Sonntag, 5. Februar 2023

Ein Weg des Heils


. . . there is energy in free and open land
- which is why comon land, land running wild,
seems so vitalizing, for we were born wild to a wild earth

Jay Griffiths

Jay Griffiths Buch An Elemental Journey beschreibt den Zustand unseres Planeten, indem sie die vier Elemente, die seine Gestalt und seine Atmosphären bestimmen, Kapitel für Kapitel wie Leitmotive entfaltet. Sie hat ein Buch geschrieben, das es schwierig macht, es einem Genre zuzuordnen; keine Reiseerzählung im eigentlichen Sinne, am ehesten noch ethno-geografisch, und dennoch mehr als das: eine umfangreiche Bestandsaufnahme des Ist-Zustand der Geografie und Kulturen der Welt. Sie beschreibt die Hintergründe des Kulturwandels und bewertet, ohne Rücksicht auf den Mainstream - subjektiv, kritisch, engagiert - die Seite der Opfer von Kapitalismus und Globalisierung. Sie erzählt von der Beziehung des Menschen zu der Landschaft, in der er sich aufhält, in der er lebt, von der er abhängt und die er durchwandert, davon, dass unsere Welt ihre Eigenheiten verliert, wenn wir sie weiter einseitig an unsere Bedürfnisse anpassen und die Bedürfnisse unserer Mitgeschöpfe ignorieren.
In Europa gibt es schon seit Jahrhunderten keine Wildnis mehr. Der Mensch hat sie gestaltet und ihr den Stempel der Zivilisation aufgedrückt. In manchen Regionen glaubt der Wanderer durch ungezähmte Natur zu wandern, doch er verfällt der Illusion, die aus seinen Vorstellungen besteht, die er in die Landschaft projiziert. Weltweit gibt es Wildnis höchstens noch im Regenwald, in der Wüste, im Hochgebirge oder im ewigen Eis. Doch auch daran lässt sich zweifeln. Auch die Landschaft, durch die die Vía de la Plata führt, ist, im Gegensatz zu der, an der Pilgerautobahn Camino Francés, nicht wild im Sinne von unzugänglich, undurchdringlich, kaum oder gar nicht bewältigbar oder lebensfeindlich. Vielmehr ist sie durchgehend kultiviert. Trotzdem stellt sich eine Illusion von Wildheit ein, am häufigsten dann, wenn man lange allein durch abgelegene Gegenden wandert, in denen die unstrukturiert erscheinende Landschaft für Stunden das einzige Gegenüber ist. In europäischen Landschaften sind die Spuren von Menschenhand überall sichtbar, auch wenn es Orte gibt, Edgelands und Drosscapes, die sich der Menschenhand allmählich wieder entziehen, die eine Zeitlang weder Landschaft noch Stadt sind. Eigenständige Randgebiete, Zwischenwelten, keineswegs Leerstellen, deren Geschichte sich zu entdecken lohnt. In diesen Orten wohnt der Zauber der Vergänglichkeit, eine Bezeichnung, die Rose Macaulay für Ruinen verwendet. Sie spricht von Ruinenlust, der kollektiven Faszination, die Untergang und Verfall ausüben, der fast mystische Eindruck, den die Überreste gewaltiger Vergangenheit im Gemüt des Menschen hervorrufen, einer Vergangenheit aus Geschichte, Sage und Mythe, real und phantastisch zugleich. Der Wert dieser Orte entsteht aus dem Verstehen des Kontextes, in dem sie einst entstanden sind. Doch auch hier nur auf den ersten Blick, denn sieht man genauer hin, verraten viele Details die Anwesenheit des Menschen. Wie sollte es auch im Anthropzän anders sein.

Nordwestlich von Zamora wechselt die Vía de la Plata gemächlich die Richtung, bis sie in dem kleinen Dorf Granja de Moreruela in zwei Richtungen weiter nach Santiago führt. Die 340 Kilometer lange Etappe der Vía de la Plata, die jetzt Camino Sanabrés genannt wird, beginnt in diesem Dorf in der bergigen Grenzregion der Provinzen Kastilien-León und Galicien. In dem verschlafenen Provinzstädtchen teilt sich die Vía de la Plata in zwei Wege. Der eine Zweig der Vía führt weiter nach Norden, bis er in Astorga auf den Camino Francés trifft. Der Camino Sanabrés, der heilende Weg (sanabar, heilen), in übertragener Bedeutung an Leib und Seele gesunden, zweigt nordöstlich ab und verläuft über Puebla de Sanabria und Ourense durch Galicien bis nach Santiago de Compostela. Dort wo sich die beiden Wege trennen, gründeten König Alfons III. und der Heilige Froilán im zehnten Jahrhundert zu Ehren des Apostels Jakobus das Zisterzienser-Kloster Santa Maria de Mereruela, bis Ende des 12. Jahrhunderts als Santiago de Moreruela, Heiliger Jakobus von Moreruela, bekannt. Der Name des Camino Sanabrés ist spirituelles Programm, denn wer diesen Weg zum Apostel pilgert, hofft an Leib und Seele heil zu werden. Auf dem Camino Sanabrés sind, anders als auf dem Camino Francés oder dem Camino de la Costa, noch immer keine Pilgermassen unterwegs. Dafür lauert das Mittelalter in manchen Ecken, architektonisch oder folkloristisch, in Klöstern oder Fiestas, und mancher Ort ist Ziel lokaler Wallfahrten.

Der Camino Sanabrés ist Teil des Jakobswegenetzwerks im Nordwesten Spaniens, in dem die Vía de la Plata die zentrale Nord-Südachse bildet, in die die östlichen Wege der mozarabischen Christen münden. Der größte dieser Wege, der Camino Mozarabe, beginnt in Granada und endet in Mérida, wo er in die Vía de la Plata mündet und dieser weiter nach Norden folgt. Der Mozarabische Weg selbst ist ein untergeordnetes Netzwerk einer Reihe von historischen Wegen, die die bedeutenden Städte Córdoba, Granada und Jaén mit Mérida verbinden, der Weg, den die unter maurischer Herrschaft lebenden Christen, die Mozaraber, nach Santiago de Compostela pilgerten. Der Name Mozaraber geht wahrscheinlich auf das arabische mustaʿrib zurück, was arabisiert bedeutet. Diese ethnische Gruppe in al-Andalus und im heutigen Portugal bezeichnete die Christen, die nach dem Zusammenbruch des Westgotenreichs unter dem Ansturm des Islam im achten Jahrhundert in den maurisch besetzten Gebieten zurückgeblieben waren und sich an ihre neue Lebenswelt anpassen mussten.

Der Camino Sanabrés quert eine völlig andere Landschaft als die südliche Etappe der Vía de la Plata durch Andalusien und die Extremadura mit den ausgedehnten, in der Ferne von Bergen gesäumten Weiten, den Baumsavannen, den quirligen andalusischen Kleinstädten und kulturellen Zentren, deren Geschichte bis zurück in die Zeit der römischen Provinz Hispania führt. Die Landschaft am Camino Sanabrés wird zunehmend gebirgig, wird von Bergen gesäumt, die auch schon einmal tausend Meter erreichen, über die sich der Jakobsweg müht, auf schmalen Pfaden und Graten und über Pässe, Maultierpfaden und Schmugglerwegen ähnlicher als alltäglichen Wegen zwischenmenschlicher Kommunikation. Es ist eine wildere Landschaft, in der sich wieder Wölfe wohlfühlen und Spuren von Zivilisation seltener sind, einsam, dafür idyllisch und malerisch, Wege, die physisch fordern und emotional viel geben. Städte gibt es zwischen Zamora und Ourense keine mehr. Kleine, abgelegene Dörfer mit Häusern und Straßen, die ungestört altern, ohne dass eine renovierende Hand ihre Ruhe stört. Jenseits von Zamora und Tábara beginnt eine strukturschwache, arme Region Nordspaniens. Vom bedeutenden, historischen Alter dieser Ortschaften zeugt wenig, Denkmäler und Monumente, Transitheiligtümer, Kirchen und Paläste, die Geschichte atmen, gibt es viele, doch man muss sie suchen, denn sie präsentieren sich nicht auf der Bühne des Jakobswegs. In Tabara beispielsweise das Kloster San Salvador oder die Abtei Riba de Santa Marta de Tera in Rionegro del Puente, wo am Fuße des Altars der Jungfrau Maria die Bruderschaft Carballeda de Falifos gegründet wurde und immer noch existiert. Die Bruderschaft betreut auch heute noch die Pilger, sorgt für deren Bequemlichkeit und Gelassenheit angesichts der schlechten Wege. So lautet zumindest ihr Motto. Wer Zeit hat sich umzuhören, findet überliefertes Brauchtum, von Generation zu Generation mündlich tradiert.

Obwohl der Camino Sanbrés erst in Granja de Moreruela beginnt, ist Zamora, in der Autonomen Provinz Kastilien-León, ein guter Einstieg in die letzte Etappe nach Santiago de Compostela. Die Stadt hat mir sofort gefallen, schon als ich die ersten Schritte am Uferweg des Río Duero in Richtung des Zentrums machte. Eine Postkartenkulisse, die malerisch auf dem Hochufer des Flusses gelegene Altstadt, die in Trümmern liegende römische Brücke, die historischen Wassermühlen, von denen eine restauriert wurde und besichtigt werden kann. Steil hinauf führt die Vía an die Iglesia de San Cipriano, neben der die Pilgerherberge von Zamora liegt. Eine spanische Stadt am Sonntagnachmittag wie Lugo oder Mérida: lebhaft, nicht überfüllt, eine entspannte Atmosphäre, keine Spur der angespannten, stressigen Betriebsamkeit, dem Bienenstock, in dem alles übereinander krabbelt, die mich aus Salamanca vertrieben hat.
Zamora an der Vía de la Plata ist eine alte Stadt an alten Wegen. Ihr Name, Azemur, wilder Olivenhain, oder Samurah, Stadt der Türkinnen, ist maurischen Ursprungs und heute ein weiblicher Vorname. Besiedlungsspuren reichen in die Bronzezeit zurück. Später befestigten die präkeltischen Vettonen den Ort, der in der römischen Provinz Lusitania unter Kaiser Augustus ein Oppidum wurde und Ocelum hieß. Während der maurischen Herrschaft lag Zamora im Grenzland zwischen al-Andalus und dem christlichen Königreich Asturien, zu dem damals auch Galicien und das nördliche Portugal gehörten. Der Ort war Grenzgebiet, eine unruhige Region; maurische und christliche Herrscher wechselten einander ab. Im neunten Jahrhundert von den Mauren zerstört, bauten die Christen sie im 11. Jahrhundert wieder auf. In der Folgezeit erlebte der befestigte Bischofsitz Zamora eine kurze Blütezeit, sank aber bereits im 13. Jahrhundert, trotz seiner strategischen Lage am Duero und der Vía de la Plata, auf den Rang einer Provinzstadt ab. Die historische Altstadt von Zamora, die Ferdinand I. die gut Befestigte nannte, erinnert an Salamanca, ist aber nicht so protzig, eher eine charmante Miniatur und sehr romanisch. Ein Spaziergang durch enge Gassen über kleine Plätze, während der Siesta menschenleer, hinunter an die Puente Romano, dann am Rio Duero entlang, zu den Aceñas de Olivares, den historischen Wassermühlen, die an den alten Namen der Stadt erinnern, immer im Schatten der antiken Stadtmauer aus dem neunten Jahrhundert, die über allem aufragt. Hinauf in die Altstadt zur Santa Iglesia del Salvador de Zamora, deren Nordportal, das Portal del Opispo zu den reichhaltigen verzierten Portalfassaden der Romanik gehört, weiter zum Casa del Cid, in dem der Legende nach der Cid, der spanische Nationalheld der Reconquista, gewohnt haben soll, und dann unter die Arkaden auf die Plaza Los Clento auf einen Milchkaffee, solange, bis die Pilgerherberge öffnet. Auf den Stufen am Eingang sitzen Sylvain, Martine und Phillip von denen ich mich in Mérida verabschiedet habe. Wir bekommen ein Zimmer im Keller, in dem zwei Etagenbetten so eng zusammengerückt stehen, dass sich immer nur zwei von uns im Raum bewegen können, wenn die beiden anderen auf dem Bett liegen. Ein guter Grund, mit deutsch-französischem Radebrech den Abend in einer Bar zu verbringen.

Der Camino Sanabrés verbindet mehr als die populären Pilgerwege die Einsamkeit der Landschaft mit einem Rest an Wildnis. Auch wenn die Streckenmarkierungen erheblich verbessert wurden, gelbe Pfeilmarkierungen (flechas amarillas) oder Jakobsmuscheln (conchas) als Wegweiser, verläuft man sich leicht, weil lange nicht jede Abzweigung ausgeschildert ist. Auf dem Camino Sanabrés bekomme ich das Gefühl, Europa einem Schritt hinter mir zu lassen. So allein wie in der Grenzregion von Galicien und Kastilien-León habe ich mich auf keinem anderen Jakobsweg gefühlt. Kleine Dörfer, oft nur Weiler, am Tag menschenleer. Staubige, trockene Wege, bellende Hunde hinter hohen Mauern oder Zäunen. Nur abends, oft mit der ersten Mahlzeit des Tages, treffe ich meine Mitpilger, die sich tagsüber irgendwo in der Landschaft verloren haben. Unterwegs habe ich die Landschaft für mich, selten die Silhouette einer Siedlung am Horizont, kein weißes Schimmern von Mauern zwischen den Bäumen, keine Menschenseele, und auch Tiere lassen sich selten blicken. Dabei soll es im nördlichen Spanien und Portugal wieder Wölfe und Bären geben, die aus der kantabrischen Kordillere eingewandert sind.

Es ist Anfang Mai. In Spanien der schönste Wandermonat. Morgens steht die Sonne noch tief über einem gestreiften Horizont. Orange- und Rottöne mischen sich im Dunst der Dämmerung, während ich in klammen Händen die Wanderstöcke halte. Die Etappe nach Granja de Moreruela ist mir für einen Tag zu weit. Ich beschließe, weil es möglich ist, auf halber Strecke in Montamarta zu übernachten. Mir kommt Zamora in den Sinn, und ich bedauere, nur ein paar Stunden in der Stadt erbracht zu haben. Es braucht, bis mich andere Gedanken ablenken, denn die Landschaft ist monoton und der Weg nach Montamarta einsam. Ein zwanzig Kilometer langer Spaziergang durch eine Ebene, in der sich farblich abgesetzte Quadrate ausgedehnter Raps- und Weizenfelder abwechseln; ein grün-gelbes Land, die iberische Meseta. Nur gelegentlich ein Gutshof in der Ferne. Keine Weiden, auf denen Rinder grasen oder Schweine wühlen. Aber auch keine Mastbetriebe wie sie in der Extremadura häufig anzutreffen sind. Nichts anders zu tun, außer zu gehen und zeitig anzukommen. Die Herberge in Montamarta liegt außerhalb des Ortes, mit großer Wiese und Picknickplatz; und mit einer Waschmaschine, was in den Herbergen an der Vía de la Plata nicht selbstverständlich ist. Endlich ein Waschtag, der längst überfällig ist. Draußen herrscht uneingeschränkt die Sonne. Ein perfekter Tag, um auf den Bänken vor der Herberge, bei Bier in internationaler Pilgergemeinschaft, meine Ausrüstung zu pflegen und zu überholen.

Der nächste Tag bringt wenig Veränderung. Die gleiche, stundenlange und eintönige Wanderung über lange Sandpisten durch die Meseta. Wieder gibt es unterwegs wenig Abwechslung. Fast bereue ich, in Zamora nicht den Bus genommen zu haben. Lästerliche Gedanken, die einem Pilger nicht geziemen. Euphorie und Unlust passen schlecht zusammen. Trotzdem sind die beiden die ständigen Begleiter meines Wanderers. Es geht unbarmherzig geradeaus. Tunnelblick droht. In der Ferne, auf einem Geländesporn, der zum Fluss hin abfällt, liegt Castrotorafe, einst Hauptfeste des Ordre de Santiago, nun eine Ruine vor sich hin bröselnder Steine, ein Kiefer, dem schon viele Zähne fehlen. Nicht mehr lange, dann hat der Wind sie ganz verweht wie bereits die Gebäude der Festung dahinter, von denen nicht viel geblieben ist. Die Landschaft grün, durch die sich ockerfarben die staubige Vía schlängelt. Ein Randgebiet, wie eine große Wunde, die offen vor mir liegt. Dazu ein strahlend blauer Himmel, von dem heiß die Sonne brennt. Die Vía de la Plata umrundet die Ruine in einem großen Bogen, während die Burgmauer drohend über mir aufragt.
Unter einem wolkenlosen Himmel zieht sich der schattenlose Weg nach Granja de Mereruela in die Länge. Es bleibt heiß in der Nachmittagssonne. Ein windstiller, wolkenloser Tag. Der Schweiß rinnt mir die Stirne herab und den Rücken hinunter. Es ist lange her, seit mein Hemd trocken war. Inzwischen ist auch mein Hosenbund nass, das Leder meines Gürtels von Feuchtigkeit schon lange fleckig. Die Hoffnung auf eine Bar in Riego del Camino hält mich die letzten Kilometer aufrecht, doch die Straßen des Orts sind leergefegt. Noch ist Siesta. Eine einsame Frau putzt Fenster. Sie weiß, dass die einzige Bar geschlossen bleibt, weil der Besitzer zum Arzt gefahren ist. Die letzten Kilometer schleppen sich durstig und nass geschwitzt über die staubige, schattenlose Piste nach Granja de Mereruela. Am Ortsrand die ersehnte Bar mit kaltem Bier und dem Schlüssel für die fast ausgebuchte Herberge; ein großer Schlafsaal mit eng aufgereihten Etagenbetten, Duschgelegenheiten und kein Platz, um sich aufzuhalten. Abends sind wir alle, Franzosen und Italiener, in der Bar: ein reichhaltiges Menü und viel Rotwein. Die Unterhaltung mehrsprachig. Viel verstanden habe ich nicht.

Seit meiner Kindheit kenne ich das Phänomen, das die Zoologen Zugunruhe nennen, nur zu gut. Mich hat es schon immer hinausgezogen, in die Nachbarschaft, in die Umgebung, in andere Gegenden, hinaus in die Welt. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit fünf Jahren das erste Mal von zu Hause weggelaufen bin, von der Polizei gesucht, und nach Hause gebracht wurde. Weglaufen haben es die anderen genannt. Ich hatte nicht die Absicht, mich davon zu machen, mir überhaupt nichts dabei gedacht. Alles war neu und interessant. Ich bin im Zeichen der Zwillinge geboren, mitten im Frühling. Von Anfang an trug ich Merkurs Wanderstab im Gepäck. Wir waren gerade umgezogen, in eine Straße, die am Ufer eines kleinen Flusses lag, nur ein paar hundert Meter von einer Auenlandschaft entfernt, wo der Fluss die Stadt hinter sich ließ, mit Weiden auf denen Kühe und Pferde grasten. Wilde Uferböschungen, mit knorrigen Weiden, hüfthohen Gräsern und Pflanzen, in denen sich Insekten tummelten, eine eigene Welt, eine Flusslandschaft; jung wie ich war, hatte ich nie zuvor eine gesehen. Die Empfindungen und Gefühle, die das Neue, das Unbekannte, das Fremde und Unvertraute auslösen, haben mich seit diesen freien Tagen nicht mehr losgelassen. Neugierde ist mein Lebenselixier. Ich habe mich schon oft gefragt, ob ich aus diesem Grund immer wieder in Städten gelebt habe, durch die ein Fluss fließt. Dass ich kein Talent besitze, sesshaft zu sein, war mir schon früh bewusst. Morgen erreiche ich den Camino Sanabrés, einen besonderen Jakobsweg in die Stadt des Apostels.

In der Morgensonne, deren Schein blassrot auf den fernen Bergen liegt, verlasse ich die Pilgerherberge in Granja de Mereruela auf für Autoverkehr zu schmalen Gassen. Jenseits des Orts schlängelt sich Vía de la Plata als breiter, sandiger Weg durch eingezäunte Weiden, auf denen Rinder bis zu den Flanken im morgendlichen Nebel stehen und das taunasse Gras wiederkäuen. Bis zum Río Esla, der etwas südlich vom Jakobsweg in die Embalse de Ricobayo mündet, sind es nur wenige Kilometer. Der Weg fällt aus dem leicht hügeligen Gelände steil ins Tal des Flusses hinab. Majestätisch spannt sich eine aus Ziegeln gemauerte Bogenbrücke von seinem einen Ufer ans andere. Ihre mächtigen Pfeiler baden im goldenen Licht der aufsteigenden Sonne, ein Bild, dass sich tief in meine Erinnerung gegraben hat. Erinnerungen, Reisen in der Zeit.
Unterwegs frage ich mich oft: Reicht es aus, ein Pilger zu sein, weil ich auf Pilgerwegen wandere, die jahrhundertelang von ungezählten Pilgerfüßen in die Landschaft getreten wurden, auf Spuren, die sich spürbar in die Fantasie drängen. Spuren, die nicht verwehen. Auch Jahrhunderte später nicht. Bin ich unterwegs, um diese malerischen Landschaften, diese einzigartigen Atmosphären einzusammeln, die Gegenwelt des steingefassten Gedränges der Stadt? Die Dörfer und Landschaften, die der Camino de Sanabrés auf alten Wegen kreuzt, denen die Anwesenheit unzähliger Pilger eingeschrieben ist, machen den Eindruck, dass es sie schon immer gab. Auf dem Camino Sanabrés wird der Wanderer wie sonst nirgendwo auf Jakobswegen zum Schwellenwesen, zu jemandem, der zwischen den Polen Aufbruch und Heimkehr die liminale Zone durchquert. In dieser Zwischenwelt ist ein Pilgerweg nicht länger ein geografischer, mit jenseitiger Symbolik aufgeladener Weg, verzeichnet auf einer Landkarte, kartografiert auf einem Straßenatlas. Den Atmosphären einer fremden Landschaft ausgeliefert, wird der Weg ortlos, allenfalls auf einer psychischen Landkarte in der Innenwelt des Wanderers symbolisch repräsentiert. Das Ziel des modernen Pilgers liegt in ihm selbst. Unterwegs auf dem Weg zu sich selbst, entwirft und verändert er seine eigene Geschichtenkarte, die die äußere Landschaft zusammen mit der psychischen Befindlichkeit beschreibt, die den Erlebnishorizont des Pilgers thematisch markiert.
Die wochenlange Bewegung zu Fuß durch eine Landschaft wirkt zugleich magisch und mystisch. Sie öffnet naturräumliche Dimensionen voller göttlicher Atmosphären, die den Pilger psychisch zutiefst betreffen. Fußreisen münden schnell in eine Meditation, zu nicht wiederholbaren Ereignissen, die im Gehen ihre eigene Struktur entwickeln. Die Gefühle und Gedanken des Wanderers auf diesen Wegen sind einzigartig, aber nicht unteilbar. Diese Mischung aus Einzigartigkeit und Mitteilbarkeit, die sich fern vom Alltag draußen in der Natur vollzieht, bindet die Pilger in eine Gemeinschaft jenseits von Konsum und Instrumentalisierung. Ein Pilger, dem es gelingt, sich der ihn umgebenden Landschaft zu öffnen, sich jedem Leistungsdenken entzieht, lässt sich von seinem Weg bestimmen, solange, bis die Grenze zwischen seinem Leib und seiner Umgebung verschwimmt. Er verschmilzt leiblich mit seiner Umgebung und erlebt sich selbst als Integral des Wegs, der Landschaft und der Natur. Um zu erfahren, was ihn ausmacht, muss er seinen Selbstbezug als autonomes Individuum für eine Weile aufgeben. Verweilt er lange genug im liminoiden Zustand, gibt er sich freiwillig einem passiven Kontrollverlust hin, weil er ihm selbstverständlich erscheint. Absichtlich absichtslos fließt er mit dem Weg durch die Landschaft, in einer Haltung innerer Stille, die intuitiv um die richtige Handlung weiß, ohne Anstrengung des Willens. Der Intellekt ist suspendiert, der Wanderer handelt ohne geistige Anstrengung wie selbstverständlich an die Situation angepasst. Nicht viel nachzudenken, ergibt das beste Handeln. Im Zustand des Lassens ist es sinnlos Energie in unfruchtbaren Gedanken und Handlungen zu erschöpfen: Ohne Absicht bleibt doch nichts ungefördert; denn man ist nie im Zweifel, was man zu tun hat, rät das Yì Jīng, das Buch der Wandlungen, auch dem Fußreisenden.

Am anderen Ufer des Río Esla, gleich jenseits der Brücke, biegt ein schmaler, steiniger Pfad über die Uferböschung einen Hang hinauf. Noch nicht oben angelangt, verliert sich der Pfad auf der von Steinen und Büschen übersäten Flanke des Hügels. Sträucher bieten mir ihre holzigen Äste an, und helfen mir auf der steilen und pfadlosen Passage den rutschigen Hang hinauf. Die Kuppe des Hügels ist eine von Reifenprofilen zerfurchte, noch immer pfadlose, grasbewachsene Fläche. Nach einem Weg sehe ich mich vergeblich um, aber der Blick auf den durch die Ebene mäandernden Fluss lohnt den Aufstieg. Ich habe schon erwähnt, dass ich mich leicht verlaufe, und dass es mit meiner Orientierung beim Wandern nicht weit her ist. Dazu sitzt mir die Landschaft zu sehr im Gemüt. Das Gefühl durch einen offenen Steineichenwald zu navigieren, sich im Gelände zu verlieren, löst ein mulmiges Gefühl von Unsicherheit aus. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich spontan für eine Richtung zu entscheiden, und einen der beiden Wege den Hügel hinab zunehmen. Irgendwann stoße ich auf Pfeile, die andere Wanderer mit Steinen ausgelegt haben, und wähne mich auf dem richtigen Weg, verwundert, dass mich mein Gefühl nicht getäuscht hat. Den Hügel am Río Esla im Rücken, liegen wieder kilometerlange, schnurgerade Wege vor mir, die sich in der diesigen Ferne auflösen.
Tagelang wandere ich durch das galicische Hinterland: durch enge Täler, über Pässe, meistens zwischen 900 und 1000 Meter hoch, und durch kleine, abgelegene Dörfer, denen allmählich die Bewohner ausgehen. Tagsüber bin ich allein mit mir und der Landschaft, nur selten treffe ich einen meiner Mitpilger vor dem späten Nachmittag. Andere Menschen ohnehin nicht. Trotzdem bin ich mir bewusst, dass immer irgendjemand vor oder hinter mir wandert: You never walk alone!
Landschaft in Galicien ist zweierlei: Bergwald oder Heide, je nachdem, wie hoch ich gerade unterwegs bin. Und je höher ich komme, desto weiter schweift mein Blick über sanft geschwungene Hügelketten, grüne Wellen, in die sich tief eingeschnittene Täler schmiegen. Die Bergkuppen sind weitgehend baumlos, und jetzt, im Frühling, ein Meer aus gelb- und lilablühenden Sträuchern. Weiter unter beginnt irgendwann der Bergwald – Eichen, Kiefern, Kastanien – viele Stämme mit graugrünen Flechten bewachsen, die an ihnen wie zauselige Bärte hängen. Die Pfade schlängeln sich schmal zwischen Bäumen oder in Korridoren, die zwischen Steinmauern verlaufen, die aus grauen, moosbewachsenen Bruchsteinen aufgetürmt sind. Unter den Bäumen herrscht grün-silbriges Licht. Dämmrig, wenn sich die Sonne hinter Wolken verkriecht, leuchtend grün, wenn sie wieder hervorkommt, und ihre Strahlen durch das Blätterdach den Boden sprenkeln. Ein gezähmtes Land sicher, überall vom Eingriff des Menschen gezeichnet, eine Kulturlandschaft, und dennoch schön, mit Einsprengseln von Ursprünglichkeit, die Fantasien wecken, wie das Land einst gewesen sein mag.

Tábara, San Marta de Tera, Olleros de Tera, Mombuey und Asturianos, Stationen auf dem Weg, jede von ihnen mit Erlebnissen und Begegnungen verbunden, die der Erinnerung eine besondere Note verleihen, die in der Einsamkeit des Wanderns unvergesslich bleiben. Die Hospitaleros in Tábara, die meine Kleidung wuschen, abends ihre Gäste mit einem drei Gänge-Menu bewirteten, mit Wein und selbstgemachtem Likör. Im Verlauf des Abends wurden Erinnerungen bestimmend, Erfahrungen geteilt. Mir fielen erstmals die italienischen Männer auf, die junge Frauen anbaggerten. Abends kamen sie in wechselnder Begleitung in den Herbergen an. Nun hat es Anjetzka, eine Polin aus Danzig getroffen, der Antonio nicht mehr von der Seite weicht. Die Hähne balzen auf dem Pilgerweg, und spät am Nachmittag kommen Christiano und Maria an - der nächste Italiener auf Brautschau. Morgens waren wir um sechs auf den Beinen. In der Geselligkeit des Frühstücks und des fröhlichen Aufbruchs am Morgen vergaß ich, eine Spende zu geben. Verärgert beschloss ich, anderswo zu spenden, denn um zurückzugehen, war ich schon zu weit gegangen.
Wieder bin ich bei Sonnenaufgang gestartet. Die Sonne wirft einen roten Schein über die Senke, in der die kommunale Herberge von Tábara liegt. Ein Wolkenband, unter einem Deckel eingeklemmt, den die Sonne etwas angehoben hat. Die Landschaft verändert sich allmählich, die Wege werden kurviger und führen nicht mehr nur geradeaus. Bäume, besonders Eichen, werden weniger. Weißblühende, buschige Zistrosensträucher bedecken den tiefroten Boden, ein kräftiger Kontrast zum Grün der Vegetation. Die Landschaft erinnert an die Ölgemälde niederländischer Meister und die Luft riecht aromatisch nach Thymian und Salbei. Das Land wird hügeliger und es geht bergauf und bergab wie auf einer Achterbahn - nur nicht so rasant. Die Jagd auf die knapper gewordene Ressource Bett hat begonnen. Das Anfangstempo auf dem Camino wird schneller als mir lieb ist. Ich lasse mich anstecken, gehe an meine körperliche Grenze, so lange, bis sich die Vernunft durchgesetzt und ich mich zurückfallen ließ: Nowhere Going Fast!
Unwägbarkeiten akzeptieren, Sicherheiten loslassen, das Vertrauen finden, dass am Ende alles gut ausgeht, das Mantra für eine gelungene Pilgerfahrt. Zu Hause nützliche Eigenschaften, wenn man sie hat, denn dort sind sie schwerer zu erwerben, schon deshalb, weil die Lebensbedingungen zuhause nicht so fordernd sind. Sicherheiten zu erwerben ist im Alltag ein hoher Wert. Wer das ignoriert, den hält man schnell für unvernünftig oder leichtsinnig. Sich abzusichern gilt als Ich-Stärke und Zeichen von Lebenstüchtigkeit. Unterwegs führt dieses Verhalten dazu, den Alltag mit sich herumzuschleppen, und den Flow des Wanderns zu verpassen. Die Resilienz, das Geschenk des Wanderns, das gegen die destruktiven Einflüsse unserer Zivilisation schützt, bleiben ungenutzt.
An den meisten Tagen macht mir das stundenlange Gehen, das Gewicht auf dem Rücken, nichts aus. Doch manche Tage sind anders, sie sind so anstrengend, sodass ich meine, mein Tagesziel nicht zu erreichen. Sie fühlen sich an, als ob ich den ersten Tag auf dem Trail bin. Auf dem Weg nach Santa Marta de Tera komme ich die letzten Kilometer kaum noch vorwärts. Die Muskeln schmerzen, die Füße krampfen und meinen Rucksack würde ich am liebsten abwerfen. Der Weg hat alle Energie aus mir herausgesaugt, meine Füße lösen sich nur schwer vom Boden, die Beine fühlen sich taub an, Leisten und der Rücken schmerzen. Krude, magische Gedanken verfolgen mich: Hat meine Schwäche etwas mit der vergessenen Spende zu tun? Selten geht mir unterwegs die Kraft aus. Wahrscheinlich beruhige ich mich, liegt es am Stress der Bettenjagd vom Vormittag.
Spätnachmittags liege ich der neuen Herberge in Santa Marta de Tera in einem der Betten, die gestern als nicht ausreichend eingeschätzt wurden. Die meisten sind, vereint in ihrer Sorge, in den nächsten Tagen kein Bett zu finden, weitergezogen. Und das ist gut, denn es strengt mich an, tagelang nur mit Italienern, Spaniern und Franzosen zusammen zu sein. Meine Sprachkenntnisse reichen nur für das Nötigste. Der Austausch, nach dem alle lechzen, die tagsüber einsam wandern, fällt mager aus. Abends sind die vierzehn Etagenbetten belegt, und ich bin immer noch der einzige Deutsche. Mein spanischer Pilgerbruder Rafaelo hat es geschafft, vier verrückte Niederländerinnen aus dem Dreibettzimmer zu vertreiben und stattdessen vier Niederländer eingeladen. Am Abend eine angenehme Gesellschaft. Irgendwo gibt es immer ein Bett für mich – warum sollte das morgen anders sein.
Es ist schade, an Santa Marta de Tera achtlos vorüberzugehen, denn der Ort besitzt die älteste erhaltene Jakobusskulptur an den Caminos de Santiago. Eine Statue aus grauem Stein aus dem 12. Jahrhundert, in einer Nische an der Außenwand der Kirche Santa Marta. An ihr ist die Kleidung der Jakobspilger früherer Jahrhunderte gut zu erkennen: Eine Tasche mit der Jakobsmuschel und ein Stab in der rechten Hand des Apostels, dessen linke Hand zum Gruß erhoben ist. Diese Statue ist das Symbol des Camino Sanabrés beziehungsweise des mozarabischen Jakobswegs beworden, das auch der Stempel in meinem Credenzial abbildet. Im Jahr 1993, anlässlich der Gedenkfeier des Jubiläumsjahres, wurden in Spanien Fünf-Peseten-Münzen mit diesem Bild des Apostels auf der Vorderseite geprägt. Ich kann es kaum glauben. Morgens habe ich zwei Stiche am Unterarm. Zuerst denke ich an Mücken, aber als die Stiche im Laufe des Tages immer mehr werden und heftig zu jucken beginnen, verstehe ich es. In der modernen Herberge, mit den gummibezogenen Matratzen, habe ich mir zum dritten Mal Wanzen eingefangen.

In Olleros de Tera gibt es eine besondere Herberge. Der Ort ist nur 15 Kilometer entfernt. Nach meinem Einbruch gestern, ein kurzer Spaziergang. Noch einmal nehme ich mir vor, auf meinen Wanderrhythmus zu achten, mich nicht vom Gruppendruck anstecken zu lassen. Gemeinsam zu wandern ist zwar kurzweilig und interessant, doch das fremdbestimmte Tempo und die vielen Vorgaben, Mutmaßungen und Entscheidungen einer Gruppe haben auch ihren Preis. Physisch und psychisch. Gestern habe ich ihn gezahlt, und heute beschlossen, besser auf mich zu achten, und die Geselligkeit in die Pilgerherbergen zu verschieben.
In La Trucha, der Bar in Olleros de Tera, die auch Pilger beherbergt, rechnet schon mittags niemand mit Pilgern, die bleiben wollen. Ich warte mit einem Milchkaffee vor der Bar. Die Niederländer aus Santa Maria de Tera schauen auf einen Drink vorbei, von denen eine statt Rucksack einen Karren zieht. Um die Hüften trägt sie einen breiten Ledergurt in dessen Schlaufen die Deichsel hängt. Bleiben wollen sie nicht. Wenig später brechen sie nach Rionegro de Puente auf, wo es eine schöne Herberge geben soll. Etwas später kommen Paul und Angela, zwei Koreaner, die in Vancouver leben, zwei Camino-Dinosaurier, die zum siebten Mal auf einem Jakobsweg pilgern. Paul ist 73, Angela 67 Jahre alt, zwei ruhige und freundliche Menschen, die ich gut um mich haben kann. Ihre koreanischen Namen seien für Westler unaussprechlich, erklärt Paul, der eigentlich Chun Sun heißt, sodass sie sich Trailnamen zugelegt haben. Er schärmt von Monica aus San Francisco, die 75 Jahre alt ist, und bereits elf Mal auf dem Camino unterwegs war: ein Dinosauerier bewundert den anderen. Ich finde es eigenartig, sie so anzusprechen, denn alles an ihnen ist so asiatisch. Die Herberge in Olleros de Tera ist ein bescheidenes Hinterzimmer der Bar La Trucha, die von einem älteren Ehepaar betrieben wird. Sechs Feldbetten, eine Mikrowelle und eine Heizung, bei den kühlen Temperaturen ein purer Luxus. Ein paar Stufen führen hinab in einen Hof mit Tischen und Stühlen. Paul und Angela ziehen lange Gesichter, als sie den bescheidenen Standard der Herberge sehen. Wir sind anderes gewohnt, erzählen sie, und vermissen den Luxus einer touristischen Herberge. Doch sie bleiben, nehmen gelassen hin, was sich bietet. An diesem Tag serviert uns die Wirtin ein gutes Essen, dass sie eigens für uns kochte: viel Fleisch und viel Wein. Und auch die Nachmittagssonne im Hof und die fürchterlichen Matratzen haben wir für uns allein. Paul und Angela kommen seit 2012 jedes Jahr nach Santiago de Compostela. Er ist Diabetiker, verrät mir Angela hinter vorgehaltener Hand. Alkohol darf er nicht trinken, und zu Hause hält er sich daran. Auf dem Caminos de Santiago schlägt er einmal im Jahr zu und dieses Mal helfe ich ihm dabei. Gemeinsam leeren wir ein paar Krüge viel zu kalten Rotwein. Ich muss an Christiano denken und seinen lockeren Spruch: No vino, no camino. Tagsüber kann man in Olleros de Tera nur die Zeit totschlagen, aber spät abends wird es lebhafter. Es ist Freitagabend, Disco in der Bar bis vier Uhr morgens. Lautstark dringen Musik und Zigarettenrauch ins Hinterzimmer, während über den Tresen ein Hinweis sagt: Fumar Prohibido! Wahrscheinlich gilt dieser fromme Wunsch nur tagsüber.

Es hängt weitgehend von der Beschaffenheit des Weges ab, wie ich mich unterwegs fühle. Anders als vorgestern gleitet der Weg heute fließend unter meinen Schritten. Es ist ein Vergnügen durch die Welt zu gehen. Ein lauschiger Wald-Wiesen-Weg nach Rionegro de Puente, friedlich und romantisch, viele Kilometer über eine windige Heide bis Mombuey, ohne Windschutz, auf von Rinnen zerfurchten, steinigen Wegen, immer den kalten Wind im Gesicht. Zwei Wege: der eine spielerisch und mühelos, der andere anstrengend und herausfordernd. Nur das Pochen meiner Schuhe auf dem Weg ist zu hören und der Gesang der Vögel. Zwei Kuckucks haben sich zum Duett getroffen. Als der erste plötzlich schweigt, versucht der andere noch eine Zeitlang eine Antwort zu bekommen. Beharrlich schweigt sein Gesangspartner.
Die Sohle eines meiner Schuhe hat sich vor ein paar Tagen teilweise abgelöst. Doch der Schuhladen in Mombuey, auf den ich hoffte, hat samstags geschlossen. War die Herberge in Olleros de Tera bescheiden, ist die kommunale Herberge in Mombuey ein verwahrloster, düsterer und unerfreulicher Raum, in dem die Etagenbetten so eng stehen, dass ich mit dem Rucksack auf dem Rücken nicht zwischen ihnen hindurchkomme. Ich mag mich nicht in der Herberge aufhalten und verbringe den Rest des Samstags in den unterschiedlichen Bars der Stadt. Der Wind von der Heide hat zugelegt. Er weht kälter und kräftiger als meine dünne Kleidung verträgt. Dabei ist der Himmel strahlend blau und trotz der Sonne bläst der böige Wind kalt durch die engen Gassen wie durch einem Windkanal. Fröstelnd sitze ich auf einer Bank vor der Herberge und esse zu Abend als Paul und Angela vorbeikommen. Sie werfen einen Blick hinein und versuchen anderswo ihr Glück. Eine Nacht in einer bescheidenen Unterkunft, sagt Angela, sei erst einmal genug. Morgens habe ich keine neuen Wanzenbisse. Wanzen sind ortstreu, fällt mir ein. Vielleicht hat es auch geholfen, dass mein Schlafsack gestern lange in der Sonne hing und der Wind sie fortgeblasen hat.

Es ist mir noch immer zu kalt. Die Sonne dringt nur gelegentlich durch die dichten Wolkenpakete, die morgens über den Himmel ziehen. Mit Paul und Angela breche ich frierend auf. Ich habe alle meine Kleidung übereinander angezogen, inklusive meiner Schlafgarnitur. Es reicht nicht aus, mich warm zu halten. Die kalten Wanderstöcke saugen mir die letzte Wärme aus ohnehin schon klammen, steifen Fingern. Meine Hände stecken abwechselnd in den Jackentaschen, auf der Suche nach ein wenig Wärme. Nachmittags ist der wärmste Platz der Schlafsack und eine geheizte Bar. Kurz nach sieben sind wir zurück auf dem Camino Sanabrés. Eine unklare Wegmarkierung und wir verlaufen uns. Einige Kilometer auf einer einsamen Landstraße zu viel. Doch wir haben Glück und treffen zwei Spanier, die sich auskennen, und uns die richtige Richtung nach Villameridilla zeigen. Landschaftlich bleibt es schön. Auf schmalen Wegen vorwiegend durch eine Heidelandschaft mit Sträuchern und lockerem Baumbestand, auf und ab, durch kleine Dörfer, die nur ein paar Kilometer auseinanderliegen. Menschenleer, selbst am Sonntag.
Nach Asturianos geht es steil bergauf. Sehr steil, auf einer kiesigen, breiten Piste, mühsam mit einem Schuh mit klaffender Sohle, die ich notdürftig mit einem Stück Klebeband fixiert habe. Viel schnell sitzt mir kleine Steine zwischen den Zehen. Immer wieder muss ich den Schuh ausziehen, um die Störenfriede loszuwerden. Die Herberge in Asturianos bietet eine Überraschung. Nach den letzten, eher schmuddeligen und etwas heruntergekommenen Unterkünften ein kleiner Raum, ein Appendix einer Turnhalle: einfach, aber hell und sauber, mit drei Etagenbetten. Freya und Rita, zwei der nervigen Niederländerinnen aus Santa Marta de Tera, sind schon da. So ist das in Schlafsälen. Außerdem fördern Enge und Unausweichbarkeit die Toleranz für die Unterschiedlichkeit der Menschen. Die beiden Flam*innen aus Antwerpen, Luc und Rita, scheinen verloren gegangen zu sein und Freya ist besorgt, ihnen ist erwas zugestoßen. Doch Irgendwann kommen sie auch an. Sie haben am Ortsausgang von Mombuey denselben falschen Weg genommen wie wir, aber nicht das Glück, einen Führer getroffen zu haben. Spät abends treffen Paul und Angela ein, meine Lieblingspilger, die ich seit Tagen jeden Abend wiedertreffe.

An das Fremde denken viele Menschen nur in ihren Ferien, wenn ihr Alltag sie für wenige Wochen in eine andere Welt entlässt, die nicht sehr verschieden von ihrer eigenen sein darf. Am besten, das Fremde kommt überhaupt nicht vor, und wenn doch, dann auf Abstand, im angenehmen Grusel fremdartiger Gebräuche, in Welten leicht konsumierbarer Exotik und Magie, die einen angenehmen Kitzel wecken wie die Schauergeschichten eines Gothic-Romans, durch den Vampire, Werwölfe und Untote geistern. Urlaub und kulturelle, soziale Distanz sind meist ein und dasselbe. Nur wenige denken an täglich wechselnde Landschaften. Sie träumen von einem Strand aus feinem Sand, an dem sich Wellen brechen, die den Badenden angenehm wiegen, von einer Hotelterrasse mit Blick auf ein majestätisches Bergmassiv, wenn möglich schneebedeckt, von einer geführten Radtour auf markierten Wegen durch die Umgebung oder dem Blick aus dem Korb eines Heißluftballons, in einer Hand das Glas Sekt, während sich die andere an der geflochtenen Reling festhält, den angenehmen Schauer der Höhe genießend. Wichtig ist, es muss bequem sein. Es ist Urlaub, und Urlaub ist die verdiente Unterbrechung der alltäglichen Routine. Doch gerade die Mittel, die sie für ihre Begegnung mit der Kulturlandschaft, in der sie sich befinden, benutzen, verhindern, dass sie tiefer in sie eintauchen, um ihre Andersartigkeit zu entdecken, um sie zu empfinden und zu verstehen. Die Gelegenheit persönlicher Entwicklung, die jeder Aufenthalt in der Fremde bereithält, ist verpasst. Ihre daheim zurückgelassene Kulturlandschaft umgibt sie auch in der Fremde wie ein Gürtel vermeintlicher Ursprünglichkeit, der sie von der Natur der Landschaft abschottet. Das Zeitalter des Ferntourismus mit seinem modernen Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wie möglich mit dieser Fremde bekommt, denn dort findet er nur seine eigenen Erwartungen. So kann er sich auch in der Fremde zu Hause fühlen. Der Tourist ist vom Exotischen seines Ziels fasziniert. Der Wanderer hinterfragt sich in der Bewegung. Er setzt sich kritisch mit sich selbst und seinen Wahrnehmungen auseinander. Man kann auch sagen: Er reflektiert beim Gehen! Während der Tourist sich mit voyeuristischem Blick gedankenlos in der Fremde bewegt und seine Heimat mit sich nimmt, gehört der Wanderer zu keinem Ort. Ein Verständnis für die eigene Kultur, für sich selbst, entsteht erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Es ist unmöglich, sich in sich selbst als Individuum zu erkennen. Dazu braucht es andere Individuen als Gegenüber, als Differenz, die Verschiedenheit der anderen, von denen ich mich unterscheiden und erkennen kann. Ein mitunter gefährliches Unternehmen, denn es verändert das Eigene mit der Gefahr, dass man es nachher nicht mehr wiedererkennt. Jede Wanderung in einer fremden Landschaft birgt diese Gefahr, sich zu verirren, im schlimmsten Fall sich in einer verunsichernden Natur zu verlieren. Kultur und Natur sind in unserer Epoche zu einem Gegensatz geworden, der die vermeintliche Sicherheit der Wohnung mit der Unheimlichkeit des unstrukturierten Außen kontrastiert. Nur auf den ersten Blick ein befremdliches, gar absurdes Bild. Wer will sich schon bewegen, sich verändern, und wozu überhaupt, wenn er sich erst einmal komfortabel eingerichtet hat. Wenn ich bedenke, dass sich mein emotionaler und kognitiver Horizont mit jeder Fußreise erweitert. Meine kulturelle Prägung wirkt wie eine getönte Brille, durch die ich das Eigene im Fremden um mich herum nur verfremdet wahrnehmen kann, gleichgültig, ob es zu meiner eigenen oder zu einer anderen Kultur gehört. Wenn es mir gelingt, wenn mein Mut ausreicht, und ich diese Brille eine Zeitlang abnehme, sie am besten gleich zu Hause lasse, dann gewinne ich die neuen Einsichten, die das Fremde für mich bereithält. Gelingt es mir sogar, mich für dieses Fremde zu öffnen, kann ich mich verändern und als Person wachsen. Auf den Jakobswegen trifft man viele Menschen, doch den wenigsten ist bewusst, dass sie nur aus diesem einzigen Grund unterwegs sind. Es macht keinen Unterschied, ob sie reflektiert wird oder unreflektiert bleibt, eine persönliche Veränderung findet in der Liminalität einer Fußreise immer statt.


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