Wenn es um den Jakobsweg geht,
tut man sowie nie, was man will. Man
mag alle möglichen Vernuftsgründe
ins Feld führen und Pläne aufstellen
- am Ende trägt der Weg den Sieg
davon.
Jean-Christophe Rufin
An Barcelonas Arc de Triompf herrscht morgens vor acht Rush Hour. Die Waggons der Metro nach Barcelona Sants quellen über. Mit Mühe quetsche ich mich zwischen die Fahrgäste, die irgendwo hin zu ihrer tödlichen Routine eilen. Körperkontakt vor dem Frühstück ist nicht mein Fall. Im Bahnhof Sicherheitskontrollen wie am BER-Airport. Nur ohne Körperscan.
Der Schnellzug nach Madrid ist voll besetzt. Außer mir steigen nur ein paar weitere Fahrgäste in Zaragosa aus. Als ich den Bahnhof sehe, bin ich froh, nicht den Nachtbus genommen zu haben. Mitten in der kalten Nacht, von drei bis sechs, auf den Anschlusszug nach Pamplona zu warten, wäre kein Vergnügen geworden. Das Bahnhofsgebäude ist riesig, und trotzdem provinziell, die Umgebung nüchtern. Urban und leer. Ein Casa de Pinchos, keine Cafeteria, keine Bar, kein Kaffee. Als ich ankomme, hat der Zug nach Pamplona noch keinen Bahnsteig. Gelangweiltes Warten.
Dem Regionalzug nach Pamplona fehlen die Fahrgäste. Mein Abteil ist fast leer. Dafür habe ich endlich Raum genug, freie Platzwahl, und muss mich nicht drängeln. Verlassene Landbahnhöfe folgen aufeinander. Casetas, Cabañas de Ebro, Pedrola, Gallur, unmerklich, der Übergang von Catalonia nach Navarra, Cortes de Navarra, Ribaforada, Tudela de Navarra, Castejón de Ebro, Villafranca de Navarra, Marcilla de Navarra, Tafalla, Pamplona / Ituña Estación. Die meisten von ihnen vernachlässigt und altersschwach. Defekte Uhren die irgendwann aufgegeben haben. Die Zeit erstarrt.
Gemächlich gleitet der Zug durch die katalanische Landschaft. Die Fenster sind zur Hälfte mit Graffiti bedeckt. Schwarze, rote und grüne Spitzen, die etwas Scharfes, Stechendes haben. Trotzdem gelangt mein Blick nach draußen. Die Landschaft, die vorüberzieht wie auf einem Schirm, ist trocken. Ein mattes Grün, sandbraun gefleckt. Unter einem bleigrauen Himmel macht das Land einen verschmutzten Eindruck. In der Ferne Hügel, eine Barriere, unüberschaubar. Wie wohl das Land auf der anderen Seite aussieht? Nichts lädt mich zum Wandern ein.
Die Häuser an der Bahnstrecke sind meist eingeschossig, flach, die Fassaden verblasst, schmutzig, ockerfarben, die Dachziegel rot gebrannt. Ein Hauch von Mexiko liegt in der Luft. Es ist, als ob der Zug die Menschen meidet. Gelegentlich Landwirtschaft, das eine oder andere Gewächshaus, schwarze Folientunnel auf Feldern. Einmal ziehen kahle Weinstöcke einen Hang hinauf, während in der Extremadura die Weinstöcke schon Ende April ausschlagen. In der Ferne ein einsamer Berg, in Wald gekleidet, mit spitzem, nacktem Gipfel aus grauem, kantigem Gestein. Auf einem anderen Hügel die Ruine eines Kastells vor der Kulisse eines Steinbruchs. Dazwischen Windparks, ausgedehnte Sonnenkollektorenparks, die auf Felder gepflanzt sind, wo früher Nahrung wuchs. Kein Vieh, keine Herden auf Weiden. Wo sind die Bauern? Vielleicht bevölkern sie die Fabrikhallen neben den Gleisen. Plötzlich ein Rapsfeld, eine gelbgrüne Fläche, die dem Auge guttut. Daneben weitere Reihen schwarze Folie auf trockener, brauner Erde. Eine langweilige Landschaft. Nichts fesselt meinen Blick.
Überall Industrieanlagen, die verschweigen, was produziert wird. Sie verströmen die Aura von Lost Places. Edgelands. Nirgendwo Aktivität auf den Geländen der Industrie, solitäre Fabriken, verstaubte Oasen, Zerrbilder des 20. Jahrhunderts in der leeren Landschaft. Es wundert mich, dass in dieser Monotonie überhaupt Menschen den Zug verlassen. Ich glaube, ich käme nicht auf die Idee. Aus dem Zugfenster wirkt mir die Luft zu staubig. Ich denke an das Intro von Spiel mir das Lied vom Tod, so einsam sind die Bahnsteige. Tudela de Navarra, ein voller Bahnsteig. Plötzlich sind alle Sitze im Waggon besetzt.
Aber ich weiß, ich tue der Landschaft unrecht. An einem anderen Tag wäre es ein anderes Land gewesen. Vielleicht wirkt das Land nur deshalb so verloren, weil ich mich selbst verloren fühle. Der erste Tag einer Reise, die Anreise ist ein Übergang, liminal zwischen Heimat und Fremde.
Je tiefer ich mit dem Zug nordwärts in Navarra eindringe, desto grüner und abwechslungsreicher wird die Landschaft. Es wird hügeliger, ein gewelltes Land. Ginster blüht an den Hängen, am Gleis kontrastiert kilometerweit roter Klatschmohn das kräftig gewordene Grün. Dunkelgraue Wolken hängen regenschwer am Himmel, drohen sich zu entladen. Eine Bogenbrücke überquert bei Andelos (Andión) die Bahngleise. Ein restaurierter römischer Aquädukt - sistema hidráulico romano - des ersten vorchristlichen Jahrhunderts wie ich später im Museo de Navarra erfahre. Der Zug fährt zu schnell, um all die Bögen zu zählen, vielleicht sind es hundert. Sie beginnen niedrig, werden immer höher, um am gegenüberliegenden Ende wieder so niedrig zu werden wie zuvor.
Endlich angekommen. In Pamplona, der baskischen Stadt, der Hemingway seinen ersten Roman Fiesta gewidmet hat, und die Karl der Große 788 plündern ließ. Es waren Basken aus Pamplona, und keine Mauren, denen Karls Nachhut in einem Pass bei Roncevalles zum Opfer fiel. Das Rolandslied erzählt von diesem dramatischen Kampf, der mich immer an die Schlacht bei den Thermopylen erinnert hat, wo der spartanische König Leonidas mit seinen Kriegern tagelang die Stellung hielt, und den Persern hohe Verluste zufügte, bis schließlich alle Spartaner fielen. Hat der Autor des Chanson de geste Herodot gelesen, der von diesen Ereignissen im siebten Buch seiner Historien erzählt, und sein Lied nach diesem Vorbild gestaltet?
Pamplona und Barcelona miteinander zu vergleichen, hieße zu behaupten, ein Wolkenkratzer sei auch nur ein Landhaus. Pamplona ist städtisch, aber kleinstädtisch urban, unaufgeregt, spanisch. Eigentlich baskisch. Die älteste Sprache Europas wird hier gesprochen und überall steht sie geschrieben. Zungenbrecherisch, schwer auszusprechen. Ich bin froh, dass es reicht, Spanisch zu sprechen. Baskisch möchte ich nicht lernen. Am Nachmittag habe ich Mühe meine Unterkunft zu finden. Ich irre durch ein Viertel mit gesichtslosen Hochhäusern hin und her, auf Wegen, die sich labyrinthisch zwischen den Gebäuden hin- und zurückwinden. Alles gleicht sich wie ein Ei dem anderen und mein Blick rutscht an der Uniformität der Fassaden ab.
Pamplona, baskisch Iruña, ist die Hauptstadt der autonomen Gemeinschaft Navarra, baskisch Nafarroa. Navarra im Norden Spaniens ist bilingual, grenzt westlich an das Baskenland, und umfasst den südlich der Pyrenäen gelegenen Teil des historischen Königreichs Navarra südlich der Pyrenäen. Pamplona liegt in einer kleinen Hochebene auf 449 NN am Río Arga, einem Nebenfluss des Aragón, und entspringt in den westlichen Pyrenäen. Die Umgebung der Stadt ist bergig, und das Stadtbild wird von der gut erhaltenen Zitadelle und einer großen Kathedrale geprägt. Zentrum ist die Plaza del Castillo mit engen Gassen, die zum Markt und zum imposanten Rathaus an der Plaza Consistorial führen.
María, meine Gastgeberin ist eine freundliche, ältere Señora, Krankenschwester in Rente, leutselig und gesprächig, deren Tempo mein bisschen Spanisch arg strapaziert. Auf einer umständlichen Führung durch ihre Wohnung erklärt sie mir die Regeln des Zusammenlebens, als käme ich vom Mars und nicht aus Deutschland, wo der Schlüssel auch nach rechts gedreht wird, um eine Tür zu öffnen. Sie kann nicht verstehen, dass ich drei Tage in der Stadt bleiben will, und schüttelt den Kopf über so viel Unvernunft. Pamplona está pequena. No puedo hacer mucho aqui - Pamplona ist klein. Viel kann man hier nicht machen - behauptet sie mit Nachdruck. Aber sie kennt weder mich noch meine Lust am Flanieren.
Doch Pamplona ist eine moderne Stadt, in deren Zwischenräumen die Spuren der Jahrhunderte überdauern. Irre ich mich, kommt es mir nur so vor, dass die großen spanischen Städte, in denen sich Antikes und Modernes so unaufgeregt mischen, fußgängerfreundlicher sind als ihre deutschen Geschwister?
Wenn ich in eine neue Stadt komme, tauche ich tief in ihr Innerstes ein. Ich lasse mich durch die Straßen und Gassen treiben, flaniere zwischen den Passanten umher, schaue mich um, beobachte, frage. Ich suche nach den vielen interessanten Möglichkeiten, den unverhofften Blicken und den spannenden Ereignissen. Wie Baudelaire möchte ich ein Botaniker des Gehsteigs sein, Gärtner des mir Zufallenden, und wie Cees Nooteboom ein Chronist des Vorübergehens. Für mich sind Gehen und Schreiben der gleiche Prozess. Zu Fuß allein unterwegs sein, ohne ein Gespräch zu führen. Der innere Monolog, der sich mitunter wie ein Dialog mit mir selbst gebärdet, führt zu einem unkontrollierten Fluss von Gedanken und Gefühlen. Mir scheint es eine Ewigkeit her zu sein, als ich ein Kind war, von Schule und fremdbestimmtem Lernen weit entfernt, als ich nichts anderes begehrte als das, was sich jeden Moment aus meinem Spiel ergab. Ob darüber hinaus etwas wichtig war, so wie später, als ich mir und meiner Welt immer bewusster wurde? Ich weiß es natürlich nicht, weil ich es damals vielleicht empfinden, aber nicht ausdrücken konnte. Mein Leben muss sich ganz selbstverständlich im Hier und Jetzt bewegt haben.
Am späten Nachmittag habe ich meinen ersten Bummel hinter mir, die nähere Umgebung erkundet, was ich immer, wenn ich irgendwo neu bin, als allererstes tue. Eine Marotte, die mich all die Jahre treu begleitet hat. Damit ich weiß, wo ich bin. Als ob das einen Unterschied macht. Doch so mache es ich mir die Fremde vertraut. Zuerst fällt mir die Tramontana auf, die sich auf einem freien Platz an der Avenida de Bayona gegen den Wind stemmt; nur einige Straßen von Marías Wohnung entfernt. Eine stark stilisierte, weibliche Figur, geschaffen von Joan Abras, ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Sie passt gut ins bergige Pamplona, ist ganz Bewegung, stemmt sich gegen den Wind, der aus den Bergen weht, ihren Körper peitscht und ihre langen Locken verwirbelt. In Bisbal in Gerona hat Abras ein Museum eröffnet, in dem er seine Skulpturen, Gemälde, und Töpferwaren ausstellt. Mucho que hacer por unos días - Für ein paar Tage viel zu tun. So viel nach ein paar Stunden. Ich bin gerade erst angekommen. Meine erste Tortilla ist schon gegessen, mein erstes spanisches Estrella Galicia getrunken. Ich kann meiner Gastgeberin nicht zustimmen. Für mich ist Pamplona gerade richtig. Ich kann hier herrlich flanieren, am Fluss entlang, durch die großen Parks, sogar ein japanischer ist dabei, das Navarra-Museum besuchen und durch die Altstadt mit den historischen Gebäuden spazieren. Immerhin liegt die Stadt am Jakobsweg.
Mit meinem Orientierungssinn ist es heute Morgen wieder einmal nicht weit her. Vielleicht liegt es an dem Schwindel, der mich beim Aufstehen unerwünscht heimsucht. Es gibt keine Erklärung, Schwindel ein multisensorisches Syndrom, eine gestörte Wahrnehmung verschiedener Sinne, verbunden mit dem Verlust der Körpersicherheit im Raum und den damit verbundenen Gleichgewichtsstörungen. Ich denke an Hitchcocks Film Vertigo, vielleicht weil mir der Name gefällt. Er klingt mysteriös und gar nicht nach einem körperlichen Symptom; eher nach einer Erzählung aus einer Mythologie. Aus dem Reich der Toten hieß der Film unpassenderweise als er in die deutschen Kinos kam. D'entre les morts der Titel der Literaturvorlage. Ich weiß auch nicht, wer auf solch absurde Ideen kommt, als wäre das deutsche Filmpublikum früherer Jahre zu dumm gewesen, um mit dem Originaltitel mitzuhalten. Aber der Schwindel vergeht im Gehen, vielleicht nehme ich ihn icht mehr wahr, weil meine Aufmerksamkeit in alle Richtungen schweift. Gehen, die freie Bewegung im Raum und durch die Zeit, ist für vieles die richtige Wahl.
Ich bin geschickt darin, mich zu verlaufen, selbst dann, wenn ich sicher bin, alles richtig gemacht zu haben. Aber Verlaufen bringt Unerwartetes mit sich. Meine räumliche Orientierung, mein Raumsinn lässt manchmal zu wünschen. Das Zusammenspiel meiner Sinne ist heute Morgen gestört. Vielleicht liegt es am Schwindel: Desorientierung. Vertigo. Wissenschaftler schließen daraus, dass der Orientierungssinn nicht angeboren ist, sondern mit sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren zu tun hat, für den spezialisierte Neuronen im Gehirn, Orientierungszellen im erweiterten Hippocampus, verantwortlich sind. Ziellos flaniere ich durch Pamplonas belebte, autofreie Gassen und sauge die lebhafte Stimmung um mich herum auf. Es herrscht nicht der übliche Touristenrummel, den ich aus den spanischen Städten mit langer, wechselvoller Geschichte kenne. Keine Touristen mit umgehängter Kamera, die sich bereits durch Verhalten und Kleidung zu erkennen geben, keine geführten Touristengruppen, kein Guide, der seinen Stab mit Wimpel hochhält, nur gelegentlich ein Pilger, dessen Muschel am Rucksack baumelt.
Die historische Altstadt rund um das Ajuntamiento de Pamplona auf der Plaza de Consistorial und die Catedral de Santa María ist ein Labyrinth enger verkehrsfreier Gassen, durch die sich die Bewohner und Touristen, eng an eng, schieben. Die Calle de la Estafera hinauf, Zentrum der Sanfermines, hinüber auf die Calle de Curia und hinauf zur Kathedrale, wo ich an der Ronda Barbazana raste. Nur eine Ecke weiter geht es durch die Rincón del Caballo Blanco aus den Mauern der Stadt hinaus. Nach der Enge weitet sich der Blick in die Landschaft Navarras und hinunter auf den Fluss und das Portal de Francia, wo die Pilger über die Puente de la Magdalena in die Stadt strömen, wo Santiago, dem der Kopf fehlt auf einem Wegkreuz Wache steht. Auf der Calle del Carmen, vorbei an der Albergue Ibarrola, betreten sie die Altstadt und gehen zur Kathedrale hinauf. Wer in der Albergue Casa Paderborn kein Bett mehr bekam, versucht es in der öffentlichen Pilgerherberge in der Calle Compañia.
Die Plaza de Castillo, der Paseo de Saraseta, wo ich doch keinen Bus finde, und der Parque de la Taconera, wo es beginnt zu regnen. Das Museo Navarra liegt am Rand der Altstadt auf einem Felssporn, wo ein Steilhang zur Arga hinabstürzt. Drinnen megalithische Steinstelen, Krieger, einst aufgestellt in strategischen Höhenlagen, wo sie das ganze Tal überblicken konnten - Estela de Traibuenas y Turbil, der Menhir de Soalar, Eíos, Montañas y Charcas, El mapa de Abauntz (9815 a.C.). Ein filigranes römisches Bodenmosaik, sandfarben, aus einer Villa in Ramalete, im quadratischen Zentrum ein Lorbeerkranz, ein Weinkrater mit Dioskuren und Tauben die Steinchen nur so groß wie Linsen. Wunderschön gestaltete Kapitelle; Szenen aus dem Leben von Hiob, Darstellungen des Phönix, ganze Bestiarien, einst für die Catedral Metropolitana de Santa María de la Asunción von Pamplona hergestellt. Comics, in Stein gemeißelt, so kunstvoll und detailreich, dass ich immer wieder sprachlos bin. Welch ein Künstler, der Stein so bearbeiten konnte, dass seine Ästhetik bis heute zu mir nachhallt. Es sind bildhafte Erzählungen, beeindruckend in Bildsequenzen angeordnet, die eine klare Erzählstruktur besitzen, um biblische Geschichten, Moralbotschaften und alltägliche Szenen ihrem Publikum zu präsentieren, in einer Zeit, als die wenigsten Menschen lesen konnten. Einer von ihnen war Taller del Maestro Esteban, der im 12. Jahrhundert in Pamplona lebte und diese Kunst viel zu sehr unterschätzte Kunst der Romanik schuf. Es ist bekannt, dass Esteban, der Meister der Kathedrale von Santiago, im Jahr 1101 in der Kathedrale von Pamplona arbeitete, dort mit Auszeichnungen überschüttet wurde und eine Schule gründete, die sich in der Skulptur der oben genannten Puerta de Platerías so sehr widerspiegelt, dass die Identifizierung zwischen Esteban, dem Meister der Platerías, und dem zweiten Meister von San Isidoro sicher erscheint (María Elena Gómez Moreno, Mil Joyas del Arte Español, Piezas selectas, Monumentos magistrales: Tomo primero Antigüedad y Edad Media. Barcelona, Instituto Gallach, 1947:126). Sein schönstes Werk hat Meister Esteban der Stadt Santiago de Compostela hinterlassen, zu bewundern an der Kathedrale, die Puerta de las Platerías. Das Portal besteht aus zwei Bögen mit dreifachen Archivolten auf Säulen mit Kapitellen und Schäften mit skulpturaler Verzierung. Das Tympanon stammt zwar vom Meister Mateo, aber die restlichen Skulpturen hat Meister Esteban dem harten Material Granit abgerungen. Sie sind im Hochrelief gefertigt und stellen Apostel, Propheten, Engel und Patriarchen dar, einige aus weißem Marmor und andere aus Granit.
Der Regen macht eine Pause, als ich an der Iglesia San Nicolas ankomme. Die Wolkendecke reißt auf, und rückt für den einen Moment schüchterner Sonnenstrahlen zur Seite. Blau zwischen bauschigem Kumulus. Das Hauptportal von San Nicolas ist geschlossen und am Seiteneingang hält mir eine der vielen Bettlerinnen der Stadt ihre Schale hin. Noch während ich durch die Kirche gehe, auf der Suche nach der Capilla de San Ferním, tritt ein Priester aus der Sakristei und stimmt das Glaubensbekenntnis in Spanisch an. Der Priester betet vor, die wenigen Gläubigen, die alle in die Jahre gekommen sind, wiederholen die heiligen Verse. Ich drücke mich in den Schatten einer der Säulen, und traue mich nicht, in der andächtigen Stimmung meine Suche nach der Reliquie des Patrons der Stadt, San Fermín, fortzusetzen. Es ist die falsche Zeit, verlasse die Kirche und wende mich weltlichen Dingen zu: In der Bodega La Mandarra de la Ramos esse ich ein paar Pinchos und trinke eine Caña, ein frisch gezapftes Bier. Vielleicht komme ich später noch einmal zurück.
Die Plaza de Castillo liegt in der Sonne. Als ich aus der engen, überfüllten Calle de San Nicolás den Platz erreiche, ist dort eine politische Veranstaltung in vollem Gange. Den Pavillon im Zentrum des Platzes belagert eine fröhliche Menschenmenge. Etwas erhöht, im Pavillon, spielen Musikanten zum Tanz auf - Bandoneon, Flöte, Tambourin. Unten auf dem Platz tanzen Mädchen eine Art Squaredance, den ich mit geschlossenen Augen für irisch gehalten hätte. Jede von ihnen hält zwei mit bunten Bändern geschmückt Stöcke in Händen. Im Takt der Musik schlagen sie die Stöcke klickend und klackend aneinander, legen sie kreuzweise auf den Boden und hüpfen geschickt rhythmisch in die Zwischenräume. Gegenüber den Rednern im Pavillon hat sich baskische Folklore aufgereiht: drei Masken auf Ständern, daneben drei Mädchen, die nach Bedarf unter die bodenlosen Röcke der Masken schlüpfen und sie tanzend durchs Publikum tragen. Eine Sonne, eine Mondsichel, und eine Frau mit Bart. Wer mögen sie sein?
Reden in baskischer Sprache prasseln über die Plaza de Castello über das Publikum hinweg, megaphon-verstärkt, von denen ich nichts verstehe. Wenige hören aufmerksam zu, bummeln umher, man trifft Freunde und Bekannte, man quatscht über Dies und Das, während man Seitenblicke nach den Kindern wirft, die die Masken umringen oder durch die Menge toben. Denn die sind imposant, gigantische Maskenköpfe auf den Schultern über farbenfrohen Maskenanzügen, fantastisch, furchterregend. Figuren aus der baskischen Folklore, vermute ich, denn der Frau, die neben mir auf der Bank sitzt, konnte ich nichts entlocken, dass ich irgendwie verstanden hätte. Also bemühe ich meine Fantasie und wage mich in Spekulationen: Gnome, Kobolde und Zwerge. Ähnliche Masken sah ich damals in Ierapetra, der südlichsten Stadt Europas an Kreta Südküste, während eines Karnevalsumzugs, der von Lärm und Feuerwerk nur so sprühte. Auch diese Masken glichen skurrilen Fabelwesen, waren riesengroß und lagen schwer auf den Schultern ihrer schmächtigen Träger.
Teilnehmer trugen rote T-Shirts mit der spanischen und baskischen Parolen: Alarma Gorria!, Roter Alarm!, oder No linea alta tensión! und Autopista elektrikorik ez!, Keine Hochspannungsleitung! und Keine elektrische Autobahn! Und über allem, vor der malerischen Kulisse des Café Iruña, wo Hemingway stets abstieg, wenn er in der Stadt residierte, ein weißes Transparent. In roten Buchstaben heißt es: Natura Ohitura Kultura! - Natur Gewohnheit Kultur! - Pueblos Vivos Frente A Lineas de Alta Tensión! - lebende Dörfer gehen vor Hochspannungsleitungen! Es geht um Natur- und Klimaschutz, und das Ganze in Baskisch, folkloristischen Gewand, fröhlich, ausgelassen und entspannt. Seit 2011 kämpft eine Bürgerbewegung mitdem programmatischen Namen No linea alta tensión / Autopista elektrikorik ez dafür, dass das Hochspannungsleitungsprojekt einer Elektroautobahn zwischen Itsaso (baskische Provinz Gipuzkoa) und Deikaztelu (Autonome Gemeinschaft Navarra) zurückgezogen wird.
Während meiner zweiten Runde durch die Altstadt begann es wieder heftig zu regnen. Eben war der Himmel noch blau und sonnig, dann zerriss ein polternder Donner die nachmitttägliche Fröhlichkeit, und rollte sich sekundenlang über der Altstadt aus. Im Nu goss es in Strömen, und wo gerade noch vor den Bars und Bodegas fröhlich gefeiert wurde, flüchteten die Gäste nach Drinnen. Von der Sonne, in deren Wärme ich eben noch gebadet hatte, war nichts geblieben. Es regnete heftig und ausdauernd, sodass mir nur die Kathedrale Obdach bot, an der ich gerade vorübergehen wollte.
Die Kathedrale in Pamplona ist eine spanische, von denen ich viele gesehen, und nicht noch mehr Bedarf habe. Zumindest nicht heute. Aber es regnet, und es kann nicht schaden, denn spanische Kathedralen sind mehr als eine Kirche. Sie sind Museen und identitätsstiftende Orte. Eigentlich gibt es immer etwas zu sehen. Und so ist es auch dieses Mal. Ein schmiedeeisernes Gitter grenzt den Hochchor als einen besonderen Ritualort von der restlichen Kathedrale ab. Zwei farbige, mit religiösen Szenen bebilderte Fenster filtern blaues Licht in den Raum. Im Zentrum Santa María la Real, Maria, die Königliche, die romanisch inszenierte Göttin, der die Kathedrale gewidmet ist.
Ernst, versonnen, als ob sie ihre Aufmerksamkeit schon seit langem nach innen gerichtet hat, gekrönt mit der Strahlenkrone, in der rechten Hand ein Szepter, links auf ihrem Schoß das Jesuskind. Die Figur sitzt majestätisch in einem ovalen Strahlenkranz, in einem inneren Band die Inschrift: Salva Virgen Pura / Reina Virgen Salva - Heil Reine Jungfrau / Jungfräuliche Königin Heil. Agnostisch wie ich bin, finde ich Madonnen kurioserweise faszinierend, und ich komme, als ich erst einmal in der Kathedrale bin, auch an dieser nicht vorbei. Als Kind war ich fromm, und habe alle Stationen eines katholisch sozialisierten Jungen durchlaufen. Meine Mutter hieß Maria und mein Vater Josef, und wären sie Spanier gewesen, hieße ich sicherlich Jesús. Das mindestens blieb mir erspart. Die Madonna hat sie alle gesehen, und legitimiert, die Könige Navarra, die im Angesicht ihres Konterfeis getauft, gesegnet und gekrönt wurden. Ihr gegenüber das Grabmal von Carlos III., den sie El Noble, den Edlen, nannten, und seiner Frau Leonore. Ihre sandfarben glänzenden Statuen liegen, ihre Hände andächtig gefaltet, auf ihrem Sarkophag, umgeben von Männern, die ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen haben. Als ich die dämmerige Kathedrale, die nur aus den mit glänzendem Inkagold übersäten Kapellen der Seitenschiffe leuchtet, verlasse, und hinaus ins Freie trete, tröpfelt es noch leicht, doch die Sonne ist zurück. Doch das fröhliche Treiben der Menschen in den Gassen hat aufgehört. Der Regen hat die Straßen, die nun nass in der Sonne glänzen, leergefegt.
Doch das nächste Gewitter lässt nicht lange auf sich warten. Ich flüchte in die nächste Bar. Eine linke Kneipe mit Buchladen und Mehrzweckraum (sala polivalente). Und hier treffe ich sie wieder: die Aktivisten der Kundgebung der Plaza del Castillo. Zwei von ihnen spielen das Bandoneon, zwei andere schlagen Tambourins dazu. Barden, die vorsingen, und wer die Lieder kennt, singt sie aus voller Kehle mit. Andere tanzen. Die Stimmung ist fröhlich, enthusiastisch, ausgelassen, das Publikum in Feierlaune. Wieder empfinde ich die Musik irisch. Das Gewitter hat mich an den richtigen Ort gespült. Eine kleine Kneipe in einer Nebenstraße, eine spontane Session, wie ich sie liebe. Pamplona gefällt mir immer besser. Spontan verlängere ich meinen Aufenthalt um ein paar Tage. Es ist noch zu früh, um aufzubrechen. Als ich die Kneipe verlasse, bin ich angeheitert vom Bier und glücklich von der Musik und der Stimmung. Wieder scheint die Sonne.
Als ich auf die Plaza de Castillo komme, haben sich noch mehr Menschen versammelt als gestern. Und wieder Musik und Masken unter einem strahlend blauen Himmel, der jeden Wetterbericht verhöhnt. Eine Señora erklärt mir, dass sich die drei historischen Barrios von Pamplona zu einem Umzug versammelt haben. Eine seltsame Gruppe von sechs Männer und Frauen, in Schaffelle gehüllt, mit Glocken auf dem Rücken, führen den Umzug an. Laut läutend, und in Begleitung einer Kapelle, setzt sich der Zug in Bewegung. Neun über mannshohe Masken, auch ein Bogenschütze und Zyklop sind mit dabei, setzen sich um die eigene Achse drehend in Bewegung. Die Zuschauer folgen dem Zug in die Gassen der Altstadt.
Ich versuche erneut mein Glück, um San Fermín doch noch zu treffen. Und ein zweites Mal gerate ich in eine, dieses Mal vollbesetzte Messe. Ich bleibe bis zuletzt, bis auch der letzte Gläubige die Kapelle verlassen hat. Und dann habe ich den ganzen Raum mit dem Reliquiar für mich allein. San Fermín, der Heilige Firminus der Ältere von Amien, soll im 3. Jahrhundert in Pompaelo, dem heutigen Pamplona, geboren worden sein. Er war der Sohn eines römischen Senators, wurde in Toulouse zum Priester ausgebildet und war der erste Bischof von Amien. Laut seiner Heiligenvita erlitt er dort das Martyrium durch Enthauptung, möglicherweise unter Kaiser Diokletian um das Jahr 303. San Fermín ist der Schutzpatron von Pamplona, Beschützer vor Seuchen und Unheil, und eine der bekanntesten Heiligen Spaniens. Sein Kult ist besonders in der Region Navarra lebendig und eng mit den berühmten Sanfermines-Feierlichkeiten verbunden. Sein Kult gelangte bereits früh nach Navarra, vor allem durch die Verbindung Pamplonas mit Frankreich und Amiens. Im 12. Jahrhundert wurde seine Verehrung intensiviert, als Pamplona ihn offiziell zum Stadtpatron erhob. Dennoch befindet sich seine Hauptreliquie in Amien, während in Pamplona, in der Capilla de San Fermín, die ein Teil der Iglesia San Lorenzo, ein Schädelfragment des Heiligen aufbewahrt wird. Das Reliquiar des Heiligen Fermín ist eine polychromierte Holzskulptur aus dem 15. Jahrhundert, die ihn selbst darstellt, mit Silberverzierungen versehen, darunter ein silberner Mantel und ein silberner Sockel mit vergoldeten Details. Während der jährlichen Sanfermines wird er in einer Prozession durch die Straßen Pamplonas getragen.
Bevor ich aufbreche gehe ich Mittags in die Albergue Casa Paderborn der Jakobusgesellschaft Paderborn, von der ich bereits beim Pilgerstammtisch in Berlin gehört habe. Sie liegt am Ufer der Arga, unmittelbar am Jakobsweg, nicht weit von der dreibogigen Puente de la Magdalena aus dem 12. Jahrhundert entfernt, die ein Wegekreuz mit einer kopflosen Jakobusskulptur bewacht, und dem Portal de Francia, wo der Weg durch die mittelalterliche Stadtmauer in Pamplonas Altstadt mündet.
Sie wird tatsächlich von deutschen Hospitaleros geführt. Als ich den Hospitalero auf Spanisch nach einem Stempel für meinen Credencial, meinen Pilgerpass, frage, der für meine weiteren Übernachtungen in den Pilgerherbergen erforderlich ist, versteht er mich zuerst nicht. Er ist skeptisch, betrachtet mich finster, und murmelt etwas wie nein, und dass es den Stempel nur gibt, wenn ich auch übernachte. Ich erzähle ihm von María, dass ich in Pamplona geblieben bin, weil mir die Stadt so gut gefällt. Das versteht er und lächelt. Er lässt mich vor der Türe warten, will irgendetwas im Inneren klären. Als er wieder auftaucht, hat sich etwas verändert, und er bittet mich freundlich herein. Als ich ihm dann meinen Credencial vorlege, und er sieht, dass ich auch Deutscher bin, taut er vollends auf und wird so leutselig, als ob wir alte Bekannte sind. Das Eis ist gebrochen, und das übliche Caminolatein beginnt. Seinen Stempel will ich unbedingt haben. Mein erster Stempel muss der aus Pamplona sein. Als ich die Herberge verlasse, habe ich meinen ersten Stempel im Credencial. Den der Casa Paderborn, drei im Kreis tanzende Hasen zeigt. Kann ich mir ein schöneres Bild für meinen Aufbruch auf den Camino Francés wünschen.
Ich bin seit sechs Tagen in Pamplona. Morgen früh werde ich auf den Camino Francés aufbrechen; freudig erregt, mit einem mulmigen Gefühl. Zwei widerstrebende Gefühle hausen in mir, und mir gefallen beide. Nun regnet es doch. Schon seit Tagen ziehen dunkelgraue Wolkenpakete mit weißen Rändern über die Stadt. Im nassen Asphalt spiegeln sich die Hausfassaden, doch ich kann nicht erkennen, ob es Wohnungen oder Läden sind. Das Café ist hell erleuchtet. Auf der Straße ist das Licht trübe. Drinnen ist es warm, voll und laut. An den Wänden Spiegel, gerahmte Schwarzweißdrucke aus dem Kaufhaus zeigen, was sich im Raum abspielt. Kaffeetassen, Kaffee der heiß in Tassen fließt, Fragmente von Magazinseiten. Ich bin nicht der einzige Gast, der abwartet, bis der Regen weiterzieht. Die meisten Gäste sind jenseits der Fünfzig, kaffeetrinkend, plaudernd. Männer sitzen allein an Tischen, zeitunglesend. Eine Familie mit Kindern am Nebentisch. Die beiden Mädchen, südamerikanischer Phänotyp, indigen, die Eltern Spanier. Weiter hinten eine zweite Familie. Sechs Tage Pamplona sind viel zu wenig für mich, zu wenig für alles, was ich sehen, erfühlen will. Und doch blieb ich länger als geplant, und bin kurz versucht noch länger zu bleiben. Aber mich zieht es genau hinaus aus der Stadt, um endlich auf den Camino de Santiago zu kommen, der vor den Toren der Stadt nach Westen führt.
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