Sonntag, 22. Januar 2023

Lucus Augusti, die Römerstadt


Der Camino Primitivo hat sich in Galicien verändert. Besonders die Beschaffenheit der Wege ist spürbar anders geworden. Sie haben zunehmend ihre Natürlichkeit verloren, sind zu breiten, planierten Forstwegen geworden, monotone Pisten, denen die Wanderromantik abhandengekommen ist. Sie sind mehr zu Kultur geworden als Natur geblieben. Ich glaube, es hat einmal andere Wege gegeben, in den vergangenen Jahren, als der Jakobsweg noch kein touristisches Event gewesen ist. Wenn es mir nicht gelingt, in den Atmosphären der Landschaft aufzugehen, lenken die perfekten Wanderwege meine Achtsamkeit für das Wesentliche ab, und stören mein Naturerlebnis. Plötzlich hat sich die Balance von Natur und Kultur verschoben. Gleich jenseits der Puerto del Acebo begann es; eigentlich bereits auf der improvisierten Grenze aus groben Steinen. Die gelbe Muschel hat sich nicht, wie erwartet, um 180 Grad gedreht, doch die Strahlen weisen uneindeutig mal in die eine, mal in die entgegengesetzte Richtung.

Die öffentlichen Pilgerherbergen in Galicien haben strenge Regeln. Häufig schaltet das Licht bereits um 22 Uhr automatisch aus. Am nächsten Morgen wird es um 7 Uhr genauso unbarmherzig wieder eingeschaltet. Plötzlich ist es abends dunkel, dafür im Schlafsaal morgens taghell. Plötzlich fühlt sich mein Tag-Nacht-Rhythmus genormt und fremdbestimmt an. Befürchtet man, der Pilger läuft aus dem Ruder, weil er seine vertraute Lebenswelt, und damit seine Struktur verloren hat? Sollen ihm die Regeln der Herberge den letzten Halt der Zivilgesellschaft anbieten, aus der er ausgetreten ist, als er den Pilgerweg betrat? Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, verhalten sich Pilger routiniert und diszipliniert. Tag für Tag gehen sie eine geplante, definierte Strecke, eine Etappe, von der die meisten morgens bereits wissen, wo sie nachmittags endet. Täglich vollziehen dasselbe Ritual. In ihrem Rucksack tragen sie übersichtlich geordnet alles, was sie jeden Tag benötigen. Außer ihren täglichen Erfahrungen und Begegnungen überlassen sie wenig dem Zufall. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit treffen sie in der Herberge ein, bereiten ihr Bett für die Nacht, waschen die verschmutzte und durchgeschwitzte Kleidung. Manche kochen ihr Essen, andere essen in einem der Restaurants, vorzugsweise eins der opulenten Pilgermenus, die preiswert angeboten werden. Das sind viele Kalorien für den kommenden Wandertag, viel zu viele Kohlehydrate und nie ohne Fleisch, und nur wenige Vitamine. Proteinreich muss es sein, und die meisten denken bei Eiweiß an tierische Nahrung. Am frühen Abend gehen sie zeitig ins Bett. In der Morgendämmerung, noch bevor es hell wird, sind sie schon wieder unterwegs. Mir kommen sie eilig vor, als ob sie nicht schnell genug irgendwo ankommen können. Dabei bietet gerade die stundenlange Wanderung durch die Natur die Gelegenheit zur Entschleunigung. Erst einmal gelernt, bietet sie auch in der hektischen Arbeits- und Lebenswelt eine vorzügliche Technik der Entspannung. Der Pilgeralltag ist streng gerahmt, ein ritualisierter Ablauf, die erste meditative Einstimmung auf das Gehen. Ich glaube zwar nicht, dass Herbergsregeln dazu erforderlich sind, es sei denn, die vorherrschende Pilgermentalität würde sich plötzlich ändern. Wenn das Licht in der Herberge ausgeht, schlafen viele bereits, wird es wieder eingeschaltet, haben die meisten das Haus bereits verlassen. Pilger verbringen ihren Tag mit drei physischen Tätigkeiten: mit gehen, essen und schlafen. Ihre psychische Aktivität, die größere Bandbreite einnimmt, findet im Verborgenen statt, es sei denn, sie kommen sich einander näher. Pilgeralltag: Tag für Tag, bis sie im ersehnten Santiago de Compostela ankommen.
Nur wenige Pilger sind anders. Doch es gibt sie. Anscheinend reagieren sie nicht auf die gleichen Reize, nicht auf den Druck der Gruppe oder der Konvention. Sie bleiben gelassen und folgen entspannt ihrem eigenen Rhythmus, den sie geschmeidig mit der Gruppennorm synchronisieren – wenn ihnen danach der Sinn steht. Sie stehen nicht auf, wenn es irgendwo im dunklen Schlafsaal knistert, und bleiben ruhig, wenn es um sie herum hektisch wird. Sie haben auch keine festen Ziele, die sie am kommenden Tag erreichen wollen. Sie gehen den Weg in ihrer Geschwindigkeit und orientieren sich nicht an äußeren Vorgaben. Morgens ziehen sie sich den Schlafsack noch einmal über den Kopf, wenn die Lichter eingeschaltet werden. Abends sind sie oft die Letzten oder kommen gar nicht an. Niemand weiß, wo sie geblieben sind, wenn der Schlafsaal geschlossen wird. Meistens tauchen sie im Lauf des Tages wieder auf. Diese Pilger wissen es bereits, oder haben es unterwegs auf dem Camino de Santiago gelernt: Regeln gelten nie absolut. Sie gehen ihren Weg antizyklisch, denken in Widersprüchen. Sie wandern zwischen den Konventionen, dem Mainstream, gehen nicht täglich die gleiche Distanz, legen kurze Etappen und lange Pausen ein oder wandern eine lange Etappe ohne Pause, wenn es ihnen gefällt, das Wetter perfekt ist oder ein begehrtes Ziel lockt. Irina aus Moskau, die ich im Baskenland traf, und Bianca, die Deutsch-Ungarin, gehörten dazu. Sie strahlten ein Gefühl von Sorglosigkeit aus, eine Leichtigkeit des Lebens, ein eigentümlich faszinierendes Charisma, das ihre Umgebung emotional veränderte, Wahrnehmungen eine positivere Färbung annahmen. Ich habe mich in ihrer Gesellschaft immer leichter gefühlt, an kaum etwas anderes als an die Gegenwart gedacht.
Auf den Jakobswegen geht niemand allein. Auch der nicht, der allein unterwegs ist. Er ist immer Mitglied einer Gruppe von Pilgern, mit denen er häufig in der gleichen Herberge übernachtet, mit denen er morgens, stimmt die Chemie, gemeinsam aufbricht. Freiwillig oder unfreiwillig. Ob er will oder nicht. Diese Choreografie verfügt über eine gewisse selbstverständliche Fraglosigkeit. Vor und hinter mir wandern andere: Paare, Einzelpilger, unterschiedlich große Gruppen. Tagsüber ändert sich die Reihenfolge ständig; individuelle Geschwindigkeit sowie Häufigkeit und Dauer der Pausen führen wie von selbst dazu. Auch die Anzahl der Kilometer, die jemand täglich geht, spielen eine Rolle. Der eine geht schnell oder macht größere Schritte, die Schritte eines anderen sind kürzer oder er geht langsamer, macht öfter eine Pause oder Siesta in der Mittagshitze. Der Unterschied zwischen den beiden Gestaltverläufen des Gehens besteht sehr oft in einem gelassenen Schreiten oder einem eiligen Vorwärtsstreben. Einer spontan gebildeten Pilgergemeinschaft, Konvoi-Pilgern, entkommt nur, wer antizyklisch wandert. Es ist nicht nötig, darauf zu achten, sich einer Gruppe anzuschließen. Weggemeinschaften bilden sich stets auf Neue, spontan und unreguliert. Es gefällt mir, immer wieder mit neuen Menschen zu wandern, von ihnen zu erfahren und zu lernen. Und zwischendurch immer wieder einsam und allein zu wandern und ganz in der Umgebung aufzugehen, ohne Gespräche und ohne die Ablenkung durch andere Pilger. Eine Organisation ist dazu nicht erforderlich. Es ist auch nicht notwendig, etwas zu tun, um sozial integriert zu sein. Es genügt, ein Pilger zu sein.
Antizyklisches Pilgern eröffnet auf der Pilgerautobahn der Jakobswege die Möglichkeit, dem Gruppendruck und der Konformität zu entkommen. Mir bietet diese Art des Wanderns die Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen, nichts mehr tun zu müssen, einfach nur zu sein und die Sinne zu öffnen. Meditatives Pilgern benötigt eine emotionale Aufmerksamkeit, um ungestört in einen spirituellen Dialog mit der Natur einzutreten, deren geräuschvolle Stille von räumlich ausgedehnten Atmosphären in Feld, Wald und Flur durchzogen ist. Erst die Vereinigung aller Sinne im Moment der Wahrnehmung versetzt sie spürbar in Schwingung. Ein solcher Augenblick ist in Gegenwart einer Pilgergemeinschaft nicht erlebbar. Wenn Menschen zusammenkommen, kommunizieren sie, tauschen sich aus, beziehen sich aufeinander und ihre Umgebung löst sich aus ihrem Bewusstsein. Sie richten ihre Wahrnehmung vom Natürlichen ins Zwischenmenschliche, ins Soziale. Antizyklisches Pilgern fördert die Konzentration auf das wesentlich Eigene, die Begegnung mit den göttlichen Atmosphären der Natur; soweit wir noch dazu in der Lage sind, diese auch wahrzunehmen. Dass wir diese Atmosphären nicht spüren können, bedeutet nicht, dass sie nicht vorhanden sind. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Quantentheorie hat gezeigt, dass nichts nur einen einzigen Zustand besitzt. Die asiatischen Philosophien, vom Christentum unberührt, wussten das schon immer. Ich glaube nicht, dass das spirituelle Pilgern dem freizeitorientierten Wandern überlegen ist. Ich will darauf hinweisen, dass es keine Rolle spielt, auf welche Weise man seinen Weg geht, ihn sich erobert. Es kommt darauf an, überhaupt wieder zu gehen. Für die Gestaltung eines Pilgerwegs bestehen Regeln nur für den, der einer eindimensionalen Ideologie anhängt. Pilgern ist Selbst-Reflexion im Gehen, berührt von den Atmosphären der Landschaft. Fußreisende sind sie beide. Pilger gehen immer wieder im Wanderer auf, während sich Wanderer im Gehen durch die Natur ihrer selbst leiblich bewusster werden. Der Leib pulsiert rhythmisch mit der Umgebung, mit der er, wenn ihn die Euphorie des Gehens erfasst hat, einen Reigen tanzt. Und manchmal sind Pilger auch Touristen.

Als ich morgens aufwache, wirkt das Zimmer ruhig und verlassen. Meine spanischen Mitpilger sind bereits vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Bianca schläft noch, und ich packe meine Sachen draußen vor der Tür, frühstücke die Reste, die gestern Abend übriggeblieben sind, die nicht harmonieren. Ich halte mich an die Regeln der Herbergen, und verlasse um halb acht das Haus. In der Bar nebenan beende ich mein Frühstück mit einem heißen Milchkaffee, der die morgendliche Kühle für einen Moment vertreibt. Durch das große Fenster sehe ich Pilger auf Pilger, eingehüllt in ihre Regencapes, die dem großen gelben Pfeil in den feuchten Morgen folgen. Eine halbe Stunde später verlasse ich Castroverde. Aufgewärmt und satt gehe ich ihnen hinterher, auf die nur acht Kilometer lange Etappe nach Castroverde. Endlich bin ich auf dem Weg nach Lugo. Nach wochenlangem Wandern sehne ich mich nach urbanem Flair, nach den Atmosphären einer Stadt, die mit denen in der Natur nicht vergleichbar sind. Ich bin hungrig auf eine Abwechslung vom Caminoalltag. Eine großflächige Werbung meiner Lieblingsbiersorte Galicia Estrella, Stern von Galicien, verabschiedet mich mit markigen Worten: Caminate, no hay camino, se hace camino al andar . . . Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg ist in dir. Eine erstaunliche Erkenntnis in der Werbung für eine Biersorte, wüsste ich nicht, dass dem Kapitalismus jedes Mittel recht ist. Unwillkürlich muss ich an eine Kurzgeschichte Heinrich Bölls aus dem Jahr 1950 denken. Der Titel zitiert einen Vers des antiken griechischen Dichters Simonides von Keos, der damit an die Gefallenen der Verteidigung der Thermoplyen gegen die Perser erinnert: Wanderer, kommst du nach Sparta / verkünde dorten, du habest / uns hier liegen sehen, / wie das Gesetz es befahl. Die Regeln der Herbergen und die täglichen Routinen des Pilgerns führen zu seltsamen Assoziationen. In Bölls Version wird der Ich-Erzähler auf einer Trage durch sein früheres Gymnasium getragen, das er drei Monate zuvor als Soldat im Zweiten Weltkrieg verlassen hat, und das inzwischen als Notlazarett dient. Dieser Ich-Erzähler gibt all denen eine Stimme, die den Krieg nicht überlebt haben. Böll muss geglaubt haben, dass diese Stimme im Nachkriegsdeutschland sonst nicht gehört worden wäre. Ich habe oft darüber nachgedacht, was die Jakobspilger den Daheimgebliebenen erzählen, und was diese von seinen Erlebnissen hören wollen. Wahrnehmen können, ohne sich selbst zu hinterfragen. Wer noch nie eine wochenlange Fußreise gemacht hat, kann die Bedeutung dieser Erfahrung nicht nachvollziehen. Sie bleibt ihnen äußerlich. Diese immer wieder auftretenden, rauschhaften Endorphinfluten, die die Welt verzaubern, die Momente, in denen alles in Freude versinkt, die Ergriffenheit, die sich heilig anfühlt. Dieses Gefühl, alles ist gut. Kein Schmerz, kein Leid, kein Verlust, keine Trauer dringt durch diesen Filter. Es sind Augenblicke eines Gefühls des Glücks, des Geborgenseins, des fraglosen Einverstandenseins mit dem, was gerade ist. Der euphorische Zustand drängt Vergangenheit und Zukunft an den Rand. Ist es Verdrängung, nicht mehr an seine alltägliche Welt zu denken, die irgendwo da draußen in der Ferne liegt, kaum noch wahrnehmbar? Doch wer kann in unserer Leistungsgesellschaft einfach aufbrechen und für ein paar Wochen auszusteigen? Ich bin dankbar und fühle mich privilegiert für diese Gelegenheit. Die farblich düster gestaltete Bierwerbung dominiert die kleine Plaza jenseits des Zentrums von Castroverde. Einen runden Brunnen schmückt eine Skulptur, eine Gruppe Menschen, die sich eng unter einem Regenschirm drängen, auf den plätschernd das durch die Mittelachse gepumpte Brunnenwasser spritzt. Mich überkommt ein Gefühl des Geborgenseins. Im ersten Moment glaube ich, es beginnt zu regnen, so natürlich wirkt das Geräusch des tropfenden Wassers, und fühle mich beschützt. Ein schönes Bild der Pilgergemeinschaft, denke ich noch, und bin im nächsten Moment vorbei.
Eine kurze Steigung hinauf nach Villabade; die einzige an diesem Tag. Ein halber Ruhetag und ein Waschtag stehen mir bevor. Bis Villabade wandere ich durch einen lockeren Nadelwald, der immer wieder von einer Heide unterbrochen wird. Der Weg ist ginstergesäumt und leuchtet gelb in der Morgensonne. Der Himmel war schon morgens früh wolkenlos blau, und jetzt, kaum eine Stunde später, brennt die Sonne schon wieder so heiß, dass ich nach der kurzen Steigung nass geschwitzt bin.
Villabade ist ein Nest, kaum ein Dorf zu nennen, aber ein Nest, mit erstaunlichem Inhalt: die romanische Kirche Santa Maria de Villabade, deren Größe und architektonische Wucht den Ort erdrücken. Ziel einer anderen Pilgerfahrt. Wie eine Matrone thront der Marienbau mitten im Ort. Die wenigen Häuser, die die einzige Straße säumen, ducken sich in ihrem Schatten. Gegenüber der Kirche hat ein findiger Geschäftsmann einen mobilen Kiosk für die vorbeiziehenden Pilger aufgestellt, umgeben von ein paar Tischen und Stühlen in der Mittagssonne. Der mir freundlich zulächelnde Besitzer bietet alles, was des Pilgers Herz begehrt, nicht nur zu essen und zu trinken, sondern zusätzlich Wanderstäbe und ein ausgeklügeltes Set von Devotionalien. Der Mann, hoch über mir hinter dem Tresen, lässt mich nicht eher gehen, bis ich seinen Stempel im Pass habe. Erst dann kommt er heraus, und öffnet mir die Kirche. Der Hauptaltar ist ein Meisterwerk barocker Holzschnitzkunst, zwei Seitenaltäre mit Marien, die in jeder kitschigen Puppensammlung einen Platz finden würden. Seltsamerweise kann ich in dieser bedeutenden Kirche keine Orgel finden, dafür aber Matamoros Jakobus in seiner Rolle als mordender Maurenschreck. In einer Nische eine schon sehr alte, rötlichbraune Malerei im romanischen Stil, die einen Heiligen darstellt. Nur mit Mühe ist Christopherus an seinem Stab und der gebeugten Haltung zu erkennen, die er mit dem griechischen Atlas gemein hat.
Eine breite Hauptstraße, die das Dorf in zwei Hälften teilt, beginnt vor dem unter Arkaden versteckten Portal der Kirche und führt schnurgerade hinab nach Castroverde. Den Kirchenbau im Rücken, noch ein kurzes Stück die Straße hinunter, und ich stehe in Castroverde vor der modernen Albergue Municipal de Castroverde, der öffentlichen Herberge im Ort. Die ersten Deutschen, die ich noch nicht kenne, haben sich bereits wartend auf den Stufen vor dem Eingang breit gemacht. Es ist halb elf, die Herberge öffnet um ein Uhr. Kleidung waschen, Schuhe pflegen und vergessen, dass samstags die Lebensmittelläden um 14 Uhr schließen. Doch ich habe wieder Glück und bekomme den Proviant für den morgigen Sonntag an einer Tankstelle. Abends lädt mich Bianca zum zweiten Mal zu einem gemischten Salat ein, den wir auf der Terrasse zu einer Flasche Rotwein essen. Morgen breche ich nach Lugo auf.

Ein weiteres Mal führt eine Straße leicht bergan, bis sie schließlich am Ende einer ansteigenden Piste schnell flacher wird. Von dort verläuft der weitere Weg nach Lugo fast eben. Ein unattraktiver, uninteressanter Weg, ohne irgendwelche Besonderheiten. Ich komme durch mehrere Weiler, nur ein paar Häuser inmitten der Leere, in denen Frauen in Hausgärten Kartoffeln und Bohnen gepflanzt haben. Es gibt Maisfelder und Kühe auf den Weiden. Trotz der Nähe zu Lugo, einer doch recht großen Stadt, wirkt die Gegend abgelegen und ärmlich. Wie es aussieht, leben die ansässigen Familien seit Generationen auf ihrem Land. Ohne die Stromleitungen, die ein Gewirr zwischen den Häusern bilden, sieht hier nichts nach 21. Jahrhundert aus. Das Wetter bleibt trübe. Unter der aufgezogenen Bewölkung weht ein kalter Wind. Mein Hemd ist wieder nass vom Schweiß, und ich friere im kühlen Wind. Eine Möglichkeit mein Hemd zu trocknen, gibt es nicht. Nur gelegentlich nutzt die Sonne eine Lücke in der Wolkendecke, nicht lange genug, um mich zu wärmen. Einen Platz, geschützt zu rasten und etwas zu essen, gibt es nicht. Ohne Pause gehe ich weiter und weiter, damit mir wenigstens die Wärme bleibt, die mir das Gehen schenkt. Die Monotonie des Wegs und die fehlende Abwechslung konfrontieren mich störend mit den Missempfindungen meines Körpers, die sich sonst hinter Staunen, Überraschung und Glücksgefühlen verbergen. Ich bemühe mich, meine Gedanken auf die erlebten schönen Erinnerungen der Fußreise zu lenken, um Anstrengung, Schmerzen und Motivationsschwierigkeiten zu kompensieren. Es gibt Momente, da habe ich das Gefühl, mein Fuß klebt am Boden, so mühsam lässt er sich zum nächsten Schritt überreden. Der leicht gewordene Rucksack drückt mir unverständlich schwer auf den Rücken, der plötzlich wieder an Stellen schmerzt, die ich längst hinter mir gelassen hatte. Es beruhigt mich wenig, wenn ich sehe, dass andere, die ich treffe, sich gleichermaßen mühsam vorwärts schleppen. Obwohl ich weiß, dass es auf jeder Wanderung Tage wie diese gibt, fällt es mir schwer gelassen zu bleiben. Der Flow des Gehens gerät in eine Krise, die sich nach zähem Morast anfühlt. Eine eigenartige Verschwörung zwischen dem schwankend gewordenen Rhythmus meiner Schritte und dem viskös gewordenen Boden. Übertragung oder Gegenübertragung? Vielleicht treiben Kobolde, die an meinen Knöcheln hängen, ihren Spaß mit mir. Jeder Weg kommt an ein Ende. Nichts auf dieser Welt dauert ewig. Wir leben unser Leben in aneinandergereihten Phasen, unterschiedlich lang und erfahrungsintensiv. Doch jede von ihnen ist begrenzt.
Am frühen Nachmittag biege ich um eine Wegschleife und stehe unerwartet vor der Skyline von Lugo. Wie A Fonsagrada erhebt sich auch Lugo über mir auf einem Bergkamm. Der erste Blick auf spanische Städte wirkt, nachdem ich den ganzen Tag über Feld- und Waldwege gewandert bin, in einer plötzlich auftauchenden, urbanen Wucht erschreckend hässlich. Oberflächlich und von außen betrachtet, gleicht Lugo einem farbigen Wall von mehrgeschossigen Häusern, die blockweise, mehrere Kilometer aufeinander und nebeneinander gestapelt sind. Bizarr: eine Legostadt. Eine Wand, in der die übereinander liegenden Fensterreihen wie die Schießscharten in einer mittelalterlichen Burganlage wirken. Wüsste ich es nicht besser, ich käme nie auf den Gedanken, mich durch diesen Wall hindurchzuarbeiten. Was ich aber weiß ist, dass diese abschreckenden Fassaden häufig historische Altstädte, Perlen von Architektur, vitaler Atmosphäre und Lebensart, schützend umschließen. Noch einmal fällt der Weg steil hinunter ins Tal, an eine Brücke über einen kleinen Fluss, den Rio Minho, und hinauf in die historische Altstadt. Auf einer Bank am Ufer sitzt Bianca, als ob sie mich erwartet.

Lugo, mit 98 000 Einwohnern, ist nicht irgendeine Stadt. Lugo war eine römische Garnisonsstadt, das antike Lucus Augusti, und ist weltweit die einzige Stadt, die von einer mächtigen, zehn bis fünfzehn Meter hohen und vollständig erhaltenen antiken Stadtmauer umgeben ist, deren Restaurierung in den 1970er Jahren beendet wurde. Durch diese römische Mauer aus dem dritten Jahrhundert führen zehn Tore in die Stadt. Auch die antike Brücke ist römisches Erbe, wenn im Verlauf der Jahrhunderte auch häufig repariert. Zurecht tragen die Mauern von Lugo den Titel eines Weltkulturerbes.
Lugo wurde wahrscheinlich von den gallaecia-keltischen Ethnie der Capori gegründet, das sagt schon der Name der Stadt. In der Interpretatio Romana heißt der keltische Gott des Lichts, des Eids und der Kunst Lugos. Lugh der Leuchtende, der Krieger, lautet sein Name in der keltischen Mythologie Irlands. Lugo ist die älteste Stadtgründung Galiciens, und Ergebnis der expansiven Politik Rom zur Zeit des Kaiser Augustus, um die nordwestliche Provinz der iberischen Halbinsel, Hispania Tarraconensis, zu kontrollieren. Um 13 v.Ch. eroberte der augusteische Senator Paullus Fabius Maximus die Stadt für Rom, um dort eine römische Garnison zu errichten. Zu Ehren von Augustus nannte er sie Lucus Augusti. Die Stadt lag wie heute am Hochufer des Minius, des Río Miño, in einer goldreichen Region, die während der römischen Besatzung extensiv ausgebeutet wurde, an der Straße von Bracara Augusta (Brago) nach Asturien, in etwa der Weg, dem auch der Camino Primitivo folgt. Ob Lucus, Lugh und Lugo etymologisch zusammenhängen ist ungewiss, doch schon in keltischer Zeit war Lugo das politische und militärische Zentrum Gallaecias, zu dem damals der heutige Norden Portugals, Asturien und Leon gehörten. Im fünften Jahrhundert war Lugo noch Bischofssitz, regiert von einer keltischen Oberschicht, verfiel in den folgenden Jahrhunderten jedoch zu wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit, was sich erst durch den zunehmend frequentierten Jakobsweg änderte. Seine moderne Bedeutung als Provinzhauptstadt beginnt im frühen 19. Jahrhundert mit der Gründung der Provinz Lugo als Mitglied der Autonomen Gemeinschaft Galicien. Während des spanischen Bürgerkriegs geriet Lugo 1936 sehr schnell unter die Kontrolle von Frankos nationalistischer Bewegung. In den 1970er Jahren erlebte die Stadt die notwendigen wirtschaftlichen und industriellen Reformen. Doch erst im 20. Jahrhundert entwickelte sich Lugo zu einem bedeutenden, regionalen Dienstleistungszentrum.
Von der Brücke über den Río Miño quert der Camino Primitivo die Straßen und Viertel des modernen Lugo und mündet vor der römischen Stadtmauer, an der Porta de San Pedro, in die dahinter versteckte, historische Altstadt. Zu viert kommen wir ans weit geöffnete Tor des Heiligen Petrus, wo uns der Camino Primitivo ins Zentrum der autofreien Altstadt entlässt, auf eine Fußgängerzone, die geradeaus auf die Kathedrale zustrebt; mitten durch das historische Zentrum von Lugo. Bianca habe ich am Río Miño getroffen, unterwegs treffen wir Luisa und Antonia wieder, zwei Lehrerinnen aus Porto, die zum ersten Mal nach Santiago unterwegs sind. Wir kennen uns alle seit Tagen, haben in denselben Herbergen übernachtet, und sind manchen Kilometer gemeinsam gewandert. Die Pilgerherberge liegt nur eine Gasse weiter, nur ein paar Dutzend Meter vom Stadttor entfernt. Es gibt freie Betten, aber nur für eine Nacht, und da Bianca und ich einige Tage in Lugo bleiben wollen, nicht nur um Renate und Konrad zu treffen, machen wir uns auf den Weg zu einer anderen Herberge, während Luisa und Antonia bleiben, weil sie am nächsten Tag weiterwollen. Gemeinsam schlendern wir durch die stadtmauergeschützte Fußgängerzone, durch eine schmale Schlucht architektonischer Pracht, an der beidseitig, dicht an dicht, Geschäfte unterschiedliche Waren anbieten, auf den Terrassen der Restaurants nur noch wenige Plätze frei sind, die ersten Dienstleistungsbetriebe ihre Türen für den Feierabend schließen, wo sich zahlreiche Fußgänger umeinander drängeln und alle Wege verstopft sind. Nachmittägliche Rush Hour auf Lugos Konsummeile, in der Hauptstadt der gleichnamigen galicischen Provinz. Auf einer großen Plaza, an deren Rand sich Stände mit gebrauchten Büchern aneinanderreihen, und die imposante Catedral de Santá María alle Blicke auf sich zieht, lösen sich die wenigen hundert Meter Fußgängerzone in viele abzweigende Gassen auf, wie ein Strom, dessen majestätische Breite sich in seinem Delta in viele große und kleine Wasserarme aufdröselt. Ich verliere die Orientierung, fühle mich bedrängt und unsicher, und wäre am liebsten woanders, um freier atmen zu können. Aber Bianca ist wenig beeindruckt von dem Getriebe und bringt uns sicher durch die Menge zurück an den Río Miño, der weit unten im Tal fließt. Wir haben die Innenstadt hinter uns gelassen, stehen auf einer Empore über dem Fluss, an den eine breite Treppe hinabführt. Unvermittelt liegt die Innenstadt hinter uns, und der Blick öffnet sich über den Miño bis weit an den Stadtrand, wo es eine andere Herberge geben soll. Schließlich gehen wir zurück, und checken für eine Nacht in der öffentlichen Herberge ein, weil wir für einen Tag weit genug gegangen sind.

Im Inneren der antiken Stadtmauer, die die moderne spanische Stadt beherbergt, die man eigenartigerweise historische Altstadt nennt, steht der Einfachheit gewohnte Pilger unvermittelt einem architektonischen und kunsthistorischen Meisterwerk der Steinmetzkunst gegenüber, dass sich bis jetzt hinter die fünfstöckigen Gebäude der Altstadt geduckt verborgen hielt. Doch sie ist alles andere als unscheinbar und klein, die romanische, römisch-katholische Basilika Catedral de Santá María, das beeindruckendste Bauwerk der Stadt und nach der Santa Basílica Catedral de San Salvador de Oviedo am ganzen Camino Primitivo. Unausweichlich in die Modernität der großen Praza integriert, die sich für das allabendliche Sehen und Gesehenwerden vorbereitet, kommt mir ihre Erhabenheit, ihre Herkunft aus einer anderen Epoche wie ein Fremdkörper vor. Ihr wuchtiges, graues Gemäuer, in dem sich kaum Fenster befinden, kaum eine Rundung, die dem trutzigen Bau etwas Sanftes verleiht, strahlt eine Unzugänglichkeit aus, eine düstere Ausstrahlung, die auch unter dem blauen Abendhimmel nichts von der ernsten, respektheischenden Ausstrahlung einbüßt, die höhere Mächte beanspruchen. Es fällt nicht schwer, mich klein und unbedeutend zu fühlen, und denke an die wenig aufgeklärten Gläubigen früherer Zeiten, die sich gegen die demütigende Ausstrahlung dieser Bauten kaum abgrenzen konnten. Mich fröstelt, und ich habe den Eindruck, die den Platz abschließende Basilika bildet ein Bollwerk gegen die Lebendigkeit und das vorabendliche Treiben auf der Praza Major. Lugos Basilika ist, wie viele andere Kirchen am Jakobsweg, zuletzt die in Villabade, der Mutter Gottes geweiht. In einer besonderen Seitenkapelle verehrt Lugo seine Schutzpatronin Maria als Dame mit den großen Augen (Nuestra Señora de los Ojos Grandes), die weit geöffnet sind und ihre unermessliche Gnade symbolisieren sollen. Eine Kirche gab es an dieser Stelle bereits im Jahr 755. Ihre heutige architektonische Struktur entstand durch das Engagement von Bischof Peter III., der die Kirche im zeitgenössischen Stil erbauen ließ. Nach einer Reihe von Wechselfällen begann Meister Raimundo de Monforte 1129 mit den Bauarbeiten, beendet wurde der romanische Bau erst 1273. Die Hauptfassade, ein Renaissanceentwurf, ist von der Kathedrale von Pamplona inspiriert. Lugos Basilika verfügt über ein selten verliehenes Privileg: das Allerheiligste ist ununterbrochen in einer Monstranz auf dem Hochaltar ausgestellt. Heute kombiniert der Bau eine Mischung verschiedener Stile, die von der Romanik bis zum Neoklassizismus reichen. Der Kirchenbau präsentiert sich als die übliche Hybrid-Architektur spanischer Kirchen. Die Basis der Kathedrale bildet das lateinische Kreuz, fünfundachtzig Meter lang. Das Tonnengewölbe des Hauptschiffs wird von zwei parallelen Gängen eingefasst, an deren Seiten verschiedene gotische Kapellen untergebracht sind. Der Chorumgang, der Altarraum und die Kapellen der Apsiden sind ebenfalls gotisch. Die Sakristei dagegen, die Kapelle der Dame mit den Großen Augen und der Kreuzgang sind Werke des Barocks. An der Decke prangt ein sternenbesetztes Firmament aus drei Archivolten, dekorierte Rundbögen, Christus Pantokrator, der Weltherrscher, sowie eine Abbildung des Letzten Abendmahls.
Doch erst hinter der Kathedrale beginnt die eigentliche Altstadt mit ihren schmalen Gassen, den verbrauchten Hausfassaden auf denen farbige Graffitis ihre politische Botschaft verkünden, durch die Jugendliche mit Hunden stromern und die Alten vor der Haustüre sitzen und palavern, zwischen Kübeln mit blühenden Pflanzen. Versteckte Eckkneipen, aus deren Fenstern Licht und Gesprächsfetzen auf die Gasse branden, versprechen eine heimelige Atmosphäre nach dem hektischen Gedränge jenseits der Kathedrale. Ich fühle mich oft seltsam fremd, wenn ich mich nach tagelanger Wanderung durch abgelegene Gegenden, und daran mangelt es am Camino Primitivo nicht, mich plötzlich mitten im lautstarken Gedränge und hektischen Gewühl einer Menschenmenge wiederfinde. Ich bekomme das Gefühl zu ersticken, und weiß nicht, liegt es an den plötzlich viel zu vielen Menschen oder an einem Unbehagen an der modernen Lebenswelt, deren Schwächen mir immer dann bewusstwerden, wenn ich ihr längere Zeit ausweichen konnte.


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