Freitag, 10. Februar 2023

Auf dem Sternenfeld


An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise
die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen
all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal
angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind.

Cees Noteboom

Alle Wege führen nach Rom, sagt man, doch viele führen auch nach Santiago de Compostela. Jerusalem, Rom und Santiago sind seit Jahrhunderten bevorzugte Ziele christlicher Pilger. Ich kenne inzwischen zwei Jakobswege in Deutschland und sieben weitere auf der iberischen Halbinsel, die strahlenförmig nach Galicien weisen. Marius, der sich selbst einen Caminosammler nennt, kennt noch viele mehr. Jahrelang hat er alle abgewandert, bis keiner mehr übrigblieb. Inzwischen hat er begonnen, sie rückwärtszugehen. Ich habe vergessen, ihn zu fragen, ob er unterwegs Harold Fry getroffen hat. Der fiktive britische Pilger musste zuerst lernen, dass die Herausforderung seines Wegs nicht darin besteht, den Kampf mit seiner körperlichen Leistungsfähigkeit aufzunehmen. Erst als er aufgab, fühlte er sich als Pilger, und begann, die Entfernung nicht mehr in Kilometern, sondern in Erinnerungen zu messen.

Santiago de Compostela. Ich bin angekommen. Campus Stellae, das Sternenfeld, so heißt der Ort in der Legende. Ich habe den Milliarden von Füßen meine eigenen Spuren hinzugefügt; den Weg tiefer in den Boden gedrückt. Wochenlang bin ich Schritt für Schritt einem jahrhundertealten Spurenhorizont gefolgt. Jetzt summieren sich meine Spuren zu den unzähligen bereits vorhandenen. Ich habe die Spur für meinen eigenen Mythos ausgetreten. Der Gedanke, dass sich meine Fußspur mit den zahlreichen anderen der Jahrhunderte mischt, ist eine faszinierende Vorstellung, die mich nicht loslässt. Ich bin nicht der erste auf dem Weg in die Jakobusstadt, und ich bin für weitere Jahrhunderte nicht der letzte. Geologen und Paläontologen sprechen von einem Spurenfossil, und meinen damit die Spur, die ein Lebewesen in der Erde, im Gelände, hinterlassen hat, nicht das Lebewesen selbst. Weggewordene Erinnerungen. Die Wanderer in diesen Spuren sind längst gegangen, ihre Spur nicht. Niemand erinnert sich an sie, keiner kennt ihre Namen, doch die Landschaft hat ihre Spur bewahrt, hat sie verändert, in Jahrhunderten erweitert und ergänzt. Diese Spurenhorizonte gab es lange bevor die Reliquie des Apostels auftauchte: paläolithische Nomaden auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft, Wege von Hirten, die mit ihren Herden vorüberkamen, Händler, die ihre Karren über holprige Wege und durch wegloses Gelände zogen, Briganten auf einem Raubzug oder ein Heer, bereit für die nächste Schlacht. Am Anfang kannte die Jakobus-Pilgerfahrt kein zusammenhängendes Wegenetz nach Santiago de Compostela, nur diese einfachen Wege, alte Wege, oft nicht mehr als ein Trampelpfad, ein Saumpfad, ein dünnes Band, auf dem keine Vegetation mehr wächst. Desire paths, Wunsch-Wege, nennen Paul Farley und Michael Symmons Roberts diese Pfade, Linien aus aufeinanderfolgenden Schritten, dem Boden anvertraut, Gebrauchsspuren, Narben der Landschaft, Abweichungen von der Wildnis, zunehmend sichtbarer, Off Road, neue Bahnen entlang an Flussufern und durch zuvor weglose Wälder. Wenn Alfons II. wirklich der erste Pilger war, dann war er ein Pionier, der einen neuen Weg aus vorhandenen Wegen knüpfte, sie miteinander verband, alte Pfade zu einem neuen Weg arangierte. Er war einer derjenigen, die vorausgingen, die Landschaft neu ordneten und anderen eine alternative Möglichkeit des Erlebens boten, ihnen den Weg wiesen. Auf meiner ersten Pilgerfahrt habe ich meine Spur in Arzúa unterbrochen. Ein Jahr später bin ich in Ourense vom Weg abgekommen und habe mir eine andere Spur nach Santiago gesucht. Niemand konnte mir folgen, weil ich beide Male ein paar Kilometer mit dem Bus gefahren bin und als Fußgänger unsichtbar wurde: von Arzúa nach Lavacolla, von Ourense nach Porto. Obwohl niemand wusste, wohin ich plötzlich verschwand, bin ich jedes Mal angekommen: auf dem Sternenfeld.
Ich bin seit zwei Tagen in der Stadt, und schon ist sie mir zu eng geworden. Die vielen Steine, die hohen Gebäude, die den Himmel aussperren, der Beton, der Asphalt und der endlose Strom der Menschen, die durch die Gassen und Straßen gehen; eilen, schlendern, flanieren. Nirgends gibt es einen Ort der Ruhe. Selbst in den Parks herrscht reges Leben. Ich habe gesehen, was es zu sehen gibt, und frage mich: War das mein Ziel? Bin ich wegen eines Apostels und des Gedränges in der Kathedrale und in den Straßen der Stadt so weit gegangen? Und noch dazu zu Fuß! Wie verrückt! Im Zeitalter der Hypermobilität ist es subversiv, zu Fuß zu gehen, habe ich behauptet. Die Benutzung des eigenen Körpers als Fortbewegungsmittel, gepaart mit der intensiven, leiblichen Berührung durch die Umgebung, die Abwesenheit von gemessener Zeit, entwickelt ein hohes Maß an Sensibilität und affektivem Betroffensein. Wochenlang unterwegs, habe ich nicht an den Apostel und seine Stadt gedacht. Immer nur an den gegenwärtigen Pfad, den Weg oder die Straße. Daran, was hinter der nächsten Biegung zu finden und zu erleben ist. Daran, am Nachmittag anzukommen, etwas zu essen und ein Bett zu finden. Über dieses Ziel hinaus gingen meine Gedanken selten. Immer wieder dachte ich rückwärts, und an das, was mein Leben ausmacht. Immer weiter zu gehen, kein unmittelbares Ziel zu haben, daran erkennt man den Pilger, der ein Suchender ist. Vielleicht gibt es eine Sucht, weiter gehen zu müssen, wenn man mit dem Gedanken aufgebrochen ist, weiter als je zuvor zu gehen. Die Distanz zu Konsum und Technik, das wachsende Selbstvertrauen, die Entspannung, die mich jenseits der Stadt erwartet. Auf mich selbst angewiesen zu sein, die Alternativlosigkeit, wenn es begonnen hat, wenn es keine Fragen über den Sinn meiner Fußreise mehr gibt. Die Zweifel schweigen angesichts der Herausforderung. Die Entscheidungen sind längst getroffen. Ich weiß seit Tagen, dass ich noch nicht angekommen, sondern unterwegs nach Finisterre bin, dorthin, wo ich die Sonne im Meer versinken sehen kann. Dann gibt es zwischen mir und dem Horizonts nichts mehr als die Wellen des Atlantiks. Mein Weg endet dort, wo es keinen Weg mehr gibt, den ich weitegehen kann.

In der Herberge das abendliche Ritual: duschen und umziehen, Gepäck verstauen, Bett beziehen; gelegentlich ein Waschtag. Währenddessen gehen hunderte Pilger an der Herberge vorbei, auf den letzten Metern kräftig ausschreitend, die Türme der Catedral de Santiago de Compostela vor Augen, die sie magisch anzieht. Es braucht seine Zeit, bis ich mich in das touristische Getriebe wage, das ich vor der Kathedralkirche erwarte. Ich zögere, aufzubrechen, mich einzureihen. Ich spüre ein Ungleichgewicht, das die vorüberziehenden Massen in mir auslösen. Schließlich habe ich mich durch flanierende Touristen und Pilger, die sich nicht sehr voneinander unterscheiden, vorbei an zahlreichen Souvernirshops, auf die Praza do Obradoiro vor die Kathedrale vorgearbeitet. Welche Enttäuschung nach den langen Wochen der Erwartung und Vorstellung, wie es wohl sein wird, auf dem Sternenfeld zu stehen. Die Westfassade der Kathedrale ist eingerüstet und mit einer blauen Plastikfolie verhängt. Die Treppe hinauf nicht begehbar und die Pórtico de la Gloria verschlossen. Nur wer die Kathedrale durch dieses Portal betreten und die erforderlichen, abschließenden Rituale der Pilgerfahrt vollzogen hat, kann meine Enttäuschung verstehen. Ein Jahr später, als ich über die Vía de la Plata und den Caminho Português nach Santiago kam, hing diese abscheuliche Plane noch immer die Westfassade herab. Als ich auf den Camino de Santiago aufbrach, nahm ich den Wunsch mit auf den Weg, noch einmal, wie in den 1970ern dort oben zu stehen, mich auf die Brüstung lehnen und auf die Plaza Obradoiro hinabzuschauen. Doch meine Frustration geht nicht tief. Es war nicht die Kathedrale, vielleicht nicht einmal der Apostel, die mich auf den Weg brachten. Der Sinn meiner Fußreise liegt in der Reise selbst. Dies ist mir unterwegs oft bewusst geworden, sodass ich mich nun wundere, über etwas enttäuscht zu sein, das ich gar nicht erwartet habe. Es sind die Sedimente einer glücklichen Erinnerung, die nostalgischen Gefühle intensiven, doch vergangenen Erlebens, die uns unerwartet ergreift, wenn wir am wenigsten mit ihr rechnen.
Ich bin zu spät, und die tägliche Pilgermesse hat bereits begonnen. Die Kathedrale ist bis in die Eingänge gefüllt. Ich will mich nicht zwischen die Türsteher ins Innere drängeln und gehe stattdessen ins Pilgerbüro, um mir die Compostela abzuholen, ein weltliches Ritual, dass den Abschluss einer Pilgerfahrt bestätigt. Die frühen Pilger kamen mit einer Jakobsmuschel zurück in die Heimat, das Zeichen, dass sie das Apostelgrab erreicht hatten. Muscheln sind leicht zu fälschen, und seit dem 13. Jahrhundert stellte die Kathedralverwaltung Dokumente als echten Nachweis über die abgeschlossene Pilgerfahrt aus. Im 16. Jahrhundert stifteten die Katholischen Könige, Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón, die Reyes Católicos, ein Königliches Hospital an der Praza do Obradoiro in dem die Pilger, die im Besitz einer Compostela waren, drei Tage übernachten durften und das Privileg medizinischer Versorgung genossen. Seitt 1954 ist das Hospital eins der stattlich geführten Parador-Hotels, das täglich einer begrenzten Anzahl Pilger gegen Vorlage der Compostela ein kostenloses Essen bietet, welches ihnen in den hinteren Räumen serviert wird. Durch die wachsende Zahl der Pilger stellt das Pilgerbüro inzwischen nur noch den Pilgern eine Compostela aus, deren Pilgerausweis, dem Credenzial, eine ausreichende Anzahl von Stempeln ausweist.
Der Text der Compostela ist in Latein abgefasst, auch der Name des Pilgers wird lateinisch transkribiert. Die Übersetztung lautet: Das Kapitel dieser segenspendenden Apostel- und Metropolitankirche von Compostela, Hüter des Siegels des Altares des seligen Apostels Jakobus, macht entsprechend seiner Absicht, allen Gläubigen und Pilgern, die aus der ganzen Welt aus frommer Neigung oder zur Erfüllung eines Gelübdes an der Schwelle unseres Apostels, des Patrons und Schutzherren der spanischen Lande, des heiligen Jakobus, zusammenkommen, eine gültige Urkunde zur Bestätigung ihres Besuches auszustellen, hiermit allen und jeden, die in die vorliegende Urkunde Einblick nehmen werden, bekannt, dass der [Name des Pilger] dieses hochehrwürdige Gotteshaus aus Frömmigkeit ehrerbietig besucht hat. Zur Beglaubigung dessen überreiche ich [ihm / ihr] diese vorliegende Urkunde, versehen mit dem Siegel der genannten heiligen Kirche. Ausgestellt in Compostela den [Tag / Jahr] des Herrn. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nach den vielen Tagen meiner Fußreise einen Beleg brauche. Ein Leistungszertifikat nach allem, was ich erlebt und bewältigt habe, nach hunderten Kilometern. Trotzdem fühlt es sich gut an, die Compostela nach einer langen Wartezeit in der Schlange vor dem Pilgerbüro in der Hand zu halten. Wenigsten als Souvenir.
Nach den vielen Wochen einsamen Wanderns fühle ich mich in Santiago hineingeworfen wie ein Rastafari in sein tägliches Babylon. Geschäftig inszenieren sich Kirche, Kommerz und Konsum rund um die Kathedrale. Der Tanz um das goldene Kalb Jakobus. Anders kann ich es nicht sehen. Vielleicht urteile ich versöhnlicher, wenn ich etwas Abstand habe. Ich habe einen Traum geträumt, bin in der Realität angekommen, und muss mein Leben neu beginnen. Ich bin angekommen, wohin ich wochenlang unterwegs war. Nun weiß ich nicht mehr, was ich davon halten soll. Soll ich glücklich sein, soll ich mich freuen, soll ich traurig sein, dass es zu Ende ist? Ich bin den ganzen Weg von Irún aus gegangen, mit allen Glücksmomenten, unvergesslichen Erlebnissen, der intensiven Konfrontation mit der Natur, im Guten und im Schlechten. Ich bin Menschen aus der ganzen Welt begegnet, Schwierigkeiten und Herausforderungen, Krisen und Abbruchgedanken als ich krank oder zu allein war. Natürlich bin ich glücklich, und mehr noch, zufrieden. Ich bin dankbar, bin gesund und gekräftigt angekommen, was nicht selbstverständlich ist. Das alles ist nun: Es war einmal ...! Ich stehe auf dem Sternenfeld, dem Campus Stellae, im Gedränge, in der Hektik, zwischen Shop und Bar, inmitten von hunderten anderen Pilgern und Touristen. Sehen und gesehen werden, flanieren im Kostüm. Kaufen und konsumieren. Alles wirkt inszeniert, unecht, darauf angelegt, einen Massenbetrieb zu bewältigen und aufrechtzuerhalten. Religiös oder kommerziell. Alles geschieht in Masse. Ich treffe niemanden, den ich kenne, finde niemanden meiner Mitpilger im Gedränge wieder. Das Individuelle des Wegs verlöscht auf der Plara do Obradoira. Der Pilgerhype der Stadt hat alle meine Bekannten verschluckt. Vor lauter Menschen sehe ich die Menschen nicht mehr. Ich bin überfordert, und freue mich plötzlich auf den Abschied. Übermorgen gehe ich weiter. Einen Tag will ich noch warten, ob nicht doch noch jemand ankommt, den ich kenne.

In Spanien hat der Kult um die Verehrung des Heiligen und Märtyrers Jakobus, Sohn des Zebedäus und verehrter Missionar, eine lange Tradition, die innig mit der islamischen Eroberung und der spanischen Reconquista verbunden ist. In der Heiligenverehrung der Westgoten besaß Jakobus eine besondere Rolle, die später auf die asturischen Könige überging. Die Hymne O Dei Verbum von 785 bezeichnet den Apostel als leuchtendes, goldenes Haupt Hispanias. Die Entdeckung der Gebeine des Heiligen führte in Europa zu seiner Identifizierung mit Karl dem Großen, der eine vergleichbare Heilswirkung für das neu entstehende Heilige Römische Reich Deutscher Nation besaß. Eine populäre Legende des Mittelalters, entstanden um 1135, erzählt, dass Karl der Große nach Santiago de Compostela gepilgert ist. Mit Hilfe seines Vasallen Roland befreite er das Grab des Apostels von den Mauren. Schon unmittelbar nach der Entdeckung des Jakobus-Grabs verbreitete sich die Neuigkeit durch religiöse Schriften, besonders den Martyrologies von Floro und Adonis. Die Existenz der Grabeskirche in der Nähe von Padrón und der entstehende Heiligenkult war vor dem Jahr 1000 in Europa bekannt. Seit dem 11. Jahrhundert fanden Pilgerfahrten nach Galicien ein immer breiteres Echo, sodass ein internationales Netz von Jakobswegen entstand. Entlang dieser Wege entwickelte sich eine soziale und religiöse Infrastruktur, die für die materiellen und metaphysischen Bedürfnisse der Pilger sorgte. Ein gutes Beispiel für die vielen Organisationen, die sich der Pilger annahmen, ist die 1315 in Paris gegründete Confrèrie de Saint-Jaques sowie die zahlreichen Hospitales in Spanien.
Die mit der Entdeckung des Grabes einsetzenden Wallfahrten führten im Lauf der Geschichte zur Gründung von Kirchen, Kapellen und Hospitälern. Viele dieser Bauwerke sind Ruinen oder inzwischen verschwunden. Andere blieben erhalten, haben ihren Sitz im Leben bewahrt und trugen zu einer zunehmenden Intensivierung des Pilgertums bei. Pilger spielten außerdem eine zentrale Rolle in den Kriegen gegen die islamischen Besatzer. Die Pilgerbewegung inspirierte und motivierte die christlichen Herrscher, die militärisch aufrüsteten, um die territorialen Eroberungen der Mauren rückgängig zu machen. Heiligenverehrung gehörte einst zu den zentralen Stützen der katholischen Kirche. Im Umfeld der weit verbreiteten Kulte von Aposteln und Märtyrern gewann die Jakobus-Reliquie, als von höchster Stelle erklärte, körperliche Hinterlassenschaft eines der engsten Vertrauten von Jesus, schnell eine besondere Bedeutung. Das mittelalterliche Interesse an den Kulten der Verehrung von Reliquienschreinen förderte seit dem neunten Jahrhundert auch die Pilgerfahrt in den äußersten Nordwesten Spaniens, ans Ende der Welt, wohin die Gebeine des Jakobus, so will es die Legende, von seinen Anhängern gebracht wurden. Die Verbreitung spanischer Kultur und Religiosität auf alle fünf Kontinente erklärt die weltweite Verbreitung des Jakobuskults. Viele koloniale Gründungen der Spanier und Portugiesen wurden von den Siedlern unter den Schutz des Heiligen Jakobus gestellt. Die religiöse Inbrunst, mit der die mittelalterlichen Spanier die Mauren unter dem Schutz des Heiligen, in seiner Rolle als Maurentöter, besiegten, brachten sie bei der Kolonialisierung der Neuen Welt ab 1492 mit nach Nord- und Südamerika. Die Konquistadoren und Missionare identifizierten sich mit der Rolle des Ritters St. Jakobus bei ihren Eroberungen. Der Genozid an den indigenen Bevölkerungen Mittel- und Südamerikas geschah mit dem Schlachtruf Santiago auf den Lippen der Soldateska von Hernán Cortez und Francisco Pizarro. Die vielen Ortschaften sowie die Feste dieses Heiligen in Südamerika, die Santiago im Namen führen, erinnern lebhaft an diese Zeit.

Abends sitze ich in einem Straßencafé im Schatten unter Arkaden, und trinke ein Glas Rotwein. Der Wirt spendiert Oliven und fettiges Gebäck. Churros, traditionelles spanisches Fast Food. Ich habe einen freien Tag in der Pilger- und Touristenstadt, und weiß nichts damit anzufangen. Der Rummel paralysiert mich, und meine Gedanken und Gefühle trudeln haltlos umher. Ziellos flaniere ich durch die historische Altstadt, schaue mich um, beobachte das Treiben um mich herum. Die Architektur, die Kunst und das antike Flair der Stadt. Ich laufe durch enge, verwinkelte Gassen, verstopft wie in einer Fußgängerzone Samstagmittags, in denen Restaurants unter Arkaden vom Bummel hungrige Gäste bewirten. Ich dränge mich dazzwischen, sauge mich voll mit Urbanität wie ein trockener Schwamm, und suche, ich weiß nicht was. Ich flüchte mich in eine der zahllosen Bars oder Cafés, einmal unter Touristen, ein anderes Mal unter Einheimische, in Oasen kurzer Ruhephasen, dann in einen Park unter den Schatten alter Bäume oder auf eine Mauer, wenn es nichts anderes gibt, um auszuweichen. Es ist heiß zwischen den Steinen und dem Asphalt, wohin sich keine Brise verirrt. Das Thermometer zeigt dreißig Grad. Pilger aus aller Welt zu beobachten entwickelt sich zu einer kurzweiligen Beschäftigung, so bunt und schräge wie sie auftritt, die Pilgergemeinschaft. Meistens kommen sie zu zweit oder allein vorbei, seltener in Gruppe. Die Touristen und die organisiert reisenden Pilger sind dagegen langweilig. Plötzlich strömt eine Busladung über Sechzigjähriger aus einer der Gassen hervor, wuselt herum, belagert alles und ist schnell wieder verschwunden, nur um der nächsten Gruppe Platz zu machen. Schüler streifen durch die Menge und wählen einzelne für einen Foto-Workshop aus. Ein paar Stunden ziehe ich mich ins Pilgermuseum zurück. Eine professionell gemachte Ausstellung. Sehr informativ und einfühlsam. Vieles was ich sehe, war in den vergangenen Wochen mein Leben. Die Stadt selbst ist ein einziges Museum, die Kathedrale ein Höhepunkt sakraler Kunst jeder Stilepoche. Der Hochaltar ein barocker Traum in Gold. Ich habe viel gesehen, aber nichts Vergleichbares wie diese kompromisslose Prachtentfaltung. Mitten im barocken, goldenen Prunk thront, hoch über dem Altar, wo in den meisten Kirchen die Dreifaltigkeit oder der Gekreuzigte zu sehen sind, eine lebensgroße Jakobusstatue. Über und über vergoldet. So entfaltet sich religiöser Personenkult, verschwenderische Prachtentfaltung heiliger Vermittler, gegen die Luther vehement, doch vergeblich, gewettert hat. Der Mensch braucht das Sakrale, dass über ihn hinauswächst wie die Luft zum Atmen, und die Anrufung von Vermittlern zum Göttlichen ist so alt wie die Menschheit. Die einzige Möglichkeit ihm näher zu kommen, besteht darin, sich in die Schlange derjenigen einzureihen, die ihn umarmen wollen. Ein Schild mit der Aufschrift Embrace The Apostel weist mir den Weg. Ich habe mich in die lange Schlange gestellt, habe Bianca wiedergetroffen und gerne umarmt. Dann bin ich die wenigen Stufen hinaufgestiegen, bis nach oben auf die Empore, wo ich hinter des Apostels Rücken stehe. Ich habe dem Apostel den Arm um die Schulter gelegt, vertraulich, wie einem alten Kumpel, und mir etwas von ihm gewünscht. Von ihm, dem Vermittler zwischen meiner Welt und dem Übernatürlichen, und es kam mir nicht einmal seltsam vor. Was, das verrate ich nicht, weiß ich doch nicht, ob er es mir übel nimmt wie die Feen in den keltischen Märchen. Welche Widersprüche, und alles zur gleichen Zeit. Unter dem Altar, in einem schmalen Raum, steht hinter einem Gitter ein silberner Schrein: die Reliquie. In einem Sarkophag liegen die angeblich im neunten Jahrhundert in der Nähe des modernen Padrón gefundenen Knochen des Apostels.

Eine Reliquie ist eine Hinterlassenschaft, der Übernatürliches zugetraut wird. Ein irdischer Überrest, ein Körperteil oder Teil des persönlichen Besitzes eines Heiligen, Gegenstand kultischer Verehrung. Die goldene Jakobusstatue in der Kathedrale stellt so etwas wie eine Berührungsreliquie dar, obwohl nichts an ihr mit den Apostel in Berührung gekommen ist. Seine Überreste, wenn es denn seine sind, liegen unter ihm in dem reich dekorierten Sarg, für niemanden zugänglich. Berühren nicht möglich, und wenn, dann sicherlich verboten. So fällt der Analogiezauber, oder wie die Ethnologen sagen, die sympathetische Magie, die Vorstellung allein durch Berührung an den Kräften des Heiligen zu partizipieren, ins Wasser. Trotzdem treibt es die Pilger die Treppe hinauf in die Arme des Apostels.
Die besondere Verehrung der Märtyrer entwickelte sich schon sehr früh, und ist in der Apostelgeschichte belegt. Seine Anhänger nahmen Paulus seine Kleidung fort, und legten diese auf ihre Kranken, um sie zu heilen. Wer von den vielen Pilgern weiß schon, wie viele Kirchen über den Gräbern dieser heiligen Männer und Frauen errichtet wurden? Im Mittelalter ging man dazu über, wie in der Kathedrale in Santiago, Reliquien unter dem Altar zu deponieren. Seit dem zweiten Jahrhundert ist die Reliquienverehrung des Christentums, die in der klassischen Antike als unrein galt, die älteste Form der Heiligenverehrung. Der Kirchenvater Johannes von Damaskus behauptete, dass Heilige keine Toten und ihre Reliquien heilsam seien. Als Beweis zählt er eine Reihe von Wundern auf, die durch solche Hinterlassenschaften gewirkt wurden. Alle großen Kathedralen des Mittelalters verdanken ihre Entstehung und ihren Ruhm hochverehrter Reliquien: etwa die Heiligen Drei Könige im Kölner Dom. Luthers Reformation geißelte diese Volksfrömmigkeit als Aberglauben und räumte radikal mit diesem Brauch auf. Es war Martin Luther selbst, der 1546 in der Frauenkirche zu Halle eine flammende Predigt gegen den Reliquienkram hielt, das Pilgern ächtete und einen Bildersturm entfesselte, dem zahlreiche Reliquien und Heiligtümer zum Opfer fielen. Geringschätzig sprach er von den Knochen eines Hundes, die in der Kathedtale von Santiago verehrt würden, ohne sich selbst überzeugt zu haben. Wir Heutigen wissen um die Macht des Placebo-Effekts. Zur gleichen Zeit empfahl das Konzil von Trient im Jahre 1563 ausdrücklich die Reliquienverehrung, die daraufhin in den in katholischen Gebieten wiederauflebte.
Ich bin zu Besuch bei einer männlichen Fee. Ein heidnisches Ritual inmitten höchst lebendiger Frömmigkeit. Angesteckt von so viel glauben wollen, finde ich mich schließlich in der überfüllten Pilgermesse wieder, die jeden Nachmittag in der Kathedrale zelebriert wird. Wieder bin ich zu spät gekommen, doch dieses Mal dränge ich mich ins Kirchenschiff. Ich bin wieder das Kind, das ich in den 1950er Jahren war. Nichts von dem, was ich lange hinter mir gelassen habe, hat sich geändert. Mit Wucht holt mich die emotionale Frömmigkeit meiner Kindheit ein, und gerät in Widerstreit mit meinem Agnostizismus. Menschen knien auf dem blanken Fußboden, Tränen im Gesicht. Die Kommunion teilen ein Dutzend grüngewandete Priester aus, auf ihrem Rücken das rote Jakobskreuz, martialisches Symbol des Maurentöters Jakobus, eine Zeremonie, die gefühlt endlos dauert. Am Ende der Messe treten vier Männer in weinroten Roben an den Altar und schwingen an einem Seil ein riesiges Gefäß durch das Kirchenschiff, hoch hinauf ins Gewölbe und über die Gläubigen hinweg: den Botafumiero. Der Feuerkessel ist ein 1,60 Meter hohes und 54 Kilogramm schweres Weihrauchfass, eine Attraktion der Pilgermesse, auf die viele gewartet haben. Der Botafumiero hängt an enem 66 Meter langen Seil, der sich, einmal in Fahrt gekommen, mit 65 Kilometern in der Stunde durch das Querschiff der Kathedrale schwingt. Hunderte Smartphones schnellen wie ein einziges in die Höhe. Ich habe Glück, aus Kostengründen kommt der Botafumiero nicht in jeder Pilgermesse zum Einsatz, sondern nur zu besonderen Anlässen oder wenn ein Sponsor die Kosten trägt. Eine Wallfahrt sollte jeder einmal im Leben machen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihn religiöse, spirituelle oder sportliche Motive leiten. Die Erfahrungen, die man mit sich selbst macht, sind unvergleichlich. Das perfekte Übergangsritual für unsere entfremdende Lebensweise. Es wird dauern, alles zu verarbeiten, um mir meinen Reim darauf zu machen.

Die Ankunft in Santiago de Compostela markiert den letzten Tag der Pilgerfahrt. Der Pilger hat sein Ziel erreicht und dem Apostel die Ehre gegeben. Anders der Wanderer, denn der geht weiter, lässt die Jakobusstadt hinter sich zurück und strebt ans Ende der Welt. Und der Fußreisende? Für ihn ist jede Fernwanderung nur eine weitere Etappe, wie jeder weitere Tag sein Leben vollendet. Er richtet sich nach der fünften Übung im Zen im Gehens: Weiter fest auftreten, die Augen auf das richten, was zwischen drei und fünf Metern vor dir liegt, die Augen ohne Anspannung über das Gesehene schleifen lassen, und langsam das Sehen mit dem Rhythmus der Schritte verbinden.
Ich habe schöne Phasen des Gehens erlebt, schöne Passagen des Wegs, in denen ich bei mir angekommen bin wie nie zuvor; auf Waldpfaden und durch dünn besiedelte Gegenden, durch abgelegen wirkende Dörfer, auf moderaten und beschwerlichen Steigungen ohne Aussicht, dann wieder mit atemraubenden Blicken hinunter auf die Welt, mit und ohne Begegnungen, bereichernden und nervtötenden, obwohl ich das Gegenteil erwartet habe. Freiheit, wie sie Janis Joplin oder Rosa Luxemburg preisen. Den Gedanken, dass es keine Freiheit gibt, teile ich nicht. Doch was ist schon von Dauer. Der Moment zählt, die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Alles andere ist ungewiss und unzuverlässig. Freiheit findet der Wanderer im Zwischenbereich, in der liminoiden Sphäre ist sie reichlich vorhanden. Man braucht nur die Konventionen hinter sich zu lassen, etwas was im Alltag nicht geht, auf Wanderschaft oder gar auf einer Pilgerfahrt sehr einfach ist. Sicherheit verhindert Freiheit, und Freiheitsimpulse sind keine Freiheit, führen aber in diese Richtung. Ein Traum, um nicht von einer Utopie zu sprechen, der man treu bleibt, verwirklicht sich irgendwann. Wir schulden unseren Träumen unser Leben. Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Gefühl, das sich einstellt, wenn man sein Leben selbstbestimmt lebt. Der Grad der individuellen Freiheit und das Maß an Selbstbestimmung im Leben hängen von einander ab. Je geringer die Entfremdung, desto größer die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und zum Glück. Ich habe beschlossen, weiter zu gehen, über die Jakobusstadt hinaus ans Cabo de Finisterre, ans Ende der Welt. Die mittelalterlichen Pilger machten es vor, noch bevor Kolumbus seine Vision in der Wirklichkeit fand. Und dann noch weiter, an der Küste entlang nach Norden, nach Muxía. Eine letzte Etappe, wenn dann noch Tage übrig sind.


Weiterlesen: Die Causa Jakobus



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