Mittwoch, 18. Januar 2023

In lichten Höhen


Wer zur Bruderschaft gehört, schreibt Robert Louis Stevenson in sein Südseetagebuch, sucht nicht das Malerische, sondern bestimmte glückliche Stimmungen. Campiello oder Borres? So lautete die Frage gestern. Ich habe mich aus Neugier auf die touristische Atmosphäre am Jakobsweg eingelassen und mich für Campiello entschieden. Ein Ort, der einen Boom erlebt, der von der Konkurrenz um die Pilger profitiert. Wäre ich in Bali statt in Asturien, stände vor beiden Herbergen eine Ganesha-Skulptur. Shivas Sohn, würdigt man ihn auf die rechte Weise, schenkt glücklichen Handel und Wohlstand. Bisher ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, eine Jakobusstatue aus Holz oder Stein in Campiello aufzustellen. Aber das kann noch kommen.

Heute beginnt ein besonderer Tag. Morgens, noch vor dem Frühstück, war der Weg ohne mein Zutun bereits entschieden. Die Erregung, die seit Oviedo in mir spukt, auf tausenddreihundert Meter aufzusteigen, spielt keine Rolle mehr. In mir brennt die Ungeduld, etwas völlig Neues zu erleben. Ich bin zu Fuß noch nie im Leben in diese Höhen gestiegen. Ich bin aufgebrochen, um Dinge zu tun und zu erleben, die meinen urbanen Alltag transzendieren. Lasst uns auf die Reise gehn, singen Witthüser und Westrupp auf meiner Wander- Playlist, andres Land zu suchen, wo Mauern und Zäune schon abgebaut sind, wo Wiesen ohne Kettenspur grünen und wo man ohne Theater stirbt, in anderer Landschaft. Seit Wochen wandere ich durch eine andere Landschaft, und spüre, dass sie mich verändert.
Campiello liegt still und friedlich im Nebel. Es ist früh am Morgen, und in der Dämmerung noch nicht richtig hell. Aus beiden Herbergen strömen in Regenjacken oder Ponchos gehüllte Pilger, farbige Tupfer auf feucht glänzendem Asphalt. Gedämpft glimmen die Scheinwerfer eines Autos, das kurz am Straßenrand anhält. Eine Frau lässt ihre halb gerauchte Zigarette fallen und steigt ein. Sekunden später erlischt die Glut auf dem nassen Asphalt. Hinter mir schiebt sich ein schmaler Streifen Sonne zwischen die Wolken. Durch den Nebel glüht das aufgehende Rot wie Feuer in der Asche. Der kalte Wind, mein ungebetener Gefährte der letzten Tage, erwartet mich bereits. Kaum verlasse ich den Windschatten der wenigen Häuser, zieht er mir erfreut eine Haarsträhne nach der anderen aus meinem Knoten am Hinterkopf. Ich bin so früh am Morgen nicht allein unterwegs. Andere sind zu zweit oder zu dritt. Sechs Wanderer, die sich eng in ihren Regenschutz hüllen, wandern am Straßenrand entlang durch den Nebel nach Borres. Nur manchmal dringt gedämpftes Scheinwerferlicht durch den trüben Dunst. Autos, die ihre Passagiere zu irgendeiner Arbeit in irgendeine Stadt bringen. Nur Pilger und Pendler. Weit und breit ist niemand anderer zu Fuß auf der Straße. Eine achtundsiebzigjährige Mutter mit ihrem Sohn, beide Spanier; drei junge Frauen, noch leichter bekleidet als ich, skandinavische Studentinnen. Es gibt zwei Wege über die Berge nach Berducedo. Die herausfordernde, über dreißig Kilometer lange Passage auf den über tausend Meter hohen Pass der Sierra zur Ruine der mittelalterlichen Pilgerherberge Hospital Fonfaraón. Tausendzweihundert Meter hoch. Wenige Kilometer später erreicht der Weg den noch höheren Puerto del Palo. Der längere, dafür weniger anstrengende Weg führt über einen achthundert Meter hohen Pass nach Pola de Allande, wo es eine Pilgerherberge gibt, in der man übernachten und die Etappe nach Berducedo halbieren kann. Erst am nächsten Tag geht es hinauf zum Puerto del Palo. Noch habe ich mich nicht entschieden. Ich bin gespannt, welchen Weg die alte Dame und ihr Sohn nehmen, frage aber nicht, weil mir die Erregung gefällt, meine Entscheidung in der Schwebe zu halten. Nimmt sie den Weg nach Hospital Fonfaraón, entschließe ich mich, dann folge ich ihr.
Als wir im Gänsemarsch auf dem schmalen, vom letzten Regen noch matschigen Feldweg nach Borres abbiegen, bricht die Sonne durch den Nebel und der Ort erstrahlt mit einem Mal in der Morgensonne. Jemand hat einen Scheinwerfer eingeschaltet, der Borres als Prolog des kommenden Tages ins rechte Licht rückt. Das gestrige Omen geht in Erfüllung. Jemand hat meinen Wunsch erhört und erfüllt ihn jetzt. Je höher ich komme, desto blauer spannt sich ein makelloser Himmel über die Berglandschaft. Ein kräftiges Azurblau, das mit den Stränden des Mittelmeers konkurriert. Tagelang habe ich die Sonne nicht mehr gespürt. Heute Morgen ist sie rechtzeitig zur Stelle. Tagelang bin ich unter einer nassen Wolkendecke gewandert, aus der es ständig nieselte. Endlich wird der Himmel wieder blau und wolkenlos. Jenseits von Borres führt der Weg durch einen kleinen Wald, der sich auf eine hügelige Heide öffnet. Unerwartet stehen wir vor einer großen Infotafel am Scheideweg. Geradeaus schlängelt sich ein schmaler, baumbegrenzter Pfad an Wiesen entlang nach Pola de Allande, links steigt der andere Weg hinauf auf die Heide, hinauf nach Hospital Fonfaraón. Wie oft habe ich in den letzten Tagen über diese Gabelung nachgedacht. Und nun ist es ganz einfach. Ich entscheide nicht einmal selbst, welchen Weg ich nehme, sondern lasse mich von der Gelassenheit einer Spanierin mitreißen, die Jahre älter ist als ich. Die Sonne, die eben verlockend auf Borres schien, hat meine melancholische Regenstimmung in ihrem morgendlichen Feuer verdampft. Ich spüre die Begeisterung, die mir als heißer Strom durch die Adern fließt. Der Weg über Hospital Fonfaraón ist mein heimlicher Favorit. Verwundert frage ich mich, was mich in den letzten Tagen so verstört hat, dieses Zögern, dieses Unbehagen. Die Fremdheit einer Situation, die fehlende Erfahrung, ein Sich-nicht-vorstellen-können. Wir schrecken vor vielen Wundern nur deshalb zurück, weil wir den Blick auf das Fremde scheuen, das wir nicht verstehen und daher fürchten. Die vor mir liegende Höhe von über tausend Metern kann nicht der Grund sein. Die Berge des Baskenlands vor ein paar Wochen waren nicht viel niedriger. Ich bin vom Camino del Norte abgewichen, weil ich wissen will, wie es sich anfühlt, aus noch höherer Warte über die Welt zu blicken. Zuletzt geben das Wetter und die Entschlossenheit einer alten Spanierin den Ausschlag, die mich beschämt, und die still bewundere. Mein Respekt vor dem Alter erreicht eine neue Dimension. Heute ist der perfekte Tag, Hier und Jetzt der richtige Augenblick. Ein besseres Timing gibt es nicht. Es ist trocken. Es ist sonnig und warm. Der Nebel beginnt sich aufzulösen und verspricht eine ausgezeichnete Sicht.

Der Camino Primitivo folgt einer alten römischen Straße hinauf zu Bergwerken, in denen die Römer Erz abbauten. Ich kann nicht wirklich beschreiben, was es mir bedeutet, diesen Tag zu erleben. Tief einzutauchen in ein kulturhistorisches Refugium. Ich bin nicht allein auf dem Weg zum Pass. Die Welt auf dem Gipfel für mich zu haben, fällt wahrscheinlich aus. Während ich aufwärts gehe, werden wir immer mehr. Ich wandere den ganzen Tag in Gesellschaft unterschiedlicher Gruppen, die sich auf dem steilen Anstieg immer wieder weit auseinanderziehen. Doch sie bleiben in Sichtweite, weil die Heide grenzenlos erscheint, und weder Wald noch Ort den Blick beschränken. Meine Kondition hat sich verbessert, denn die letzten Wochen haben viel verändert. Ich gehe leichter und schneller, und spüre meine Füße und das Gewicht auf dem Rücken erst am Nachmittag, wenn der Weg zur nächsten Herberge nicht mehr weit ist. Die meisten der Pilger, mit denen ich auf dem Weg bin, kenne ich aus den Herbergen der letzten Tage. Bianca und ein paar andere vermisse ich. Sie werden die Variante über Pola de Allande genommen haben. Zuerst steigt der Weg weniger steil an, als ich erwartet habe, dafür aber stetig und über lange Distanz. Von Campiello aus sind weitere Höhenmeter auf einem langgestreckten Berggrat zu bewältigen, immer höher aufwärts. Es wird Stunden brauchen, um oben anzukommen. Zeit und Geschwindigkeit sind mir gleichgültig. Ich will sehen, fühlen, erfahren. Mich ganz auf die Landschaft einlassen. Noch ist die Sicht ins Tal vom Nebel getrübt. Doch je höher ich steige, desto weiter kann ich über die Berglandschaft sehen, die sich unter einem tiefblauen Himmel ausdehnt. Über mir ist das Firmament wolkenlos. Unter mir, zwischen den Bergen, deren Gipfel in den weißen Wolken den Inseln eines Archipels gleichen, liegen die engen Täler, wie unter einer aufgeschüttelten Daunendecke. Unter dieser Decke bin ich in den letzten drei Tagen gewandert; frierend und nass. Jetzt stehe ich stolz und schadenfroh weit oben in einer atemberaubenden Landschaft. Mich erfüllt eine heimliche Freude den lästigen Wolken entkommen zu sein. Selbstzufrieden kann ich mich in meiner überlegenen Position an ihnen nicht satt sehen. Ich freue mich über den weiten Blick ins Land und finde plötzlich schön, was mich tagelang behindert und geärgert hat. Von hier oben betrachtet, erinnert mich die wolkengesäumte Berglandschaft an Caspar David Friedrichs romantisches Gemälde vom Wanderer im Nebel. Ich fühle mich wie Friedrichs Wanderer, stehe hoch aufgerichtet und selbstbewusst an einem Abhang und schaue auf eine Landschaft, über die der Nebel ein weißes, wirbelnd dampfendes Meer ausgebreitet hat. Wie auf einer Panoramaleinwand breiten sich grüne Höhenzüge bis in weite Ferne vor mir aus; Höhenzug auf Höhenzug, einer majestätischer als der andere, eingebettet in dieses watteweiße Meer, einer höher als der andere. Staunend schaue ich über sie hinweg, bemüht alle Details der Landschaft aufzusaugen. Meine Perspektive hat sich geändert, und gleichzeitig mein Empfinden. Ich sehe die Berge, durch die ich mich in den letzten Tagen mehr als einmal gequält habe, nicht mehr als Hindernisse, die mich geärgert und gefordert haben. Dieses Bild vor Augen, verstehe ich, dass die Mühe und Anstrengung nur einem Zweck gedient haben: an dieser Stelle zu stehen, umgeben von der Schönheit der asturischen Berglandschaft. Ich berausche mich an den räumlich ausgedehnten Atmosphären der Landschaft, und bin dabei nicht allein. Neben mir stehen andere Pilger an der Bergkante. Staunend fotografieren sie diese Welt, in der Hoffnung, wenigstens etwas von dem mit nach Hause nehmen zu können, was sie begeistert empfinden. Doch eine Fotografie ist zweidimensional und leblos. Sie kann nichts von dem bewahren, was zu spüren und zu fühlen, was kaum zu beschreiben ist. Dieser Augenblick der Schönheit ist der Erinnerung vorbehalten. Ich steige den steinigen, schmalen Pfad immer höher hinauf. An den Rändern ist er ausgefranst und zerrissen, als habe er Mühe, sich am Berg festzuklammern. Die benachbarten Höhen sinken tiefer in die Schluchten hinab, und die Senken rücken enger zusammen. Ein Sprung, am besten mit Siebenmeilenstiefeln wie Peter Schlemihl sie trug, genügt, um hinüberzuspringen. Dann überwinde ich die Baumgrenze, der Pass rückt immer näher. Die Landschaft ändert sich ein weiteres Mal. Ich erinnere mich wieder an den Jaizkibel, denke an Irina und meinen ersten Tag auf dem Camino del Norte. Grasende Herden weiden an den Hängen; Pferde und Kühe. Zwischen ihnen trottet eine Ziegenherde, ohne Leine und Zaun, gemächlich über die Flanke des Bergs. In der Luft hängt der Geruch von Heide, von blühenden Blumen und Kräutern. Ich zerreibe sie zwischen meinen Händen und atme ihren Duft tief in meine Lungen. Fremdes Vogelgezwitscher tschilpt und zwitschert um mich herum. Der Frühling breitet sich in der üppigen Lebensgemeinschaft der asturischen Berge und Täler in alle Richtungen aus. Nordspanien ist ein grünes Land. Fett und saftig, vollgesogen vom Regen, streckt es sich Sonne und Wind entgegen. España Verde, das feuchte Land zwischen Meer und Berg, zwischen Biskaya und kantabrischer Kordillere. Angesichts dieser Kulisse wird mir erneut bewusst: Zuerst musste ich den Regen ertragen, um diese Pracht zu sehen. Südlich der Berge beginnt ein anderes Spanien, trocken und heiß, im Sommer braungebrannt.
Ich wandere weiter auf historischem Boden, so wie ich mir eine Wanderung vorstelle. Jenseits des Weilers La Mortera, vorbei an der Kapelle San Pascual, lasse ich alle Ortschaften hinter mir zurück und beginne den harten Aufstieg in eine einst einsame Bergwelt. Heute Morgen teile ich sie mir mit zahlreichen Pilgern. Die Natur ist gut bevölkert. Von La Paradiella, der ersten der mittelalterlichen Pilgerherbergen in dieser Höhe, stehen nur noch Fragmente des ehemaligen Fundaments; grob behauene Steine, die die Zeit überdauert haben. Kantige, graue Bruchsteine. Gerölle, zu fensterlosen Räumen ohne Mörtel aufeinandergeschichtet, boten den mittelalterlichen Pilgern einst Obdach und Schutz vor den unwirtlichen Elementen. Für mich ist diese Ruine ein schöner Platz innezuhalten, für das erste Picknick, und um meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Fremde Erinnerungen, von früheren Pilgern auf den alten Wegen hinterlassen, mischen sich in meine Gedanken ein. In längst vergangenen Epochen sind sie im Spätherbst oder im Winter in dieser Höhe gepilgert, dem Wetter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Selbst an einem sonnigen Tag wie heute bläst der Wind auf dem Pass kalt und böig. Ich ziehe die Kapuze enger über den Kopf. Das Rauschen des Windes braust in meinen Ohren. Immer wieder muss ich mit dem Gleichgewicht kämpfen, um nicht von dem schmalen Pfad geweht zu werden. Etwas über tausend Meter, bald erreiche ich den Pass. Doch die Steigung hält an. Ich bin noch lange nicht oben. Je höher sich der Weg den Berg hinaufwindet, desto tiefer versinkt die Welt der letzten Tage unter mir. Meine Erinnerung an die Feuchtigkeit und Nässe, von der ich gestern noch dachte, sie verlässt mich nie, versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Die Ruine der Pilgerherberge Hospital Fonfaraón wurde im 13. Jahrhundert gegründet. Sie bildete den zweiten Zufluchtsort für die mittelalterlichen Pilger und liegt zweihundert Meter höher, fast auf dem Pass. Ausgrabungen belegen, dass die Sierra de Fonfaraón bereits in prähistorischer Zeit besiedelt war. Zu Beginn der Pilgerzeit gab es hier ein Dorf, das die Pilgerherberge betrieben hat. Die sanierten und rekonstruierten Gebäudereste auf der Sierra de Fonfaraón lassen den ursprünglichen Zustand einer solchen Unterkunft gut erkennen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, erzählt mir ein spanischer Geistlicher, den ich an der antiken Herberge treffe, wurden in der schon verfallenden Herberge noch immer Pilger versorgt. Damals gehörte die Pilgerherberge Hospital Fonfaraón zu einem Netzwerk von Unterkünften. Sie sorgte für das leibliche Wohl der Pilger, war gleichzeitig eine Krankenstation (hospital) für ihre Gebrechen. Im Hochmittelalter entstanden überall an den Jakobswegen solche Stationen, von privaten Mäzenen und von Klöstern und Kirchen betrieben. Könige, Bischöfe, der regionale Adel oder die Gilden in den Städten gründeten, finanzierten und führten diese speziellen Herbergen, in denen das Gesundheitswesen eine herausragende Rolle spielte. Valparaiso und La Freita sind zwei weitere Herbergen in der Umgebung, Ruinen in unterschiedlichem Erhaltungszustand, teilweise nur ein Stapel Steine, Orte wie megalithische Stätten, wo es lebhaft zuging, als einst hier Pilger verkehrten. Die Ländereien um Fonfaraón und Valparaiso erwarben die Grafen von Peñalba, Montefurado und Cimadevilla de Pola de Allande als Eigentum. Sie stellten die Herbergen, die von angestellten Verwaltern betreut wurden, unter königliche Schirmherrschaft. Öffentliche Herbergen gibt es am Camino de Santiago noch immer überall. Dort werden die Pilger von freiwilligen Hospitaleros, ein Name, der noch immer an die ehemalige Funktion der Herbergen erinnert, gegen eine geringe Spende betreut.
Die Aussicht von hier oben bleibt unbeschreiblich schön. Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt. Wüsste ich es nicht besser, sie könnte unwirklich oder fantastisch sein. Eine Landschaft auf einem anderen Planeten. Inmitten der Großartigkeit dieser Bergwelt fühle ich mich gleichzeitig klein und demütig. Unter der Weite eines blauen Himmels, der Wärme der Sonne auf meiner Haut, blendet meine Wahrnehmung einen Augenblick alles andere aus. Bis eine Gruppe spanischer Pilger die Ruine lärmend für eine Fotosession stürmt, deren Ergebnisse im nächsten Moment auf Facebook oder Instagram gepostet werden. Meine ehrfurchtsvolle Stimmung zerplatzt in tausend Blasen. Ich bin zurück in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts.

Die Gipfel von Puerto de la Mara und Alto de Santa María bleiben langsam hinter mir zurück. Sanft fließt der Bergpfad den Hang hinab auf die Landstraße von Pola de Allande. Einige hundert Meter bleibe ich auf dem Asphalt. Zusammen mit einer anderer Gruppe Pilger, die aus Pola de Allande kommen, biege ich auf den nächsten Bergpfad, der auf die Passhöhe Puerto del Palo mündet. Wieder stehe ich auf einem Gipfel in tausendzweihundert Metern Höhe und schaue hinunter auf eine entrückte Welt. Gefühle von Freude und Weite, Euphorie und innerem Jubel begleiten mich, und machen die Anstrengung unwesentlich. Es ist ein stiller, ganz eigener Dialog, ein fröhliches Lied, das irgendetwas in mir anstimmt, und dessen Melodie in allen Zellen widerhallt. Ein Gefühl von Bewunderung und Ehrfurcht der Größe und Schönheit dieser Welt, ihrer überwältigenden Natur. Göttliche Atmosphären, Gefühle der Weite, des Herrschaftlichen und Majestätischen. In Zeitaltern magischen und mythischen Denkens hat die Konfrontation mit diesen Naturräumen die Existenz von Göttern ins Leben gerufen. Fußreisen, besonders in der spirituell aufgeladenen Atmosphäre des Jakobswegs, öffnen den Zugang zu diesen Gefühlen. In fast mystischen Augenblicken findet der Pilger seine Erfüllung, wenn er aufmerksam nach innen spürt, innehält und nicht allein darauf bedacht ist, so schnell wie möglich ein Ziel zu erreichen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es jemandem anders ergeht. Dazu ist die Kraft der Orte am Weg zu deutlich spürbar. Vom Gipfel des Puerto del Palo führt der Camino Primitivo auf einem unbefestigten Hang, steil und steinig bergab auf die nächste Landstraße. Ein abschüssiger Pfad auf dem Pilger tief unter mir zwischen grünen Sträuchern und auf losem Geröll abwärts kriechen. Unterwegs nach Lago und weiter nach Berducedo. Meine ganze Konzentration ist nötig, um nicht abzurutschen und zu stürzen. Die feierlichen Gefühle, noch vor wenigen Minuten meine ganze Welt, verwehen im feinen Staub unter rutschenden Sohlen. Nur allmählich wird der Bergpfad besser begehbar, überquert eine Heide bis an die Capilla de Montefurado, eine der zahlreichen mittelalterlichen Jakobuskapellen. Montefurado ist ein kleiner Weiler, dessen Häuser aus Bruchsteinen bestehen, und der verlassen wirkt. Wieder scheint mir, ich bin für einen Augenblick vom Weg abgekommen, die nächste kurze Zeitreise in eine ferne Vergangenheit. In das kleine Dorf Lago steigt der Weg noch einmal kurz bergan, steil und steinig auf eine Piste, die oben angekommen gemächlich an einer Bergflanke entlang weitführt. Plötzlich gibt es keine Markierungen mehr, die in den Bergen noch im Überfluss vorhanden waren. Auf dem langen Weg über den Berggrat hat man die muschelgeschmückten Monolithen im Abstand von hundert Metern aufgestellt, als sorge man sich, die Pilger gehen im Nebel oder bei Regen und Schneegestöber verloren, was ich mir gut vorstellen kann. In tieferen Lagen, wo Siedlungen und Straßen häufig sind, überlässt man die Pilger unbesorgter sich selbst. Ich bin die nächste steile Anhöhe hinaufgestiegen, ohne gelbe Pfeile zu finden. Wieder einmal vermute ich, mich verlaufen zu haben. Auch die Pilger, zwischen denen ich mich eben noch aufgehoben fühlte, sind plötzlich verschwunden. Wie so oft bin ich allein auf dem Jakobsweg. In der Hoffnung, dass doch jemand kommt, lege ich mich eine Weile in die Sonne, und entspanne meine müden Muskeln. Aber niemand kommt, und die steinige Steigung will ich nicht zurückgehen. Nur um unten angekommen, festzustellen, dass ich auf dem richtigen Weg bin, und um den Aufstieg erneut in Angriff zu nehmen. Ich ärgere mich über meinen Kleinmut und vertraue darauf, dass mich der Weg nicht zu weit von Berducedo abbringt. In der Ferne schlängelt sich eine Straße durch die Hügel. Zur Not kann ich ein Auto anhalten, und nach Lago trampen. Ein paar Kilometer weiter finde ich eine kleine Steinpyramide am Wegrand. Ein eindeutiges Zeichen, dass Pilger vorbeigekommen sind. Eine halbe Stunde später erreiche ich die Nationalstraße nach Lago und stütze meinen Rucksack auf einem der vertrauten Monolithen ab. Auf einem nass gebliebenen Wiesenpfad unterhalb der Landstraße ist der Ort schnell erreicht. Noch einmal geht es steil hinauf ins Dorf, vorbei an einer Wallfahrtskirche, in die erste Bar des Tages. Die Terrasse der kleinen Bar ist mit Pilgern überfüllt, die bei einem verspäteten Mittagsimbiss sitzen.
Der letzte Abschnitt des Wegs nach Berducedo fällt mir immer schwerer. Steigungen gibt es keine mehr, trotzdem komme ich nur mühsam voran. Ein letztes Highlight des an Superlativen reichen Tages ist ein lichter Pinienwald, dessen hellgrüne Kronen das Sonnenlicht sanft in Streifen schneidet. Aber ich bin zu erschöpft, um das flimmernde Grün zu genießen, und nur noch daran interessiert, anzukommen. Einmal mehr versinke ich im Tunnelblickmodus und wandere beinahe automatisch, bis ich nichts anderes mehr spüre als die Sohlen meiner Füße. Auf einen Punkt weit vor mir ausgerichtet, starre ich auf den Horizont des vorwärtsdrängenden Wegs. Nach über dreißig Kilometern habe ich mein Maximum überschritten. Meine Füße, mein linkes Knie und meine Oberschenkelmuskulatur haben sich gegen mich verbündet. Mehr schwankend als aufrecht gehend, erreiche ich Berducedo und falle, ohne weiter nachzudenken, in die erste Herberge am Ortsrand ein. Kein weiterer Schritt mehr. Ich bin auf neunhundert Höhenmeter abgestiegen. Berducedo liegt mitten in den asturischen Bergen, nordöstlich von Lugo. Es ist wieder kälter geworden, und der Himmel mit einer Ahnung nach Regen bedeckt. Wenn ich zu ihm aufschaue, scheint er mir zuzublinzeln und zu sagen: Heute, das war eine Ausnahme! Nur für dich! Nachdem ich in der Casa Marques eingecheckt habe, stolz auf den nächsten Stempel im Credenzial, strecke ich mich auf ein Etagenbett in dem kleinen Schlafsaal aus. Kurze Zeit später sind alle sieben Betten belegt. Alte Bekannte treffen nacheinander ein, darunter die Spanierin mit ihrem Sohn, die ich unterwegs aus den Augen verloren habe. Ein knappes Lächeln, dann liegt sie auf ihrem Bett und ist schnell eingeschlafen. Bianca, die über Pola de Allande gegangen ist, und dort übernachtet hat, liegt entspannt auf ihrem Bett, als ich eintreffe. Die touristische Herberge Casa Marques, mit Bar und Restaurant, ist nur eine von drei Pilgerunterkünften in Berducedo. Sie alle machen lukrative Geschäfte. Bereits am frühen Abend gibt es keinen Platz mehr in einer der Herbergen, erzählte mir die attraktive Hospitalera beim Abendessen. Für die zu spät angekommenen Pilger organisierte sie Taxi, die sie in andere Herbergen in der Umgebung brachten, in der Hoffnung, dort ein Bett für die Nacht zu bekommen. Es ist immer voller geworden und gut möglich, dass ich auf einer zukünftigen Pilgerautobahn wandere. Die Menschen in den Dörfern bereiten sich auf einen Ansturm vor. Wer den letzten Rest von Authentizität auf dem Camino Primitivo noch erleben will, bricht besser zeitig auf.
Später am Abend, nach zwei Stunden Schlaf, bin ich ausgeruht. Ich habe es getan und es ist vollbracht. Ich bin über die drei Pässe in Berducedo angekommen. Den ganzen Tag in den Bergen unterwegs zu sein, hat mich euphorisch gestimmt. Die Glücksgefühle sorgen für neue Energie. Plötzlich sehe ich die Faszination der Jakobswege und den Glauben an die mysteriöse Aura des Camino de Santiago in einem neuen Licht. Die Reliquien eines Apostels, der um die Jahrtausendwende in Jerusalem gelebt hat, dort enthauptet wurde, und dessen Knochen Jahrhunderte später an der galicischen Küste auftauchten, ist nur ein Aufhänger. Für mich, der täglich diese emotionale Wucht natürlicher Atmosphären spürt, wird historische Faktizität leiblich spürbar. Mich interessiert nicht länger, ob nur ein geschickter Polit-Coup im Kampf gegen die vordringenden Sarazenen den Jakobsweg ins Leben rief, oder es sich inzwischen um den Überlebensversuch einer obsoleten Konfession handelt. Ich überlasse mich den ergreifenden Atmosphären, die der Weg für mich bereithält. Der Apostel im fernen Santiago bildet lediglich einen mysteriösen Kulminationspunkt, der meinen Emotionen eine Richtung und einen Vorwand gibt. Das Außergewöhnliche geschieht nicht auf glatten, gewöhnlichen Wegen, hören wir von Goethe. Viel schöner hat Henning Sußebach diese Stimmung beschrieben: In der Stille, durch die ich nun lief, wurden Jahrhunderte sichtbar, trieb die Zeit wie auf Schollen, vorwärts, rückwärts, ineinander und übereinander, oft überlappte eine Epoche die andere.


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