicherheit zu mindern. Nach Jahren beruflichen Sitzens, stehe ich auf, um mich im Gehen zu üben. Vor allem bin ich neugierig, auf mich selbst, und darauf, was in all den Jahren von mir noch übriggeblieben ist, das darauf wartet, entdeckt und verwirklicht zu werden. Vielleicht verschwindet es sonst ungenutzt, wie manches andere. Wo bleibt das Unverwirklichte eines Lebens? Ich will es wenigstens versuchen, und erwarte so wenig wie möglich.
Über steinige Hänge kletternd erreiche ich schwitzend den Gipfel Alerru, als plötzlich das Wetter umschlägt. Ich stehe hoch oben, blicke den Hang hinab, wo sich meine russische Begleiterin vor der Kulisse Irúns noch mit dem Weg abmüht, als dünner Rauch von hinten an mir vorbeizieht. Noch während ich mich nach dem vermeintlichen Feuer umschaue, bringen sich die Schafe im Tal laut blökend in Sicherheit. Was ich für Rauch halte, ist der Dunst, der den Regenwolken vorauszieht, die aus der eben noch strahlenden Biskaya über den Jaizkibel ziehen und die Sonne verschlucken. Ein Wettersturz. Der Wind frischt auf, es wird stürmisch, und unvermittelt dunkel und kalt. Ehe ich mich versehe, stehe ich mitten in den Wolken. Die Sicht beträgt höchstens fünfzig Meter. Mit den Schafen ist auch meine Begleiterin im nebeligen Dunst verschwunden. In einer windgeschützten Nische zwischen zwei Felsen am Hang, um den sich der steinige Pfad windet, sitze ich frierend in meine Regenjacke gehüllt und warte ab, was weiter passiert. Irina biegt um die Ecke, unbeirrt und selbstverständlich, als sei das Wetter völlig normal. Sie lächelt. Wir verständigen uns wortlos, während sie kurz verschnauft. Einen Augenblick später ist sie um die nächste Biegung verschwunden. Die Wolken haben sie wieder verschluckt. Für mich ist das eine ausreichende Antwort. Ich schnüre die Kapuze enger, ziehe sie mir tief ins Gesicht und folge ihr zurück auf den Gipfel. Hintereinander stemmen wir uns durch die Wolken und gegen den vom Atlantik her heftig blasenden Wind. Es ist nicht nur seltsam im Nebel zu wandeln, sondern auch anstrengend und unheimlich. Irina hat mich schnell wieder vorbeigelassen, mir die Männerrolle zugewiesen. Wie kann ich ablehnen? Wenn ich mich nach ihr umdrehe, folgt mir sie, nur ein wässriger Schatten. Selbst die kräftigen roten Blüten auf ihrem Kleid sind verblasst. Der Pfad schlängelt sich zwischen und über Felsbrocken, die ich viel zu oft nur im letzten Moment sehe. Und viel zu oft ist der Pfad nicht mehr zu sehen. Häufig klettern wir über zerklüftete Felsen und weglos gewordene Wiesen nahe am Abhang entlang, der irgendwie eine Richtung vorgibt, von der wir hoffen, es ist die richtige. Der Wind bläst böig und kräftig von der Seite her. Es fällt mir schwer, mein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Gefühlt sind wir stundenlang unterwegs. Wir klettern schweigend im Gänsemarsch über die Felsen, die Jacken hochgeschlossen und die Kapuzen in die Stirn gezogen. Irgendwann wird der Weg ebener. Wir gehen wieder über Gras und zwischen Sträuchern sanft abwärts. Als wir tiefer kommen, lichtet sich der Nebel und die Sicht wird klarer, bis wir endlich das ehemalige Fischerdorf Pasaia und die Ría des Flusses Oiartzun unter uns sehen. Zuletzt geht es so steil bergab, dass mir Knie und Hüften schmerzen.
Es ist bereits seit längerem dunkel, als wir müde und erschöpft die Ermita de Santa Ana in Pasaia erreichen, in der eine öffentliche Pilgerherberge eingerichtet ist. Vor der Herberge stehen Männer im schwachen Licht, das aus dem Eingang fällt, und rauchen. Wir bekommen die beiden letzten freien Betten im ausgebauten Dachstuhl der Herberge, dicht unter der Schräge. In den beiden Etagen der sanierten und ausgebauten Kirche Santa Ana lebte früher eine Hippie-Kommune. Letztes Zeugnis ist ein Che Guevara-Poster, dass wie ein Relikt anderer Tage an einer Wand hängt. In der Herberge gibt es sieben Etagenbetten und zwei Liegen. Drei Etagenbetten, in denen sich Pilger ausgestreckt haben, und unsere Liegen, stehen in der oberen Etage, in die eine holprige Stiege führt. Meine Beinmuskeln schmerzen inzwischen so sehr, dass ich die Treppe nach oben nur mühsam hinaufkomme. Endlich sitze ich auf dem Bett und betrachte stolz den ersten Stempel in meinem jungfräulichen Pilgerpass, dem Credenzial del Peregrino, ohne den niemand ein Bett in einer der preiswerten, öffentlichen Pilgerherbergen bekommt. Die ersten zwanzig Kilometer, den anstrengenden Auftakt ins Baskenland, habe ich erfolgreich bewältigt. Um zehn Uhr gehen automatisch die Lichter aus. Ich liege noch lange wach, bin viel zu aufgekratzt, um einzuschlafen.
Der aufregende Tag auf dem Jaizkibel zieht wieder und wieder an mir vorüber. Im Dunkeln sehe ich klarer: Ich werde weiter gehen, will abends ankommen und morgens aufbrechen. Auf meinen eigenen Füßen. Als ob das etwas Besonderes wäre, lächelt es in mir. Ich fühle mich mutig und selbstbewusst. Ich habe diesen Tag geschafft, liege satt und zufrieden im Bett. Ich bin zu Fuß auf den Weg angekommen. Immer nur einen Schritt vor dem nächsten. Hunderte Kilometer liegen vor mir. Von Osten nach Westen, durch Feld, Wald und Flur, durch Orte und über das Land. Über Stock und Stein. Das Wandern wird Symbol für meinen Aufbruch und Leitmotiv meines Alters. Für meinen bevorstehenden Übergang habe ich mich für das Gehen entschieden. Ich weiß um die Bedeutung von Übergängen in ein anderes Leben, in einen anderen Status, in eine andere Welt, in ein anderes Alter. Auch wenn Gedanken bleiben, die rückwärts auf das Vergangene, nicht mehr Mögliche blicken. Meine Traurigkeit hält sich in Grenzen. Noch einmal ruft mir das Leben zu, meine Kräfte zu mobilisieren, mir ein buntes Kostüm zu schneidern. Ich mache mich noch einmal auf den Weg.

Die Langsamkeit zu entdecken, lohnt die Mühe. Sie beschenkt den Fußgänger mit intensiven sinnlichen Eindrücken, mit Gedanken absichtsloser Kontemplation, gefördert durch Weg und Landschaft. Es gibt keinen Weg zum Glück, lehrt Buddha, das Glück ist der Weg. Er spricht dabei vom Leben. Zu Fuß gehen. Eine seltsame Idee. Unerwartet und plötzlich taucht sie auf und lässt mich nicht mehr los. Was mag diesen fremden Impuls in mir ausgelöst haben, der mir immer vertrauter wird? Eine Schneeflocke, schreibt Peter Matthiessen in seinem legendären Buch vom Schneeleoparden, fällt nie auf die falsche Stelle. In Zeiten einer Klimakrise geht es um eine entschleunigte Lebensweise. Um einen nachhaltigen Umgang mit uns und der Natur. Bewusst zu gehen, aus eigener Kraft, mich langsam und achtsam zu bewegen, ist eine gute Übung für die Lösung bevorstehender Herausforderungen. Solvitur ambulando: Die Lösung liegt im Gehen! Gehen öffnet! Zeit wird zur Dauer, dehnt sich in die Unmessbarkeit aus. Mich in die Landschaft zu integrieren, veränderte Perspektiven erleben, Wissen über mich selbst zu sammeln. Seit heute weiß ich es: Fußreisen sind mit nichts zu vergleichen.


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