Dienstag, 24. Januar 2023

In Sevilla


You, who are on the road
Must have a code that you can live by
And so, become yourself
Because the past is just a goodbye
.
Crosby, Stills and Nash

Seit gestern bin ich in Sevilla, am Beginn einer wochenlangen Fußreise durch das nördliche Andalusien, durch die Extremadura, Kastilien-Léon und Galicien. In drei Monaten will ich diese Landschaften zu Fuß durchqueren. Tag für Tag. Ich will sie mit allen Sinnen wahrnehmen, will sie sehen, ihre Atmosphären spüren, riechen und schmecken, was sie bereithalten, hören, was in ihnen vorgeht, sie berühren und mich von ihnen berühren lassen. Schon allein die Namen lösen Fantasien und Assoziationen aus, die bis in eine kaum bekannte Geschichte hinabreichen und darüber hinaus in das Reich der Sage und des Märchens. Andalusien gehörte einst zum maurischen Spanien; Kalifen, Astrologen, Heiler und Fakire, Schlangenbeschwörer und Märchenerzähler, prachtvolle Paläste und Moscheen. Tausend und eine Nacht, aristotelische Philosophie, weltumspannende Weisheit. Drei Kulturen kamen in dieser Epoche auf der iberischen Halbinsel zusammen, damals, als die westgotische Kultur versank. Wer in Spanien wandert, findet überall ihre Hinterlassenschaften, nicht nur materiell. Die modernen Spanier und Spanierinnen verkörpern sie alle. In den Straßen von Sevilla findet man sie in Phänotyp und Temperament vertreten: die Nachkommen der Goten, Mauren und Juden.

Sevilla, das römische Hispalis, liegt im Südwesten der iberischen Halbinsel am Guadalquivir in einer weiten fruchtbaren Ebene. Sevilla gehört zu den heißesten Städten Europas. Hispalis geht auf das phönizische spal zurück, und bedeutet unteres Land. Die Stadt liegt am Guadalquivir, einem der längsten Flüsse Spaniens, der beim achtzig Kilometer entfernten Sanlúcar de Barrameda in den Atlantik mündet, und bis in den Hafen von Sevilla schiffbar ist. Dieser Zugang zum Meer, von wo einst Ferdinand Magellan seine Weltumseglung begann, begründete den Reichtum der Stadt. Als phönizische Gründung war die Stadt bereits vor der Ankunft der Römer ein bedeutendes Handelszentrum. Zu dieser Zeit mündete der Guadalquivir in einen großen Binnensee in der Nähe der Stadt, der aber inzwischen versandet ist. Die Phönizier und Römer waren nur die ersten, die die bevorzugte Lage Sevillas für eine Handelsniederlassung nutzen. Im frühen fünften Jahrhundert plünderten durchziehende Vandalen die Stadt, nach ihnen kamen die Westgoten und vertrieben sie. Sevilla wurde Bischofssitz, wo Isidorus Hispalensis, auch heiliger Isidor genannt, im siebten Jahrhundert Bischof war. Dieser bedeutende frühmittelalterliche Gelehrte avancierte zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. In seiner Enzyklopädie Etymologiarum sive originum libri kompilierte er das gesamte noch vorhandene Wissen der Antike.
Die Eroberung der iberischen Halbinsel durch die sogenannten Mauren begann 711. Sevilla fiel nur ein Jahr später in maurische Hand. Die Stadt wurde islamisches Verwaltungszentrum, ihr Name Hispalis zu Išbīliyya, woraus später Sevilla wurde. Alles begann mit Tāriq ibn Ziyād, einem zum Islam konvertierten Berber, der als Truppenführer und Gouverneur von Tanger Musa Ibn Nusayt unterstand, dem Statthalter von Ifriqīya. Was als ein Raubzug nach al-Andalus gedacht war, entwickelte sich innerhalb von acht Jahren zur Unterwerfung des größten Teils der iberischen Halbinsel. In der Schlacht am Río Guadalete fiel Roderich, der letzte König der Westgoten, und sein Reich zerbrach unter dem Ansturm des Islams. Der Name der Eroberer, Mauren, ist keine ethnische Bezeichnung. Sie waren zu dieser Zeit nomadisierende Berberstämme, von Arabern islamisiert, beheimatet in den modernen Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko. Die Etymologie der Bezeichnung ist ungewiss, griechisch mauros, dunkel, ist eine Option, aber auch die Herkunft aus einer Berbersprache wird diskutiert. Unter der Taifendynastie der Abbadiden, einem islamischen Kleinkönigreich, erlebte die Stadt eine Blütezeit, bis Sevilla unter den Almohaden zur bedeutendsten Stadt in al-Andalus wurde, mit der prestigeträchtigen Großen Moschee, deren Minarett im unteren Teil der Giralda erhalten blieb. Mitte des 13. Jahrhundert eroberte die Reconquista unter Ferdinand III. von Kastilien die Stadt nach monatelanger Belagerung von den Mauren zurück. Unter christlicher Herrschaft erlosch ihr orientalischer Glanz, es kam zu Pogromen und die Wirtschaftskraft sank, weil 300 000 Mauren das Land verlassen hatten. Durch den Handel mit der Neuen Welt, als im spanischen Reich Karl V. die Sonne nicht unterging, änderte sich im 16. und 17. Jahrhundert die Bedeutung der Stadt. Die Ausbeutung der überseeischen Kolonien durch den einsetzenden internationalen, wirtschaftlichen Handel machte Sevilla, durch die günstige Lage am Guadalquivir, zum Hauptumschlagsplatz des Seehandels und Zentrum spanischen Kunstschaffens. 1929 und 1992 war Sevilla Gastgeber der Weltausstellung Expo, wodurch sie ihre moderne Gestalt erhielt: die Infrastruktur wurde ausgebaut, Autobahnen entstanden, eine Bahntrasse für Hochgeschwindigkeitszüge nach Madrid gebaut und der Flughafen wurde modernisiert.

Die Vía de la Plata heißt auch Ruta de la Plata. Sie ist der Weg von Sevilla nach Santiago de Compostela. Im Mittelalter benutzten die im Süden Spaniens lebenden Christen die Vía, um eines der bedeutsamsten Pilgerziele des Christentums zu besuchen, das Grab des Apostels Jakobus, einem der Lieblingsjünger von Jesus von Nazareth. Ruta hieß diese Straße zuerst, bis sie im modernen Spanisch zur Vía wurde. Fälschlich als Silberstraße – plata, Silber – bezeichnet, weil die Römer und später die Spanier auf diesem Weg den Handel zwischen der Nord- und Südküste organisierten. Doch der Name Ruta ist nur ein Rest des Arabischen ruta ba`latta, breiter Weg, den die nach Norden vordringenden Mauren als Hinterlassenschaft der Römer vorfanden. Teile der Vía de la Plata heißen bis heute Camino Mozárabe, weil die unter maurischer Herrschaft lebenden Christen sie als Pilgerweg nutzten. In den 1990er Jahren ist dieser Pilgerweg wiedereröffnet worden. Mittlerweile gibt es ein dichtes Netz von Herbergen, eine vollständige Wegmarkierung und zahlreiche Pilger aus aller Herren Länder. Die Vía verläuft heutzutage weitgehend parallel zur Nationalstraße N 630, weicht dieser aber beharrlich auf kleine, verkehrsarme Nebenstraßen, Wirtschaftswege, Wiesen- und Waldwege sowie einfache Pfade aus, durch Sierra und Meseta, durch Täler und über Mittelgebirge, auf den Überbleibseln dieses alten Wegs. Das Profil der Landschaft hat sich nicht sehr verändert. Die Hochebenen, Flusstäler und Berge sind die gleichen geblieben; unterwegs immer wieder Reste der alten Kulturen. Alles andere ist verschwunden. Nichts ist mehr so, wie zu Zeiten der Römer, als im zweiten vorchristlichen Jahrhundert Legionäre, Händler und Bürokraten zur Eroberung der iberischen Halbinsel auf diesem Weg nach Norden zogen. Ich wandere auf diesem alten Weg durch ein modernes Spanien, der Weg vielfach überbaut, unterbrochen und unauffindbar verloren. Ich hoffe auf eine Landschaft, in der sich Naturschönheit und Begegnung, Kunst und Geschichte abwechseln; unter meinen Füßen die Spuren meiner Vorgänger, seit Jahrhunderten. Ich würde mich wundern, nichts von ihnen zu spüren, flößen mir doch schon die fast tausend Kilometer der Vía de la Plata erheblichen Respekt ein.
Ich habe mir ein Leitmotiv gesetzt: Ich will für eine gerechtere Welt zu Fuß gehen, will meine Gedanken auf dieses Ziel richten, und mit meinen Füßen dem Weg eintreten. Meine Füße sollen es dem Weg einprägen, den ich gehen werde. Ich gehe für ein Europa ohne Grenzen, in einer Zeit, in der in den politischen Etagen wieder über Grenzen nachgedacht wird, um Menschen auszugrenzen, sie vom Reichtum Europas fernzuhalten, und sie ihrer durch unseren Wohlstand verursachten Armut zu überlassen. Die ersten Zäune werden bereits wieder hochgezogen. Und für die Begegnung mit Pilgern aus aller Welt, einer wachsenden Gemeinschaft, deren Mitglieder sich nach Idealen sehnen. Während die Protagonisten des unbegrenzten Wachstums den Kapitalismus 3.0 erfinden, gehe ich wieder zu Fuß, um der Einfachheit neues Gehör zu verschaffen. Ich stelle mir vor, dass mein Gehen auf eine Alternative hinweist, dass Religion, Nationalismus, Habgier und Besitz nicht länger das letzte Wort behalten. Eine Landkarte, schreibt Sylvain Tessin, ist der Passagierschein für unsere Träume. Doch um zu träumen bedarf es besonderer Karten, einer ruhigen, entspannten Geschwindigkeit und Gelassenheit. Solvitur ambulando, im Gehen liegt die Lösung, propagierte Augustinus von Hippo, obwohl er dabei nicht an eine Wanderung, sondern an die Lösung eines logischen Paradoxons gedacht hat. In Anlehnung an Descartes, der Natur und Gefühle zu allem nötigen Gebrauch instrumentalisieren wollte, kommt mir ein anderer Gedanke in den Sinn; für mein Sein und meine Selbstverwirklichung. Ich gehe, also bin ich! Gehen, meint man, sei die natürlichste Sache der Welt, was vom Denken nicht immer behauptet werden kann. Gehen kann jeder, solange ihn nicht eine Behinderung beeinträchtigt, und selbst dann irgendwie. Am Gehen kommt der Mensch trotz aller Technisierung nicht vorbei. Gehen und Denken unterhalten dabei eine sehr enge Beziehung, denn fortgesetztes Gehen fördert den Fluss der Gedanken, lockert ihn assoziativ, ähnlich einer psychoanalytischen Sitzung, die die Produktion emotionaler Materie fördert. Die gelösten Gefühle äußern sich in Lachen und Weinen, in Freude und Wut, in Frustration, Trauer und Lust, in Zweifel, Begeisterung und Zuversicht. Alles erlebbar während einer Wanderung. Tag für Tag. Die während des Gehens in der Natur absichtslos aufsteigenden Gedanken widmen sich der Reflexion äußerer und innerer Zustände, während sich Körper und Geist im Einklang befinden. In der Bewegung durch Landschaften und innerpsychische Räume besteht der wesentliche Unterschied zum psychoanalytischen Setting im Sitzen oder Liegen. John Lennons Hymne Imagine endet mit dem Zeile: and the world will live as one. Dieses Lied ist Lennons Vermächtnis an die Welt. Achthundert Jahre früher verfasste Franziskus von Assisi, bereits in hohem Alter, seinen berühmten Sonnengesang, wahrscheinlich die erste Mahnung über die Bedeutung eines nachhaltigen Umgangs mit der natürlichen Umwelt. Sein Gesang stellte ein Novum dar, und eine Provokation des damaligen christlichen Dogmas, da die Erlösung des Menschen bei ihm nicht über die Abwertung der materiellen Welt führt. Eine Überzeugung, die sich im Buddhismus und in der Anthroposophie Rudolf Steiners wiederfindet. Besitz ist Ballast, Verzicht ist Befreiung. Imagine no possession! Nehmt nichts mit auf den Weg, darin sind sich Franziskus und John Lennon einig. Für Franziskus ist alles Bruder und Schwester. Mensch und Naturphänomene besitzen den gleichen Wert und Ursprung. Die EINE Gemeinschaft von Mensch und Mitwelt: Mitgeschöpflichkeit! John Lennons brotherhood of men; alle Lebewesen, die sich diese Eine Welt teilen. Lennons Imagine und Franziskus Sonnengesang sind Lieder der Erde, deren Botschaft Nachhaltigkeit ist. Was auf Dauer tragfähig bleibt, ist der geschwisterliche Umgang mit der Natur. Doch diese Maxime kann nur die Annäherung an ein Ideal sein, für die meisten Menschen immer noch unrealistisch und schwer zu erreichen. Für viele nicht einmal zu denken. Sie sind von ihren alltäglichen Zwängen so sehr vereinnahmt, dass ihnen gehen und denken vergeht. Ich weiß inzwischen, dass wochenlanges zu Fuß gehen einiges verändern kann. Ich weiß auch, dass der Individualverkehr des Autos nicht zukunftsfähig ist. Im Zeitalter der Hypermobilität ist zu Fuß gehen subversiv geworden. Revolutionär empfanden sich bereits die Wandervögel, die amerikanischen Hobos und Beatniks, die Pilger aller Kulturen sowie die Hippies in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie alle waren wenigstens eine Zeitlang Außenseiter, die ihrer Gesellschaft einen Spiegel vorhielten. Hippies kombinierten das Wandern mit modernen Fortbewegungsmitteln, und nannten es hitch hiking, zu Deutsch trampen. Sie wollten weiter fort als die Wandervögel, die im Nahraum unterwegs waren, jemals gekommen sind. Weiter als alle anderen zuvor und manchmal sogar weit weg von sich selbst. Vor allem wollten sie eines sein: frei und selbstbestimmt, auch wenn sie dazu auf den höchsten Berg steigen oder bis ans Ende der Welt reisen mussten, dorthin, wo die Fremdheit so extrem ist, dass sie sich wieder spüren konnten. In seinen Romanen erzählt Jack Keourac vom Unterwegssein, von Reisenden, von Zen und hohen Bergen, davon, dass die Straße das Leben ist; mittlerweile wieder eine gute Mischung. Von Trekking und Fernwanderungen, die heute im Trend liegen, sprach damals noch niemand. Auf Einfachheit kam es an.

In den wenigen Stunden, seit ich Berlin verlassen habe, ist viel passiert. Wen die alltägliche Routine erdrückt, der muss sich wieder auf den Weg machen. Schon der Abflug in Berlin bringt unerwartete Herausforderungen. Mein Bording-Pass ist verschwunden, und die Zeit wird knapp, bis ich einen neuen erhalte. Ich denke nicht über eine Bedeutung nach, weder an Zufall noch an ein Omen. Kurzerhand wird mein Rucksack als Handgepäck deklariert. Mein Messer beschlagnahmt die Security, die mich nicht bewaffnet ins Flugzeug lassen will. Ein Flug mit starken Turbulenzen. In Sevilla regnet es. Ich werde gleich am Anfang zum ersten Mal nass. Mein Regenponcho befindet sich im Rucksack, da das sogenannte Handgepäck in Berlin auf dem Flugfeld eingesammelt und im Frachtraum verstaut wurde. Mein Hemd klebt feucht am Körper bevor ich im Terminal bin. Ich friere. Es ist ein Irrtum zu glauben, der spanische Frühling unterscheidet sich klimatisch vom deutschen.
Mit dem Airport Shuttle fahre ich ins Stadtzentrum. Der Bus ist überfüllt, einen Sitzplatz bekomme ich nicht. Nasser Dunst hängt in der Luft, und macht die Scheiben blind. Die automatische Durchsage der einzelnen Stationen verliert sich undeutlich in der akustischen Kulisse der Stimmen der Passagiere, des Regens an den Fensterscheiben und dem Brummen des Motors. Im Bus geht es laut und lebhaft zu. Neben mir versuchen zwei Briten sich zu orientieren. Gemeinsam finden wir eine Lösung und fahren GPS-gestützt in die Stadt. Der blaue Pfeil auf dem Display des Smartphones wird zu unserem Hoffnungsstrahl in der Fremde. Ich entschließe mich, in der Nähe der Kathedrale auszusteigen, wie es sich für einen Pilger gehört, dort zu warten, bis der Regen aufhört. Eine Kirche ist immer ein guter Ausgangspunkt für eine Stadtbesichtigung, für die erste Markierung des Jakobswegs. Es regnet noch immer in Strömen als ich mich zwischen bunten Schirmen und auf spiegelnden Straßen zu einem anderen Weltkulturerbe durchfrage: zu Santa María de la Sede, der größten gotischen Kathedrale Spaniens. Eine Muschel oder einen gelben Pfeil sehe ich nirgends. Ein Shop in der Kathedrale verkauft Eintrittskarten und farbig illustrierte Broschüren und Bücher in den wichtigsten europäischen Sprachen. Eintritt frei für Pilger. Eine der Kassiererinnen drückt mir den obligatorischen Stempel in den Credencial, meinen Pilgerpass, und winkt mich durch. Trotz des Gedränges im Vestibül hat sie mich erkannt, noch bevor mir selbst meine neue Identität bewusst geworden ist.
Die Kathedrale lockt Besucher aus aller Welt an. Santa Maria de la Sede ist nicht nur die größte Kathedrale Spaniens, sie ist eine der größten der Welt. Ihr beeindruckender, siebenundneunzig Meter hoher, viereckiger Glockenturm, die Giralda, das ehemalige Minarett der maurischen Moschee, ist kurioserweise das Wahrzeichen des katholischen Sevillas. Den Namen Giralda, die sich Drehende, erhielt der Turm von der Wetterfahne auf seiner Spitze. Hoch oben verkündet die namengebende Marienfigur den Triumph des christlichen Glaubens. Mit insgesamt einhundertfünf Metern gehörte das Minarett einst zu den höchsten Bauwerken der Welt, nur zwei der Pyramiden in Gizeh waren höher. Als Erdbeben die Giralda bedrohen, sollen die Fürbitten der beiden um 270 in Sevilla geborenen Schwestern Justa und Rufina sie vor dem Einsturz bewahrt haben. So überliefert es die Legende, die dem Kirchenbau einen zusätzlichen Nimbus des Heiligen verleiht. Die Schwestern wurden zu Schutzheiligen der Stadt und der Kathedrale und in Gemälden von Murillo und Goya, mit der Giralda in ihrer Mitte, verherrlicht. Im Inneren rufen zweiundzwanzig harmonisch gestimmte Glocken zum Gebet.
Fasziniert und schockiert zugleich schlendere ich durch das Kirchenschiff. Ich weiß nicht, was ich von alle dem halten soll, verstehe vielleicht zu wenig von dem, was ich sehe. Mich erdrückt die goldene Pracht. Der überwältigende Prunk und die Meisterschaft jahrhundertealter Kirchenkunst strapaziert meine Sinne. Für mich Nordeuropäer wirkt die spanische Vorliebe für ausuferndes Dekor und Design verwirrend. Das Erbe protestantischer Säkularisierung und staatlichem Laizismus im Gefolge der Aufklärung, die Spanien nicht im gleichen Maße beeinflusst hat wie Nord- und Mitteleuropa. Mir fällt es schwer, die Grenze zwischen Kunst und Kitsch zu ziehen; besonders in den historischen Gebäuden, ganz besonders in Kirchen oder Kathedralen. Selbst in kleinen, ländlichen Kapellen verursacht mir die überbordende Ausstattung des Innenraums einen leichten Schwindel. Was an der Oberfläche nach tiefster Frömmigkeit und religiöser Verortung aussieht, hat mit dem katholischen Glauben in Spanien wenig zu tun. Das spanische Alltagsleben ist vom Katholizismus durchtränkt, schreibt Paul Ingendaay in seiner Gebrauchsanweisung, aber es schwitzt ihn nicht aus. Seit der demokratschen Verfassung nach dem Ende der Franco-Ära befindet sich die katholische Kirche in Spanien in einem hoffungslosen Rückzugsgefecht gegen die zunehmende Säkularisierung aller Lebensbereiche. Während um ihn herum die Schlachten der Konsumgesellschaft toben, fühlt sich der spanische Klerus nicht nur mit seinem weltanschaulichen Progamm, fährt Ingendaay fort, sondern auch von seinen Appellen zur praktischen Religionsausübung allein. Kaum jemand will etwas von den harten Sakramenten (Beichte und Eucharistie) wissen, während die weichen Sakramente auch wegen ihrer Schauwerte Konjunktur haben. Trotzdem: Mich betrifft die mit Kunsthandwerk und Sakalkunst überladene Archtiektur, besonders die bedeutenden historischen Stätten. Dieses Gebäude sind mehr als Wohnungen oder Arbeitsstätten, die Auskommen, Schutz und Sicherheit bieten, Orte der Daseinsvorsorge. Sie öffnen Räume für menschliche Aktivitäten, familiäre, wirtschaftliche und religiöse, die Sphäre privaten Zuhauseseins oder öffentlicher Rituale. Die Kathedrale Santa María de la Sede ist nicht nur ein sichtbares Monument vergangener Ereignisse, politischer und religiöser Manifestationen. Wie Menschen sie sehen, handeln und erinnern, wirft ein Licht auf die kollektive Identität eines Volkes, die von ihnen mehr gefühlt, als kognitiv artikuliert wird. Historische Gebäude wie die Kathedrale von Sevilla sind Symbole und Hüter der Erinnerung, Artefakte des kollektiven Gedächtnisses, im Besonderen der Sevillanos, und allgemeiner der spanischen Bevölkerung. Doch ich bin auf einem anderen Weg unterwegs. Der blendend goldglänzend zur Schau gestellte Prunk stellt angesichts des Elends dieser Welt beschämenden Reichtum zur Schau. Dem Katholizismus war es nie peinlich, dass in aller Welt Zusammengeraffte prahlerisch zu präsentieren. Für Gott nur das Beste, für den Menschen das Jammertal und die in Aussicht gestellte nachtodliche Glückseligkeit. Allerdings nur, wenn er sein Leben in Schuld und Reue kasteit und sein Leben fremdbestimmmten Regeln widmet, die mit seinen Bedrüfnssen und seinem Glück nichts zu tun haben. Ganz im Gegenteil, ihn entfremden und den Interessen weniger Mächtiger ausliefern. Ich veerstehe nicht, wie das mit der alktuellen sozialen Agenda von Papst Franziskus zusammenpasst. Ist er der, den Wim Wenders Porträt nahelegt, dann gibt es für ihn viel zu tun, besonders angesichs des Armutsgelübdes des Heiligen Franziskus, des Gründers seines Ordens. Ist nicht der Moment gekommen, den Reichtum der Kirche für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Ärmsten zu verwenden? Mir scheint, die Konquistadoren sind immer noch am Werk, horten Spaniens Schätze, obwohl die Sonne inzwischen auch hier wieder untergeht. Die Kathedrale von Sevilla, nur eine von hundertdreißig Kirchen, präsentiert sich mit exquisiter Kirchenkunst, charakteristisch im spanischen Katholizismus. Wer das erleben will, muss sich auf den Weg nach Sevilla machen.

Der Bau der Kathedrale Santa María de la Sede wurde zwischen 1401 bis 1519 im Stil der Gotik auf den Überresten der im 12. Jahrhundert errichteten arabischen Mezquita Mayor erbaut. Durch zehn Tore mit Eigenamen lädt die Kathedrale die Gläubigen einzutreten. Ihr Inneres gliedern fünf Kirchenschiffe, mit zahlreichen Kunstschätzen geschmückt; Gemälde von Murillo, Zubarán und Velásquez. Zweiundvierzig Meter greift das mittlere Schiff in die Höhe. Ich flaniere an reich ausgestatteten Seitenkapellen vorüber die religiöse Themen darstellen, und die Maria oder anderen Persönlichkeiten der Kirchengeschichte gewidmet sind. Die Capilla de San Antonio beherbergt Murillos berühmtes Gemälde La Visíon de San Antonio. In charakteristisch katholischer Leibfeindlichkeit bildet es die Versuchungen ab, die der heilige Antonius durch irdische Begierden, durch Teufel und Dämonen erdulden muss. Viele der Apsiden versperrt ein schmiedeeisernes Gitter, durch deren Lücken sich Arme recken, bewaffnet mit einem Smartphone. Kinder drücken neugierig ihre Gesichter zwischen die Stäbe, unsicher, was es Besonderes zu sehen gibt. Durch farbige Glasmalereien von hoch oben fällt gedämpft das wenige Licht, das der wolkenverhangene Himmel freigibt. Die beiden barocken Orgeln, die sich symmetrisch angeordnet gegenüberliegen, erscheinen ungewöhnlich groß. Ich bin umgeben von prachtvollen mittelalterlichen Grabplastiken, von Grabmalen bedeutender Persönlichkeiten. Ich weiß, dass die gotische, himmelsstrebende Architektur die Bedeutungslosigkeit des Menschen angesichts der Göttlichkeit bewusst inszeniert. Die Ausdehnung des Raum um mich herum gerät ins Grenzenlose, die Kuppeln rücken in die Ferne. Der Glanz des Goldes wirkt im Dämmerlicht der Kathedrale mystisch. Im Gedränge der Besucher verliere ich die Orientierung. Wie willenlos überlasse ich mich dem Sog des Menschenstroms. Ich flüchte aus dem Gedränge der illuminierten, in den Gängen und Nischen dennoch düsteren Kathedrale auf den Patio de los Naranjos, den Orangenhof, neben der Giralda das einzige Original der ehemaligen Moschee. Kaum bin ich im Freien, verändert sich die Atmosphäre schlagartig. Die bedrängende Enge und Orientierungslosigkeit der Kathedrale lässt nach, und meine Brust weitet sich. Ich wünsche mich in die maurische Zeit von al-Andalus zurück, deren ornamentale, bildabstinente Symbolik den Geist öffnet. Ohne Sonne und in regnerischem Grau hebt der winzige Fleck Natürlichkeit meine Stimmung. Unerwartet stehe ich im nassen Innenhof unter vier parallelen Reihen schmaler Stämme fünf Meter hoher Orangenbäume mit runden Kronen, eine lichte luftig grüne Pergola, die nichts Erdrückendes hat, obwohl ich die untersten Blätter beinahe mit der Hand erreichen kann. Den Boden des Hofs schmücken geometrische, gepflasterte Mosaike, die wie Wellen von einem zentralen, runden Brunnen aus westgotischer Zeit an die Peripherie des Hofs fließen. Die Mauren nutzten diesen Brunnen, dessen Wasser sich über zwei Becken ergießt, für ihre rituellen Waschungen, bevor sie die Moschee betraten. Die Bäume stehen in kurzen Abständen in der Flucht zwischen zwei Toren, ein maurischer Rundbogen und ein christlicher Spitzbogen, deren Kunstfertigkeit daran erinnert, dass solches Steinmetzhandwerk für immer verloren ist. Der unbeschreiblich kunstvoll gearbeitete gotische Torbogen aus hellem Stein führt aus der Kathedrale hinaus in den Vorhof der ehemaligen Moschee. Am Westportal, der Puerta del Perdón, kontrastieren maurische Stilelemente, arabische Kaligraphien und Hufeisenbögen mit christlichem Dekor. Trotz der hüfthohen Absperrung und den Informationstafeln am Ausgang gegenüber verführt der Blick hinaus in die Stadt den Besucher zu Fantasien orientalischer Paläste. Obwohl es noch immer regnet, herrscht ununterbrochenes Kommen und Gehen. Die zahlreichen Besucher stehen staunend, den Blick erhoben, unter den Bäumen oder flanieren, ihren Schirm aufgespannt oder farbige Kapuzen über den Kopf gezogen, umher. Die Kathedrale ist ein Museum, zu gewaltig, um alle Einzelheiten wahrzunehmen. Es ist schwer vorstellbar, dass im Kirchenschiff noch Messen stattfinden. Dennoch habe ich in anderen bedeutenden spanischen Kirchen erlebt, dass die heilige Handlung andächtig zelebriert wird; ungestört durch die umhergehenden Besucher.

Es ist spät geworden. Bevor ich nach Montequito aufbreche, suche ich mir eine Bar, um einen letzten Kaffee zu trinken. Gegenüber der Metrostation Puerta de Jerez stehen Tische unter einer Markise, mit Blick auf den Torre del Oro. Der umlaufende Fensterkranz, dessen Kacheln einst in der Sonne glänzten, ist verschwunden, trotzdem tauchen ihn die Strahlen der untergehenden Sonne in ein weiches Licht. Am Nebentisch steht ein grauer Rucksack mit hellgrünen Riemen auf einem der Stühle. Von seinem Besitzer keine Spur. Ich vermute einen Pilger, schaue mich noch nach ihm um, als er mit einem Glas Bier aus der Bar kommt. Gerrit ist Niederländer aus Utrecht, kein Pilger, und von der Vía de la Plata hat er nichts gehört. Er studiert Kunstgeschichte und Volkskunde, ist Spanienfan, und unterwegs nach Ronda. Er hat von dem dortigen Museo del Bandolero gehört, und sich entschlossen, seine Bachelorarbeit über die Epoche der Räuber Andalusiens zu schreiben. Es bleibt nicht bei meinem Kaffee und auch nicht bei einem Bier. Wir kommen über den Goldturm ins Gespräch, über die Sperre der Hafeneinfahrt, von der er mir erzählt, wie sie in manchem Mantel-und-Degen-Filmen vorkommt. Von der Berber-Dynastie der Almohaden erzählt er, die den Turm im 13. Jahrhundert am Ufer des Guadalquivir erbauten. Eine eiserne Kette führte zu einem gegenüberliegenden Zwillingsturm, dem Torre de la Fortaleza, den Festungsturm, den es nicht mehr gibt, der den flussaufwärts fahrenden Kriegsschiffe die Hafeneinfahrt versperrte. Sie war nicht unüberwindbar, erzählt Gerrit. Als die Reconquista Sevilla 1248 eroberte, durchbrach Ramón de Bonifaz die Kette mit der kastilischen Flotte und die Mauren verloren Sevilla. Ich erzähle ihm von meinen gemischten Gefühlen, die der Besuch der Kathedrale bei mit hinterlassen hatte, davon, wie sehr mich die Kirchenkunst überfordert hat. Und Gerrit erzählt, erzählt und erzählt, erklärt das eine, rückt das andere Detail ins rechte Licht, und hört erst auf, als es bereits dunkel ist, und der Torre del Oro im Licht der Scheinwerfer leuchtet. Dann bricht Gerrit zum Bushof und nach Ronda auf.
Die Metro braucht dreißig Minuten bis Olivar de Quintos, eine Metrostation in Montequinto, in einem Vorort, wo ich bei Manuel wohnen werde. Hausnummern gibt es in der Calle Castelo Branco keine. Alle Häuser liegen in einem geschlossen wirkendem Wohnquartier hinter Mauern mit breitem Tor, das sich für Autos automatisch öffnet. Videokameras und Hinweise auf die im Ernstfall herbeieilende Polizei verstärken den klaustrophobischen Eindruck. Ich muss mich durchfragen, bevor ich das richtige Tor finde. In Manuels Haus öffnet nach mehrmaligem Klingeln niemand. Ein kleiner weißer Hund, dessen rechtes Auge ein schwarzer Fleck umgibt, schießt kläffend um die Ecke, und baut sich abschreckend hinter dem Gartentor auf. Jedenfalls glaubt er das. Erst als er erkennt, dass ich vorhabe zu blieben, beruhigt er sich. Ein letzter enttäuschter Blick, und er verzieht sich wieder hinters Haus in den Garten. Ein kurzes Telefonat, und Manuel und seine Frau Carmen fahren in ihrem Smart vor. Ein herzlicher Empfang, beide sind sympathisch und locker und freuen sich auf mich. Sie erzählen von sich, von Sevilla, was ich unbedingt unternehmen muss. Nun bin ich auch touristisch angekommen. Doch die Kathedrale hat mich ermüdet. Ich bin unkonzentriert und kann mich kaum an dem Gespräch beteiligen. Aber ich fühle mich wie ein freudig erwarteter, gern gesehener Gast. Später liege ich auf dem frisch bezogenen Bett und versuche zu begreifen, dass ich wieder in Spanien bin. Mein Tag war überfüllt, alles floss viel zu schnell an mir vorbei: der zweistündige Flug von Berlin nach Sevilla, das überwältigende Erlebnis der überfüllten Kathedrale, die hastige Vereinnahmung durch meine Gastgeber. Ich fühle mich erschöpft, die vielen neuen Bilder und fremden Eindrücke, die seit heute Morgen ununterbrochen auf mich einstürmen. Die Aufregung am Flughafen Tegel, mein fast verpasster Flug, Sevilla mit Gepäck im Dauerregen, ein viel zu schneller Wechsel hat meine Welt weitergedreht. Ich bin satt, besetzt mit Bildern, Gefühlen und Gedanken. Mannigfaltige Impressionen südlicher Lebensart gerinnen zu dem Gefühl daheim zu sein. Schon übermorgen bin ich auf dem nächsten Camino de Santiago.

Am nächsten Tag bin ich zurück in Sevilla. Es ist noch früh am Morgen. Mein zweiter Tag in der Stadt. Vom gestrigen Regen ist nichts geblieben. Die vielen Touristen sind noch nicht zurück. Vermutlich belagern sie das Frühstücksbuffet im Hotel, stärken sich für den bevorstehenden Parcours durch die Stadt mit ihren Fotostrecken. Der Himmel ist azurblau, geschmückt mit weißen, bauschigen Kumuluswolken, die an gezupfte Watte erinnern. Es wird sofort warm, wenn der kalte Wind einen Moment innehält. Im Schatten friere ich, ein Pullover wäre gut, doch der ist noch gestern Morgen, kurz der Abreise, meiner Ultralight-Philosophie zum Opfer gefallen.
Gemeinsam mit Besuchern aus aller Welt flaniere ich stundenlang kreuz und quer durch die Altstadt. Sevilla, eine Quelle neuer Empfindungen und Eindrücke. Das französische Verb flâner, spazieren, entstand in seiner heutigen Bedeutung im 19. Jahrhundert. Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und E.T.A. Hoffmann gebührt die literarische Ehre, Erfinder des Flaneurs zu sein. Damals entstanden die ersten Millionenstädte: London 1810, Paris 1850, Berlin folgte 1870. In E.A. Poes Erzählung Der Mann in der Menge betritt der Flaneur die Bühne der Literatur. Bevor er sich selbst unter die Passanten mischt, sitzt der Ich-Erzähler am Bogenfenster des Londoner Cafés D. und beobachtet die auf der Straße vorbeiziehende Menge, in jener glücklichen Stimmung, da man alles andere eher empfindet als Langeweile. Die Sinne sind wacher als sonst, die Schleier lüften sich von den inneren Visionen, und die Gedanken sind geradezu elektrisch geladen; [...] Ich empfand ein ruhiges und dabei regsames Interesse an allem und jedem. In seinem Werk spricht Charles Baudelaire von Botanikern des Gehsteigs, die in die Metropole eintauchen, um sie zu verstehen. Im 19. Jahrhundert bewegte sich der Flaneur langsam, blasiert und dandyhaft, stellte der Öffentlichkeit der Straße seinen wachen, verfeinerten Blick zur Schau, seine Intellektualität, wie Poes erzählendes Ich oder E.T.A. Hoffmanns Protagonist in Das öde Haus. Der Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als literarische Figur streift er durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom der Masse durch Straßen und Gassen und über Plätze. Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Der sozialistische Autor Ernst Dronke, Mitstreiter von Karl Marx und Friedrich Engels, nennt sie in seinem Buch Berlin beim Namen: die Eckensteher, die Müßiggänger und späten Nachtvögel. Dieses Milieu bietet dem Flaneur die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Der Flaneur hat sich mit dem Wandel seiner Umgebung, urban und sozial, verändert. Den Flaneur des 20. Jahrhunderts porträtiert Walter Benjamin als Fokus sozialer Ereignisse, der versucht, in der Anonymität der Straße aufzugehen, um ungestört und unbemerkt das soziale Geschehen zu beobachten. Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, schreibt er in Berliner Kindheit um 1900, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde verirrt, braucht Schulung. Straßennamen sprechen zu dem Wanderer wie das Knacken trockener Zweige und die Tageszeiten sind für ihn so klar wie ein Bergtal. Flaneur und Wanderer, Stadt und Land, Natur und Kultur, sind sein Revier.
Die Motivation des Flaneurs spiegelt den Wanderer, der die Natur durchstreift, weil sie in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Wie Benjamins Flaneur will er in der Umgebung, den Landschaften, durch die er streift, aufgehen, sich verirren, um die Dinge zu finden, die nicht offensichtlich sind. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate wie noch nie verändern, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten so leicht wie dem flanierenden Fußgänger. Der Gegensatz von Stadt und Land! Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur lockten die Landbevölkerung erneut aus der freien Weite der Landschaft in die Stadt und verführten sie zu bleiben. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren die Landbevölkerung heute wieder und fordern sie auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit und soziale Geborgenheit in den Dörfern und Weilern auf dem Land. Macht Stadtluft noch immer frei? Oder inzwischen krank, da ihr der frische Atem der Natur fehlt? Der Wanderer-Flaneur Henning Sußebach, der der Großstadt überdrüssig ist, geht in seinem Buch Deutschland ab vom Wege zu Fuß durch das Hinterland. Dabei stellt er fest, dass Stadtmensch und Landmensch sich nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch vom anderen weiß. Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht er von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände [er sich] exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Rainald Grebe singt in seinem maskierten Liebeslied von diesem modernen Stadt-Land-Dilemma in Brandenburg, wenn er es auch nicht benennt. Stadt und Land sind nicht länger reziprok, sie sind antipodisch. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die Zurückgebliebenheit. Daneben kulminieren Arbeitslosigkeit und Langeweile auf dem Land, dominieren Konsum und Wohlstand das Leben in der Stadt. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen der Ökumene lebt, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft, von dort fortzukommen. In einer Zeit in der ein Stadt-Land-Dualismus, nicht länger mehr das Nord-Süd-Gefälle, das Zusammenleben der Menschen bestimmt, fördern die Reflexionen und Erzählungen des Wanderers gegenseitiges Verständnis. Wie dieses Unverständnis für einander, die asymmetrische Sozialisation der Protagonisten in der Stadt oder auf dem Land, das soziale Leben eines brandenburgischen Dorfs eskaliert, das schildert Juli Zeh in ihrem Roman Unterleuten.

Alles, was es in Sevillas Altstadt zu sehen gibt, ist heilig. Santiago de Compostela, der Sehnsuchtsort von tausenden Pilgern, gefällt sich im Glanz sakraler Pracht; die Architektur, die Statuen der Stein- und Holzschnitzkunst, die Gemälde. Sevilla steht dem nicht nach, kann aber keine Apostelreliquie bieten. Dafür präsentiert sie dem Besucher der Kathedrale die Gebeine von Christoph Columbus, einem Heiligen der Aufklärung, der hier Colon heißt. Sie sind in einem aufwendigen Grabmal an der Puerta de la Lonja, in der Kathedrale von Sevilla bestattet, eine Inszenierung, deren Ästhetik sich an die Prozessionsschreine der Semana Santa anlehnt. Auf einem Podest tragen vier in prachtvolle Gewänder gekleidete Sargträger, gekrönte Häupter, seinen Sarkophag auf ihren Schultern. Sie repräsentieren vier spanische Königreiche: Léon, Kastilien, Aragón und Navarra. Nach ihrer mehrmaligen Atlantiküberquerung, zwischen 1506 und 1898, wurde die Echtheit seiner Gebeine lange Zeit bezweifelt. Doch anders als die des Jakobus in Santiago bestätigte 2006 ein DNA-Abgleich seine Identität. Trotz seiner Bedeutung ist ihm, der unsere Welt ausgedehnt, das moderne Weltbild nicht nur gedacht, sondern durch seine Taten bestätigt hat, kein Kult gewidmet. Seinen Schrein belagern mehrere Reihen von Touristen, deren Smartphones sich über die Köpfe der vor ihnen Stehenden recken. Die Reliquie des Apostels bleibt dagegen dubiose Fiktion: ein politischer Mythos.
Sevilla ist die Hauptstadt der Autonomen Region Andalusien und der Provinz Sevilla. Ihre historische Altstadt wird von engen Gassen und kleinen Plätzen dominiert; malerisch das Barrio Santa Crux, die Plaza San Francisco mit ihrer prächtigen Architektur, die Plaza del Duque, die Plaza de la Encarnación und der Museumsplatz mit der Bronzestatue des führenden spanischen Barockmalers und berühmten Sohns der Stadt: Bartolomé Esteban Murillo. Die Straßen säumen palastartige, im römischen Stil gebaute, zweigeschossige Häuser mit flachen Dächern. Viele davon besitzen marmorgetäfelte Innenhöfe mit üppigem, orientalischen Formenreichtum. Blühende Pflanzen in Töpfen und Kanistern ersetzen gekonnt einen Garten. Die meisten der zahlreichen öffentlichen Brunnen erhalten ihr Wasser aus dem antiken Aquädukt Caños de Carmona. Die Stierkampfarena, ein ovales Amphitheater, bietet 18 000 Schaulustigen Platz, nach Madrid die größte in Spanien.
Keine andere Region hat das Bild Spaniens im Ausland so beeinflusst wie Andalusien. Das meiste davon gerinnt ohnehin zum Klischee. Flamenco, Stierkämpfe, Bizets Oper Carmen, Männer, die überzeugt sind, ihre von traditionellen Überzeugungen und Rollen bestimmte Männlichkeit zur Schau stellen zu müssen, Frauen, deren sexuelle Ausstrahlung und Sinnlichkeit sprichwörtlich ist. 700 000 Menschen leben in der viertgrößten Stadt Spaniens. Sie wurde in mythischer Zeit von Herakles gegründet, so will es die Legende, die die Sevillanos gerne erzählen. Wahrscheinlicher ist, dass die Stadt als eine phönizische Siedlung ins Licht der Geschichte trat, in einer Zeit, als der griechische Herakles noch nicht gedacht war. Seit der Antike ein wichtiger Handels- und Hafenplatz, inzwischen vornehmlich Touristenzentrum, besitzt Sevilla eine der größten Altstädte Europas. In den Straßen von Sevilla sieht man die ethnische Mischung dieser Vergangenheit. Die Ruinen der römischen Stadt Itálica, vor den Toren der Stadt, die erstaunlich gut erhaltenen Reste römischer Gebäude in Mérida, und besonders ein dichtes, antikes Straßennetz, von dem die 85 Kilometer, die die Vía de la Plata durch Nordandalusien führt, nur ein Teil ist. Über den Guadalquivir gelangte einst das Beutegold über den Hafen von Sevilla ins Land und begründete den Reichtum der Stadt. Heute gehört Andalusien, neben der Extremadura, zu den Regionen Spaniens mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen wie schon im Zeitalter der Entdeckungen als die jungen, landlosen Hidalgos, wie Werner Herzogs Aguirre, nach Eldorado aufbrachen. In den Sommermonaten zählt Sevilla zu den heißesten Orten Europas, wenn das Thermometer leicht vierzig Grad Celsius erreicht. Vielleicht wird das den Südspaniern nachgesagte cholerische Temperament durch diese Hitze verursacht, die das Blut zum Kochen bringt?

Anscheinend gibt es keine spanische Großstadt, die mir nicht gefällt. Ich kenne Barcelona, San Sebastian, Guernica, Bilbao, Santander, Gijón, Oviedo, Lugo und Santiago de Compostela. Ich kenne Málaga, Almería, Ronda und Cádiz. Und jetzt Sevilla. Ich kenne keine von ihnen gut genug, doch ich kann mir vorstellen, in jeder von ihnen mein restliches Leben zu verbringen. In Sevilla ist alles heilig. Alles ist so spanisch wie das Klischee, das mit den Namen im Raum schwebt. Vieles von dem, was historisch, was Kunst ist, ist auch sakral. Es fällt mir leicht, mit dem, was ich weiß, die Atmosphären zu wecken. Die Betrachtung der Gegenstände und Situationen genügt mir. Ich befinde mich auf einem Streifzug durch die Zeit, zu Assoziationen und Imaginationen, von denen ich letztlich nicht mehr weiß, wo das Faktum endet und die Fiktion beginnt. Es sind Monumente aus Stein oder Metall, Statuen und Gebäude, besonders die Fassaden beeindrucken, immer wieder Kreuze, Kapellen und Kirchen, inflationär, als müsse etwas beschworen, magisch gebannt werden. Im lebendigen Trubel der Stadt hat sich der Tod in die künstlerischen Ausdrucksweisen geschlichen.
Es ist aufregend, durch Sevillas enge Gassen zu streifen, durch die kaum ein Auto passt, nicht so sehr an den großen Straßen entlang, die mit Fahrzeugen verstopft sind, und sich kaum von den Hauptstraßen anderer Großstädte unterscheiden. Sevillas Altstadt umgeben breite, verkehrsreiche Boulevards, von denen die schmalen Gassen in die Enge mehrstöckiger Häuser abzweigen. Der Weg zum Museo de Bellas Artes schlängelt sich durch diese Gassen. Auf kleinen Plätzen, in die diese Gassen immer wieder münden, reifen die Orangen und sitzen Gäste vor den Cafés; gelegentlich plätschert ein Brunnen, wo sich Kinder mit Wasser bespritzen. An der Plaza Nuevo lässt ein Puppenspieler seine Marionette ein Lied auf dem Cello spielen. Mozart oder Vivaldi? Ich bin unsicher, doch es klingt barock. Die seichten Melodien passen zu allen möglichen Stimmungen und Gelegenheiten, sind funktional.
Es ist Mittag. Vor dem Museum der Schönen Künste liegt ein kleiner Park in der Sonne unter einem uralten Baum. Breite Brettwurzeln krallen sich in den Boden und verflochtene Luftwurzel hängen von einer majestätische Krone, die den Weg in Schatten taucht. Eigentlich nur ein Grünstreifen, zwischen einer parallelen Baumreihe, der zwei Gassen trennt. Tauben und Kinder tummeln sich auf dem Plattenweg, auf den Bänken sitzen Rentner und rauchen. Die opulente Fassade des Museum liegt im Schatten; vergitterte Fenster. Das schwere Holzportal ist weit geöffnet, der Eingang ein dunkler Schacht, in den kein Licht fällt. Für mich ist der Eintritt frei. Ich bin Europäer. Kurioserweise müssen Menschen anderer Nationen bezahlen. Begründet wird das nicht. Das Museum ist rückwärtsgerichtet. Es beherbergt die Werke der großen Maler des Siglo de Oro, Spaniens Goldenes Zeitalter, von 1550 bis 1660, der Übergang von der Renaissance zum Barock. Die großen Namen der sakralen Malerei sind vertreten: Luis de Morales, Diego Velázques, El Greco, Francisco de Zurbarán, und wieder Murillo. In ihrer Zeit gab es keine anderen Themen als die in der Bibel überlieferten. Die großen Maler waren Kopisten, die die Texte der Bibel ins Bild setzten. Porträtmalerei gibt es nur wenig, und ist äußerst stereotyp. Häufig hat sich der Maler als Protagonist einer biblischen Episode im Bild verewigt. Erst sehr spät, im 18. Jahrhundert, rückt der Alltag in den Blick. In einer Woche bin ich Fuente de Cantos, dem Geburtsort von Francisco de Zurbarán. Ein baskischer Name in al-Andalus. Er war ein Maler der Fantasie, der aus der kargen, trockenen Landschaft zwischen Mérida, Badajoz und Sevilla kam, wo der Boden blutrot und die Dörfer weiße Flecken sind; die Hinterlassenschaften der Römer zahlreich. Doch seine Wirkungsstätte war die Stadt Sevilla, die farbenfrohe Oase am Guadalquivir, wenn auch im Museo de Bellas Artes nicht seine besten Heiligenviten und Andachtsbilder ausgestellt sind: Mönche, Märtyrer, Gekreuzigte, heilige Männer und Frauen, alle durch das Verhältnis von Licht, Farbe und Stoff in eine mystische Aura gekleidet. Der Maler war Auftragsmaler im kirchlichen Dienst, malte was sie bei ihm bestellten, im Stil der asketischen Strenge der Gegenreformation. In einem der Flure hängt eine Galerie von ihm gemalter heiliger Frauen in großer Garderobe. Alle Märtyrerinnen, die durch ihre prächtige Kleidung auffallen, die ihrem grauenvollen Tod die Schau stiehlt. Von ihrer Qual ist nichts zu spüren, denn der Maler präsentiert sie dem Betrachter heil. Man möchte glauben, sie befänden sich auf dem Weg zu einem Empfang, einem Fest, dem Besuch eines Theaters. Doch der erste Eindruck täuscht. Sie tragen die Symbole ihres Martyriums in Händen. Aber wer kennt heute noch die Zeichen christlicher Ikonographie? Zurbarán war ein Meister des Stoffes, des Faltenwurfs, der alles Übrige auf diesen Bildern dominiert. Fast lösen die prächtigen Stoffe die Individualität der Frauen auf, reduzieren sie zu Kleiderpuppen, zu nichts anderem anwesend, um Stoffe zu präsentieren. Niemand hat Tuche so gemalt wie Zurbarán. Kleiderstoffe waren sein eigentliches Thema, deren Reiz selbst dann nicht verblasst, wenn man den Körper, der wie eine Schaufensterpuppe wirkt, entfernt.

Was in Sevilla modern ist, ist Konsum. Gedränge herrscht überall. Einen Unterschied zwischen Kaufen und Besichtigen gibt es nicht. Die Stadt ist grün. Ich flaniere von einem Park in den nächsten. Gibt es keine Parks, gibt es Bäume, die die Boulevards säumen. Die Calle Reyes Católicos imitiert die Ramblas in Barcelona. Am Guadalquivir, auch ein arabischer Name, finde ich etwas Ruhe, eine grüne Insel in der Stadt, eine Grünanlage am Ufer des Stroms, der nur wenig breiter ist als die Spree in Berlin, kaum berührt vom Getriebe der Stadt. Die Uferpromenade ist ein schattiger Weg. Eine schmale Böschung bietet sich für ein Sonnenbad an. Unter der Puente Isabel II. weitet sie sich zu einer gepflasterten Straße, wo Touristen eine Skulptur des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida für ein Selfie nutzen. Vögel zwitschern in den Zweigen, dutzende Tauben sind auf der Suche nach Futter, dazwischen herumtollende Hunde, Menschen auf den Wiesen in der Sonne. Ein Liebespaar knutscht an der Uferlinie, während ein Ausflugsdampfer vorüberfährt. Auf der Bank gegenüber rauchen zwei Jugendliche einen Joint. Der Wind weht den süßen Duft von Marihuana verlockend zu mir herüber. Derweil verbrennt mir die Sonne das Gesicht.
Ich bin satt. Sinnestrunken und angefüllt mit Eindrücken und Bildern, voll von Gedanken, mit müden Füßen vom Asphalttreten. Ein Tag in Sevilla. Ein schneller Blick auf die Stadt. Mannigfache Impressionen südlicher Lebensart verklingen als Echo in mir. Noch bin ich im Muße-Modus. Meine Fußreise durch den spanischen Frühling hat noch nicht begonnen. Noch verharrt der Winter in meinem Körper, in meinen Muskeln und Gelenken. Erneut verengt sich meine Welt in dem Gefühl, daheim zu sein.


Weiterlesen: Baumsavannen und weiße Dörfer



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