Du kannst den Weg nicht
gehen, bevor du nicht
zum Weg geworden bist.
Zen-Koan
Gerade geht die Sonne auf, als ich über die Brücke des Río Oya die ich Santo Domingo zu verdanken habe, seine Stadt verlasse. Die sanftfingrige Eos, die Göttin der Morgenröte, hat so früh ihren wunderschönen, zart blassrosa Hauch über den Horizont gebreitet. Ein fast unwirklicher Eindruck, verglichen mit den trüben letzten Tagen.
Der letzte Tag in La Rioja. Irgendwo zwischen Grañon und Redoncilla del Camino erreiche ich die Provinz Burgos. Die Weinfelder sind verschwunden und durch Getreidefelder ersetzt. Ein Hollerbusch am Wegesrand. Die weißen Dolden schweben wie Fallschirme zwischen dem Grün der Blätter. Erinnerungen an einen Mai in der Heimat; an die letzten schönen Tage mit B. in Heiligengrabe. Ob der Name prophetisch ist? Ich habe daran keinen Gedanken verschwendet. Und jetzt? Damals ging etwas zu Ende, in Heiligengrabe. Ich kann so früh aufbrechen, wie ich will. Ich wandere immer in einer Gruppe. Im Gänsemarsch durch ein ebenes Land, und, wie gehabt, mit knirschendem Schritt auf steiniger Piste, während die Steine in alle Richtungen kullern. Stefan hat sein Geheimnis, ganz früh aufzubrechen, um den Andrang auf dem Camino zu vermeiden, wohl nicht nur mir verraten. Wieder herrscht viel zu viel Gedränge auf dem Jakobsweg.
Pilgern: ein touristischer Event? Ein Gepäcktransportdienst - Jacotrans - eine Dienstleistung, die schlecht zum Pilgern passt. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die meinen, Pilgern, dass Leid und Selbstkasteiung, die Trias zur Vergebung aller Sünden, erforderlich ist. Einst wie heute ist der Sündenerlass sicherlich Motiv und Ziel für manche Pilger. Aber wir leben nicht mehr im Mittelalter. Wir vertreten andere Werte und haben ein anderes Verhältnis zu dem, was Sünde ist, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von meinen Mitpilgern so schwer gesündigt hat, dass er sich physisch kasteien muss. Um wie vieles nützlicher ist es, sich während einer Pilgerfahrt mit sich selbst auseinander zu setzen. Selbsterkenntnis und Selbstkasteiung passen nicht zusammen. Was zeichnet den modernen Pilger aus? Wann wird er zum Pilger-Touristen, zum Turigrino, und hört auf, ein Peregrino zu sein?
Eine 164-Betten-Herberge. Vorgestern in Nájera. Trotz eines großen Schlafsaals mit den obligatorischen Etagenbetten, eine sehr luxuriöse Unterkunft. Genug für den Durchreisenden, der nicht bleibt, genug für eine Nacht. Donativo! Für eine Spende. Moderner Standard, kein umgemodeltes Wohnhaus, schmuddelig und in bedrängender Enge, oder eine unpersönliche Turnhalle am Stadtrand, sondern inmitten in der Altstadt, in der Nähe der Kathedrale. Eine kommunale Pilgerherberge mit ehrenamtlich helfenden Frauen, die ein geordnetes Regiment führen, bei dem jede und jeder zu seinem Recht und seinem Bedürfnis kommt. Darauf achten sie genau. Als ich mittags eintreffe, sitzen bereits einige Pilger auf den Bänken vor der Herberge, ihre Rucksäcke ordentlich in einer Reihe an der Hauswand aufgereiht. Mir weist sofort von eine von ihnen einen Platz für meinen Rucksack und meine Nordic-Walking-Stöcke an, denn geöffnet wird erst in ein paar Stunden. Als ich um 16 Uhr zurückkomme, herrscht das übliche Gedränge, was die Hospitalera ungerührt lässt. Sie weiß sofort, wer ich bin, und wann ich eingetroffen bin. Sie nimmt mich am Arm mit nach vorne, wo mein Gepäck steht, und bringt herein zur Rezeption. In Nájera werden alle Regeln befolgt, die einmal normal waren: Betten werden in der Reihenfolge vergeben, in der die Pilger eintreffen, und ihre aufgereihten Rucksäcke lassen daran keinen Zweifel.
Im Eingangsbereich der Pilgerherberge, direkt gegenüber der Rezeption, hängt ein Transparent: Turigrino vs. Peregrino, welches unmissverständlich erklärt, wer ein Pilger, ein Peregrino, und wer ein Pilger-Tourist, oder gar ein Tourist, ein Turigrino ist. Während der Turigrino seinen Koffer oder sein Gepäck transportieren lässt (viaje transportando su malero o equipaje), trägt der Peregrino seinen Rucksack selbst, solange seine Gesundheit ihn nicht daran hindert (carga con su mochila a no se que su salud se su impida). Ein Turigrino bleibt (se aloja), der Peregrino ist willkommen (es acogido). Der Turigrino sucht nach der physischen Welt und nach Freizeitalternativen (busca connocer el mundo fisico y las alternativas de ocio), während der Peregrino, ein individueller Wanderer (errante individual), tagsüber allein unterwegs ist und an der Gemeinschaft teilnimmt (comparte en comunidad). Der Turigrino schützt sich vor den Elementen und vermeidet Schwierigkeiten (se resguarde de los inclemencias del tiempo y evita las dificultades), während der Peregrino Hindernisse als wesentlichen Teil seiner Reise akzeptiert (acepta los obstáculos como parte imprescindible de su viaje). Ein Turigrino hört auf, ernst zu sein, wenn seine Reise endet (deja de serio cuando termina su viaje), doch ein Peregrino wird einer für den Rest seines Lebens sein (o será el resto de su vida). Als ich vor Jahren Paul Theroux kommentierte Reiseerzählungen Das Tao des Reisens las, beeindruckte mich seine Unterscheidung Tourist - Reisender, die ich auf dem Transparent in der Albergue de Peregrinos de Nájera wiederkannte. Der Tourist, schreibt Theroux, ist vom Exotischen seines Ziels fasziniert. Der Pilger-Wanderer, der ein Reisender (viajero) ist, hinterfragt sich in der Bewegung. Er setzt sich kritisch mit sich selbst und seinen Wahrnehmungen auseinander. Man kann auch sagen: Er denkt beim Gehen! Der Tourist bewegt sich mit voyeuristischem Blick gedankenlos in der Fremde. Während der Tourist jemand ist, der gewöhnlich nach einigen Wochen oder Monaten nach Hause drängt, gehört der Reisende zu keinem Ort, und bleibt einer für den Test seines Lebens (será el resto de su vida). Touristen, vermutet Paul Theroux deshalb auch, wissen nicht, wo sie gewesen sind, Reisende wissen nicht, wohin sie fahren.
Die erste Rast Grañon. Die ersten sechs der zwanzig Kilometer des Tages. Ein umgebauter Kleinbus mit Ausschank; was ein Pilger so braucht, wenn er zu nachtschlafender Zeit in die morgendliche Kälte aufbricht. Kein guter Kaffee. Geschmack wie Muckefuck. Klassische Musik, funktional, plätschert aus Lautsprechern, die neben ein paar Lichterketten in den Bäumen hängen. Nach der harten Piste bade ich in Klängen.
Es wird immer heißer auf dem Camino. Es ist, als will die Sonne ihr Versäumnis nachholen und verliert dabei jedes Maß. Es wird nicht erst warm, dann langsam wärmer, nein heute ist es sofort heiß. Ein Sprung vom April in den August - nach deutschen Maßstäben. Auf dem Camino Francés erwarten mich in den nächsten Wochen wohl noch andere Temperaturen. Und es ist erst Anfang Mai. Wohin ist der Frühling so schnell verschwunden.
Der Weg bleibt wie seit Tagen, nein, er perfektioniert sich. Noch mehr Piste, steinig und hart, immer mehr Asphalt, gemischt mit Betonplatten auf der einen oder anderen Etappe. Die Landschaft in der Provinz Burgos, noch langweiliger, weitgehend flach, weit ausschwingende Hügel. Die ursprüngliche Landschaft verschwindet unter Getreidefeldern, gelegentlich von einer gelben Fläche unterbrochen - Raps.
Der Nachmittag ist heiß, das Licht hart und blendend. Der Himmel, der den ganzen Tag blau war, hat sich eine dünne weiße Schicht Wolken wie eine Decke übergezogen. Der Staub und Schweiß sind mit dem Duschwasser abgeflossen. Ich bin aus der Herberge geflohen, weil die Hitze der Wanderung meinen Körper verlassen hatte, und ich fror. Der Temperaturunterschied von draußen und drinnen ist kaum vorstellbar. Er vermittelt mir eine Vorstellung davon, wie heiß es im Sommer sein muss.
Ich sitze auf der Plaza Mayor von Belorado im Schatten, strecke die müden Füße aus, und lasse die Hitze tief in mich eindringen. Wie schön ist es, mich fallen zu lassen und zu spüren, wie ich immer träger werde. Müßiggang nach einer Wanderung, wenn der Körper weiß, dass er genuggetan hat, was kann schöner sein. Über die Plaza flanieren nur Pilger. Auf der Terrasse des Cafés sitzen nur Pilger, während die Spanier sich in der kühlen Bar versammeln, und tun, was sie immer tun, lautstark lamentieren.
Es bleibt morgens kalt, auch wenn gestern Mittag die Sonne vom Himmel brannte. Ein Vorgeschmack auf den Sommer, der heiß und trocken wird. Kaum liegt Belorado hinter mir, hat mich die Piste wieder. Die Carreterra Burgos - Logroño, wenn nicht in Sichtweite, immer in Hörweite. Zuverlässig weist mir das Rauschen die Richtung. Der Camino Francés führt noch immer parallel an der Schnellstraße entlang, über die pausenlos und unerbittlich die LKW donnern, die Spanien mit Gütern versorgen. Ich brauche noch vier Tage bis nach Burgos. Die Fahrzeuge, die ich unentwegt vorbeieilen höre, sind in einer Stunde in der Stadt. Wie gestern strukturieren Dörfer den Weg, sodass ich von Dorf zu Dorf die Etappe in Pausen einteilen kann - Tosantos, Villambistia, Espinosa del Camino, zuletzt Villafranca Montes de Oca. Eine Bank an einem Brunnen, auf dem Platz vor der Kirche gibt es in diesen Ortschaften immer, es sei denn, jemand anderes hat sie schon entdeckt.
Tosantos, eigentlich Todos los Santos, Alle Heiligen, auf halbem Weg zwischen Belorado und Villafranca Montes de Oca, ist mehr ein Weiler als ein Dorf. Doch in der Nachbarschaft wartet eine Überraschung. Zwischen Schnellstraße und Camino Francés schmiegt sich ein Felsenkloster an einen zerklüfteten Hang - die Ermita de Nuestra Señora de la Peña.
Gegenüber, und gut zu sehen, aber vom Jakobsweg unerreichbar, starren mich leere Türen und Fenster ausdruckslos an. Niemand scheint anwesend, den Zugang zu dem Gebäude liegt hinter einem Drahtzaun versperrt. In dem kleinen Glockenturm über dem hölzernen Portal hängen schweigend zwei Glocken. Einen Weg durch das offene Gelände hinüber finde ich nicht. Die Ursprünge der Einsiedelei reichen bis ins 10. Jahrhundert zurück, als Tosantos erstmals in Dokumenten erwähnt wurde. Man nimmt an, dass hier damals Einsiedlern in Nischen in der Felswand lebten. Im 12. Jahrhundert entstand dann das romanische Felsenkloster Unserer Kummervollen Dame (María). Damals fand ein Schafhirte das Bildnis der Virgen de la Peña, das nun als kleines Altarbild in einer Höhlenkapelle im Inneren beherbergt wird. Doch die Ermita ist nicht verlassen, wie höre, und es soll vom Dorf Tosantos aus in nördlicher Richtung einen Fußweg zur Einsiedelei geben. Doch inzwischen bin ich viel zu weit entfernt, da ich nichts von dem Kloster wusste, bis ich es sah. Wie oft bin ich an dem einen oder Ort achtlos vorbeigewandert? Manchmal denke ich, einen Reiseführer dabeizuhaben, wäre nicht schlecht. Doch beim Wandern ist die Entscheidung für das Gewicht ausschlaggebend. Doch ein Felsenkloster mit einer Höhlenkapelle zu besuchen, keine alltägliche Gelegenheit. Die Kapelle wird weiter für religiöse Zwecke genutzt, und ist auch für Besucher zugänglich. Doch ein spontaner Besuch kann vor verschlossenen Türen enden, denn die Kapelle soll meistens geschlossen sein. Öffnungszeiten sind nicht festgelegt und variieren. Doch einmal im Jahr, am ersten Sonntag im August, findet eine Prozession zur Ermita statt, um das Bildnis der Jungfrau zu verehren, ein zentrales religiöses Ereignis und eine Fiesta in Tosantos.
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