Der Tag beginnt mit Bob Dylan im Ohr. If dogs run free, singt der Barde mir ins Ohr, then why not we across the swooping plains? Die Wolken hängen schwer und nass über den Bergen. Durch den nebeligen Dunst flimmern die Gipfel wie eine Fata Morgana. Doch ich spüre, dass sie da sind. Früher oder später werden sie sich in ihrer majestätischen Schönheit zeigen. Bisher war es jeden Tag so: bis mittags war es bewölkt oder regnerisch, die Nachmittage waren hell und sonnig. Wie hoch die Berge wirklich aufragen, beschäftigt meine Fantasie. Die Bilder der letzten Tage haben sich zu einer Galerie versammelt, die einen Raum in mir füllen. Ich erinnere mich oft an die baskischen Berge, fast gegenwärtige Erinnerungen, lebhaft, pittoresk, lustbetont. Das Konterfei der neuen Landschaft kann die alte nicht auslöschen, sie ergänzt und erweitert meine Erinnerung und triggert meine Erwartungen.
Im Gehen durch die Landschaft, in der Natur oder im urbanen Umfeld, reduziert sich die Welt auf das Wesentliche. Das langsame Gehen verbrüdert mich mit meiner Umgebung, synchronisiert die äußere Geografie mit meiner inneren Landschaft. Die Herausforderungen auf dem Weg treffen mitten ins Herz, das bereits für Erfahrungen schlägt, von denen ich zu Beginn nichts ahnte. Mein Weg führt mich mitten ins Offene, auf Entdeckungen und Ereignisse zu, die eher Unwahrscheinliches und nicht Vorhersehbares, als Bekanntes und Vertrautes bereithalten. Pilgern ist eine zutiefst leibliche Erfahrung, die sich nicht allein der Herausforderung gegenübersieht, kontinuierlich die psychische Befindlichkeit zu regulieren, sie muss gleichzeitig Techniken der Leibbemeisterung entwickeln. Pilgern ist Yogapraxis im Gehen, in dem Sinne, dass das fließend rhythmische Schritt-für-Schritt gleichzeitig aktiv und meditativ ist. Gehen im Rhythmus des Atmens. Gehen als meditative Praxis produziert Sinn, besonders für denjenigen, der aus seinem alten Leben in eine vorübergehende Statuslosigkeit geraten ist. Gehen ist ein Ritual, eine rauschhafte Phase der Biografie, eine Initiation im Prozess des Lebenszyklus, das Pilger nutzen, um in einer schwierigen Lebensphase neue Stabilität und Klarheit zu gewinnen. Die Magie des Gehens speist sich nicht aus der Hoffnung, unterwegs zu einem Ziel zu sein, sondern in eine neue Existenz. Das Potenzial des Gehens besteht in der Erkenntnis, dass der Weg den Pilger macht, Herz und Blick öffnet, um eine neue Perspektive zu schaffen. Ich werde oft gefragt: Wozu ist es gut, auf müden Füßen durch Wind und Wetter zu wandern? Sonne hat es auch gegeben, antworte ich trotzig, und den Frieden der Landschaft, die innere Harmonie und Ausgeglichenheit, die in der Natur entsteht, wenn ich ihr tagelang allein und schutzlos ausgeliefert bin. Gefühle und Gedanken begleiten mich, bis sie zu einem neuen Jetzt zusammenwachsen; die Gelassenheit, die sich einstellt, wenn ich lange genug losgelassen habe. Der Weg ist das Ziel, wie das Medium die Message.
Die erste Empfindung heute Morgen ist der unverwechselbare Geruch klebriger Nässe, eine modrige Feuchtigkeit, die meine Kleidung ausdünstet. Ich ziehe Hemd und Hose an, und meine Finger werden feucht und klebrig. Jedes Mal stellt sich das Bedürfnis ein, mir die Hände zu waschen. Doch es ist nutzlos, denn Luftfeuchtigkeit lässt sich nicht abwaschen. Wenn ich meinen Rucksack schultere, kleben meine Finger wieder. Kaum bin ich auf den Beinen, treibt mich meine Unruhe aus der Herberge. Nur Bianca sitzt noch beim Frühstück, die anderen sind längst aufgebrochen, und ich mag nicht länger auf sie warten. Ich habe mich daran gewöhnt zu gehen, und kann mir einen anderen Seinszustand im Moment nicht vorstellen. Seit Wochen gehe ich von morgens bis abends. Ganz von selbst ist Gehen zu einer täglichen Routine geworden.
Die Bar an der Hauptstraße von Cornellana, in der ich gestern zu Mittag gegessen habe, öffnet gerade. Ein Großvater stellt Stühle und Tische vor das Haus. In der Küche brennt Licht. Als ich die Gaststätte betrete, treffen zwei Frauen die Vorbereitungen für das Frühstücksbuffet auf dem Tresen. Als ich eintrete, schaltet eine der beiden das Fernsehgerät ein. Sie meint es gut, doch die heimelige Stille zerfasert im elektronischen Sound. Überflüssigerweise frage ich sie, ob bereits geöffnet ist. Es tut mir gut, mein schlechtes Spanisch zu präsentieren und trotzdem verstanden zu werden. Sie lächelt freundlich und zeigt auf die vielen leeren Tische. Ich bestelle ein Bocadillo und einen Milchkaffee. Sie will wissen, womit sie mein Brot belegen soll. Ich wähle lomo, weil ich nicht weiß, was das ist, es aber endlich wissen will: ein halbes Baguette mit einer dicken Scheibe Fleischwurst; vom Schwein. Sich in Spanien vegetarisch zu ernähren, gestaltet sich als Herausforderung und erfordert Kompromisse. Die Bestellung rückgängig machen, will ich trotzdem nicht. Viel zu unfreundlich, viel zu kompliziert, nachdem mich die beiden Frauen so freundlich empfangen haben. Nach Jahren der Abstinenz weiß ich wieder, warum mir Fleisch nicht schmeckt. Am Tresen bestellt ein Gast den ersten Espresso des Tages.
Es wird nicht trockener, dafür schwüler. Eine klebrige Feuchtigkeit haftet beharrlich auf Haut und Kleidung. Ich bin noch nicht unterwegs, und schwitze schon unangenehm. Mein Hemd fühlt sich wie ein nasser Lappen an, der mir am Leib klebt. Nach einigen Kilometer bin ich gleichmäßig befeuchtet. Hinter dem Kloster San Salvador ist der Camino Primitivo eine verdichtete Piste, die auf die Großbaustelle von gestern hinaufführt, wo die neue Autobahn entsteht. Kilometerweit geht es über harten Asphalt, bis der Camino endlich wieder auf einen Waldweg abbiegt. Asturien heißt das Leitmotiv für Tage der Waldwege und ursprünglich wirkenden Wälder. An der Flanke eines Hügels wechselt der Weg kilometerweit zwischen schmalem Saumpfad und kaum einem Meter breiten Weg. In der vergangenen Nacht hat es heftig geregnet. Die Wege sind schlammig, und in den Schlaglöchern steht das Wasser knöchelhoch. Gemächlich geht es bergauf, dann wieder sanft bergab, nie lange und anstrengend, und immer mehr aufwärts als abwärts. Von den Bäumen tropft der letzte Rest Regen auf mich, während ich mir einen Weg durch die Pfützen des schlammigen Pfads suche. Manchmal verlässt der Camino Primitivo den Wald auf einen landwirtschaftlich genutzten Feldweg, auf dem die Reifen von Traktoren tiefe Rinnen hinterlassen haben, die mich zwingen, von einer Seite auf die andere zu hüpfen. Meine Schuhe sind nass und matschüberzogen. Auf den Weiden liegen Kühe stoisch im nassen Gras, auf den Feldern wachsen Bohnen und Kartoffeln. Ich komme an einsam gelegenen Bauernhöfen vorbei, wo mich angekettete Hunde bellend empfangen. Während Katzen die letzten trockenen Stellen besetzt halten und sich das nasse Fell putzen, zerren die Hunde wütend an ihren Ketten. Der ätzende Geruch nassen Fells reizt meine Nase. Schwarzgekleidete Frauen gehen schweigend ihrer Arbeit nach. Zurück im Wald schmatzt der nächste schlammige Weg unter meinen Sohlen. Während ich versuche einigermaßen trockenen Fußes durch den Morast zu stapfen, tropft es mir unablässig auf Kopf und Schultern. Wieder führt der Weg mich am Ufer eines kleinen Flusses entlang, überquert ihn auf einer antiken Steinbrücke und später auf einer neuen Holzbrücke, die erst vor wenigen Jahren gebaut wurde. Vorher mussten die Pilger den Fluss auf Trittsteinen überqueren, von denen einige umgestürzt im Wasser liegen. Der Tag bleibt nass und schwül. Selbst mittags ziehen sich die Wolken nicht zurück, und die Sonne gleicht einem blassen Mond. Noch immer hoffe ich, dass es endlich anfängt zu regnen, damit sich das Wetter ändern kann. Doch es sind niedrige schwebende Wolken, deren Nässe als ein leichtes Nieseln in der Luft liegt. Gäbe es nicht die unscharfen Konturen und die ausgebleichten Farben um mich herum, könnte ich glauben, ich wanderte hoch oben am Himmel im Hochnebel. Die Berge verlieren schließlich ihre Lust, aus ihrem weißen Schleier aufzutauchen. Die Pilger schreckt das unfreundliche Wetter nicht ab. Trotzig und entschlossen recken sie ihre kapuzenverhüllten Köpfe in den Nieselregen. Irgendwann im Laufe des Tages wird mir das Wetter gleichgültig. Ich gerate in einen Zustand, in dem Temperatur und Feuchtigkeit keine Rolle mehr spielen. Die andere Version des Tunnelblicks hat mich erfasst, und ich wandere Empfindungen ignorierend immer weiter, einen Fuß vor den anderen setzend. Wenn Lust und Energie erschöpft sind, spielt wenig eine Rolle. Zurückzugehen, oder zu unterbrechen, ist keine Option, da niemand weiß, ob das Wetter besser oder noch schlechter wird. In unterschiedlich grelle, farbige Regenjacken, Capes oder Ponchos eingehüllt, ihren Rucksack unter einem neonbunten Regenschutz verborgen, ziehen Paare und Gruppen an mir vorüber. Anders als auf dem Küstenweg treffe ich kaum junge Pilger. Es ist eigenartig, plötzlich in eine Pilgergruppe zu geraten, zwischen vielen anderen zu wandern, die alle schneller gehen als ich, und genau so plötzlich wieder verschwinden, wie sie aus dem Nebel auftauchen. An einem Tag wie diesem, sehe ich die eiligen Spanier nur als orange, grell gelbe und giftgrüne Flecken, bunte Bälle, die vor mir im Dunst auf- und abhüpfen, bis ich sie hinter der nächsten Biegung des Wegs aus den Augen verliere.
Nass und frierend komme ich in Salas an. Es ist erstaunlich, dass feuchtigkeitsgesättigte Luft genauso durchnässt, wie ein kräftiger Schauer. Es dauert nur länger, bis das Wasser durch die Kleidung gedrungen ist und die Haut erreicht. Wasser läuft mir aus den Haaren, in den Hemdkragen und den Rücken hinab. Von meinem Rucksack tropft es. Ich bin erleichtert, meine Habseligkeiten in einem wasserdichten Sack verstaut zu wissen, denn inzwischen weiß ich, dass nichts, was die Outdoorindustrie anbietet, einem ergiebigen Regen lange standhält. Nur gummierte Regencapes halten den Regen draußen, sorgen aber für ein feuchtes Binnenklima und starkes Schwitzen im luftundurchlässigen Dress. Gierig trinke ich in der ersten Bar einen heißen Milchkaffee. In dem Moment, in dem er mir durch die Kehle rinnt, rieselt ein Hauch von Wärme durch meine fröstelnden Muskeln. Mit zunehmender Höhe ist es kühler geworden. Der Kaffee ist dem nassen Hemd und der kühlen Luft nur kurz gewachsen. Salas liegt auf vierhundert Höhenmetern, eine Kleinstadt mit 8 000 Einwohnern. Das Zentrum von Salas dominiert ein großer Marktplatz. Die Reste der mittelalterlichen Bebauung fügen sich harmonisch in ein Ensemble moderner Gebäude: die Kirche aus dem 16. Jahrhundert sowie ein Wehrturm, der sich über einem gut erhaltenen Tor der ehemaligen Stadtmauer erhebt, die seit dem 14. Jahrhundert die Stadt schützt. Im Turm residiert angemessen das Stadtmuseum. Jenseits des alten Gemäuers liegt ein terrassierter Platz, die obligatorische Plaza spanischer Ortschaften, umgeben von mehreren Restaurants. Über einem, in den oberen Stockwerken, befindet sich die Pilgerherberge La Campa de Miguel in der mich eine heiße Dusche erwartet.
Morgen steige ich auf siebenhundert Meter hinauf. Der Aufstieg auf den ersten Pass steht unmittelbar bevor. Nichts kann mich dazu bewegen, an einem Regentag weiterzugehen, nicht auf einen Pass zu, von dem ich die Aussicht genießen will. Weiter als Salas gehe ich heute nicht. Dem Wetter gebe ich zwei weitere Tage sich zu bessern. Bleibt es weiter so nass, und schweben die Wolken regenschwer zwischen den Bergen, sehe ich auf der Passhöhe nichts als Wolken, feuchten Dunst und Nebel, der in den Tälern wabert. Nicht den spektakulären Blick über die asturische Bergwelt, für den ich so weit gewandert bin. Zusätzlich muss ich mich auf die gelben Pfeile konzentrieren, um mich in Dunst und Nieselregen nicht zu verlaufen, auf dem Weg auf die Höhen der Pässe Alto de Santa Maria und Puerto del Palo nicht verlorenzugehen. Nur noch drei Tage, dann bin ich in Campiello, dem Ausgangspunkt auf die Pässe und zum Hospital Fontfaraón. Mein Weg über den Jaizkibel hat mich vor ein paar Wochen mit böigem Wind und kaltem, feuchtem Nebel überrascht, der plötzlich vom Atlantik aufzog. Ich weiß sehr gut, was ich nicht will. An Tagen wie diesen erinnere ich mich wieder daran, dass ich durch España Verde wandere, wo sich die nordatlantischen Wolken erleichtern, bevor sie die kantabrische Kordillere überqueren. Ich kann mir gut vorstellen, warum es Pelayo gelang, die Mauren in einer solchen Landschaft zu schlagen. Ihnen, die das nordafrikanische und südspanische Klima gewohnt waren, muss es ergangen sein wie einst dem römischen Feldherrn Varus im germanischen Teutoburger Wald. Frierend und nass trafen sie im Nieselregen und nebeligen Dunst der asturischen Wälder auf einen schattenhaften Widersacher, der in diesen unheimlichen Biotop zuhause war. Plötzlich bin ich sicher: Am Montag wird die Sonne scheinen, damit ich aus 1 300 Höhenmetern hinab auf die Welt schauen kann.
Die Wegführung der spanischen Jakobswege vermeidet weitgehend die von Konsum und Komfort geprägten Orte, berührt sie oft nur marginal oder verlässt sie schnell wieder. Er weicht den Städten nicht absichtlich aus, sucht sie aber auch nicht auf. Der Camino de Santiago bevorzugt einsame Gegenden, auf denen der Wanderer zwangsläufig mit sich selbst konfrontiert ist. Den Reisenden, gleichgültig welche Motivation ihn auf diesen Weg geführt hat, lädt er zur Kontemplation ein. Nein, er lädt ihn nicht ein: Jakobswege sind prädestiniert, den Fußreisenden in eine besinnliche Stimmung zu versetzen. Die erste Sure des Yogasutra des Pataňjali bezieht sich auf die Phänomene, die unterwegs erfahrbar, am eigenen Leibe spürbar sind, nicht auf die intellektuellen Auseinandersetzungen mit ihnen. Einheit, heißt es, lässt sich nicht erdenken oder erfühlen, sondern übend erfahren. Wenn die geistigen Aktivitäten ruhen, entsteht intuitive Erkenntnis. Während einer Fußreise bin ich wochenlang, von Ortschaften oder wenigen großen Städten abgesehen, in wechselnden naturräumlichen Atmosphären unterwegs, in denen unsere Vorfahren ihre Götter fanden. So unterschiedlich und vielfältig diese landschaftlichen Charaktere sind, so mannigfaltig gestaltet sich ein Pantheon, in dem sie sich personifizieren. Nur wenn die geistigen Aktivitäten still und ausgeglichen sind, sich im Gleichgewicht befinden, sind diese Erfahrungen möglich. Wie wir sie empfinden, hängt auch davon ab, wie wir über uns und unsere Umgebung denken. Unwillkürlich gerate ich in eine ungewöhnliche Leichtigkeit. Sie beginnt mit einer beruhigenden Stimmung, wird allmählich zu einem Gefühl des Einsseins, das alle Unterschiede aufhebt. Dieser Zustand hält nicht an, doch er kommt wieder, und endet in einem euphorischen Gefühl. Ein flüchtiger Moment des Glücks, in dem Körper, Geist und Seele zusammenfinden und spürbar Leib werden. In meinem Berliner Alltag, der von nicht endenden Ablenkungen dominiert wird, erlebe ich diesen Zustand selten. In diesen Momenten auf dem Camino kommt es mir so vor, als ob sich Grenzen öffnen, und ich mit meiner Umgebung verschmelze. In dem Frieden und der Beharrlichkeit, die die Landschaft ausstrahlt, lösen sich Denken und Fühlen in wechselnden Eindrücken auf. Beim Gehen verändert der Weg meine Wahrnehmung, die sich an den Rhythmus der Schritte anpasst und meine Gedanken flüssig werden lässt. Es ist genauso, wie Sören Kierkegaard schreibt: Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen, und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann. Raum und Zeit gewinnen eine andere Qualität. Ein anderer Bewusstseinszustand stellt sich ein, der etwas Rauschhaftes enthält. Der Raum rückt näher, umschließt mich, dringt mit Formen, Farben und Geräuschen in mich ein. Die Zeit dehnt sich zur Dauer und rückt von mir ab. Es kümmert mich nicht mehr, dass sie vergeht oder stillsteht. Das hat nichts mit mangelnder Realitätsprüfung zu tun, und schon gar nichts mit Konfession, aber viel mit einer Religion, die auf spirituellem Spüren beruht. Der Rhythmus des Gehens richtet nicht nur den Blick aus, er macht ihn auch spürbar. Er synchronisiert mich mit der Landschaft, die mich umgibt. Jetzt kann für immer bleiben. Hier ist gut genug und ausreichend vorhanden. Eigentlich ist es nicht einmal notwendig zu wissen, wo ich hingehe oder warum ich reise. Es ist ausreichend, Raum und Zeit zu haben, am Morgen aufzustehen und aufzubrechen, und abends anzukommen, sich auf die sich bietenden Möglichkeiten des Weges einzustellen und einzulassen. Ziele sind allenfalls vorläufig. Ich kann sie jederzeit aufgeben. Ich fühle mich leicht, glücklich beschwingt: Ich gehe, also bin ich!
Die Pilgerherbergen auf den Jakobswegen sind sehr unterschiedlich. Auf dem Camino Primitivo ist das nicht anders als auf dem Camino del Norte. Es sind nicht immer die öffentlichen Herbergen, deren Standard bescheiden oder asketisch ist, auf die touristischen trifft das ebenso zu. La Campa de Miguel in Salas ist eine private Herberge, aber nicht annähernd so gut wie die öffentliche Herberge in der Abtei San Salvador. Inzwischen misstraue ich meinem Pilgerführer. Er bewirbt bestimmte Herbergen, wobei gute, wie die in Cornellana, nicht immer angemessen abschneiden. Die Übernachtung im Kloster war eine völlig andere Klasse. Geräumig, geschmackvoll eingerichtet, ein schöner Innenhof. Müßiggang nach stundenlangem Gehen, garniert mit seichten Gesprächen in der Sonne, bietet die ultimative Entspannung. Miguels Herberge ist ein umgenutztes Wohnhaus, in der die Nacht doppelt so viel kostet wie im Kloster San Salvador. Mit zwei Kanadiern teile ich mir ein enges Drei-Bett-Zimmer, in dem für nichts wirklich Platz ist. Sind wir zu Dritt im Zimmer, gehen wir zum Körperkontakt über. Eine kleine Zuflucht bietet nur ein in die Jahre gekommenes Bett. Der Platz, die nasse Kleidung abzulegen oder aufzuhängen, ist heiß umkämpft. Ein kleines, schmuddeliges Bad mit Anstehen für die ganze Etage, trägt ein Übriges dazu bei, dass ich mich nicht richtig ausruhen kann. Die großen Schlafsäle der öffentlichen Herbergen mit bis zu dreißig Betten bieten häufig mehr Komfort. Zum Glück sind die beiden Kanadier angenehme Menschen, die in Deutschland pilgern wollen. Ich erzähle ihnen von der Via Regia, und sie sind begeistert. Sie sind alte Bekannte, obwohl ich sie nie zuvor gesehen habe. Der verschnupfte Bettnachbar in Villaviciosa hat mir von den beiden erzählt, die in St.-Jean-Pied-de-Port vor den Pilgermassen geflüchtet sind. Wir haben herzlich gelacht. Der Camino de Santiago ist eine kleine Welt, in der man voneinander hört, sich immer wieder begegnet. Am Nachmittag klart es auf, wie schon oft in den letzten Tagen. Der Himmel lacht blau und wolkenlos, als ob nichts gewesen wäre. Fast ein wenig zu unschuldig, was mich beinahe ärgert. Auf meinem abendlichen Bummel durch die Stadt zieht es mich in die alte Kirche am Marktplatz, die ausnahmsweise geöffnet ist. Das Kircheninnere ist eine kalte, abgeschottete Halle, in der alle Linien auf den prächtigen Altar weisen. Eine hervorragende Holzschnitzkunst bieten die Altarretabeln. Die bunte Farbigkeit der biblischen Szenen fängt jeden Blick ein, der aus dem düsteren Dämmer der Kirche ausbricht. Die psychische Wirkung der Raumgestaltung ist für die Religion, in der es um die Erlösung aus der Schuld geht, perfekt. Im Dunkel seiner Existenz gefangen, leuchtet dem Gläubigen das Licht des Himmels entgegen, nach dem er sehnsüchtig Hand und Blick ausstreckt. Ich werde wütend auf die alten Götter, ob Zeus, Jahwe oder Odin, die eifersüchtigen Väter, die den Menschen ihr Glück neiden, einen freien Willen zu haben. Anders als der sterbliche Mensch, der sich selbst entscheiden kann, schuldig zu werden, sind die unsterblichen Götter an das Schicksal gebunden. Sie neiden uns diesen freien Willen, der es ermöglicht, aus dem Gegebenen zu wählen, seine Prägungen zu überwinden und sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die monotheistischen Götter opfern ihre Söhne aus Angst vor den Veränderungen, die die nachfolgenden Generationen bringen. Sie fürchten sich, von ihnen verdrängt zu werden. Die menschenfreundlichen Götter, die Söhne Prometheus, Jesus und Baldr, opfern sich, um eine schuldige Menschheit zu retten. Eine freie Entscheidung ohne Schuld ist nicht möglich.
Als ich heute Morgen aus dem Fenster schaue, regnet es heftig. Vorgebeugt und mit gesenktem Blick ziehen die frühen Pilger auf der anderen Straßenseite vorüber. Unter farbige Regenponchos geduckt, die Gesicht, Körper und Rucksack verhüllen, erinnern sie mich an eine Lichterkette in der vorweihnachtlich winterlichen Atmosphäre des Dezembers. Auf einen bunten Fleck im Dämmerlicht reduziert, erkenne ich keinen von ihnen wieder. Salas liegt kaum hundert Meter hinter mir. Gestern war es nass. Heute ist es noch viel nasser. Es regnet fast den ganzen Tag. Nicht kräftig, und auch keine heftigen Schauer. Es ist nur nass, und je höher ich komme, desto mehr Wasser liegt in der Luft, bis ich in den dunstigen Schleier gerate, den ich seit Tagen über den Bergen hängen sehe. Ein dünner Regen rieselt ohne Unterlass auf mich, bis meine Regenjacke sich dem nachhaltigen Drängen des Wassers ergibt. Irgendwann hört es zu regnen auf, weil die Luft kein Wasser mehr aufnehmen kann. An einem Brunnen am Waldrand fülle ich meine Wasserflasche und biege auf den matschigen Waldweg ein, der aus dem Tal herausführt. Das Quellwasser ist nicht gechlort und schmeckt frisch und klar. Wir brechen als Gruppe auf. Vor und hinter mir irrlichtern farbige Punkte durch den Dunst. Niemand außer mir ist allein, die Gruppen lautstark diskutierend. Spanier ohne Englischkenntnisse. Höflicher Small Talk. Ich kann mit niemandem wirklich reden. Trotzdem beginnt der Tag erfreulich. Der Weg steigt so sanft an, dass ich nicht das Gefühl habe, bergauf zu gehen. Alles um mich herum bleibt nass. Überall tropft es von Zweigen und Ästen. Der Wald scheint wie frisch gewaschen und intensiv grün gefärbt. Nach dem morgendlichen Regen ist es zwischen den Bäumen noch dämmrig. Ich kann mich nicht erinnern, eine Stimmung, wie sie jetzt im Wald herrscht, schon einmal erlebt zu haben. Ich wandere nicht gerne im Regen, doch der Jakobsweg wirkt wie ein Sog, dem ich nichts entgegensetzen kann. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen zu wehren. Das Wetter nehme ich hin, wie es ist. Es ist eine neue Erfahrung, dass Regentage auch schöne Seiten haben. Alles ist feucht und nass, doch in diesem Augenblick will ich nirgendwo anders sein. Ich habe das Gefühl, selten in meinem Leben so präsent und richtig gewesen zu sein, mit allen Sinnen anwesend; eine Empfindung, die schwer vermittelbar ist. Sie lässt sich nur im eigenen Erleben nachvollziehen, eine Erfahrung, die nur übend entsteht. Ich gehe auf einem lehmgelben, von Steinen übersäten Weg durch einen grünen Tunnel, der mich von allen Seiten umgibt. Der Weg steigt immer noch kaum merklich an, und ich komme mühelos voran. Obwohl dieses Glücksgefühl nicht anhält, verbindet es mich für alle Zeit mit diesem Wald von Salas. Ich wünsche mir, dass meine Erinnerung dieses Gefühl, das mich im Wald von Salas ergreift, nie mehr verliert.
Nur langsam kommt der Camino Primitivo weiter bergauf. Der Weg wird steiler, es regnet sich ein und der Weg verwandelt sich in einen Bach, der den Bergpfad hinunterfließt. Ich werde nasser, bin schließlich durchnässt und friere wieder. Im strömenden Regen erreiche ich tropfend La Espina. Werbung weist auf ein Selbstbedienungsrestaurant hin, dessen gelb schimmernde Lichter verschwommen durch dunstiges Dämmerlicht schimmern, wie die Schwelle in eine bessere Welt. Eine Notfallstation für bedürftige Pilger. Die Tourismusindustrie mit ihren seelenlosen Angeboten ist angekommen. Doch mir erscheint das technische Ungetüm wie eine Oase im alles dominierenden Grau, in dem es nicht hell werden will. Trotzdem lasse ich den hässlichen Glaskasten links liegen, hoffe auf eine gemütlichere Bar, und gehe auf regennasser Straße in den kleinen Ort. Stoisch vorgebeugt, bemüht, Wind und Regen keine Angriffsfläche zu bieten, wandern die beiden Kanadier an mir vorbei. Bevor ich mich entschieden habe, sie nach dem Weg zu fragen, sind sie schon zu bunten Flecken geworden. Mich überkommt die Sehnsucht nach warmer Geborgenheit. Durch La Espina ziehen Wolkenfetzen und im Nebel kann ich nicht weit sehen. Plötzlich erscheint mir das Schnellrestaurant ein erquicklicher Ort zu sein. Doch die erhoffte Rettung ist eine herbe Enttäuschung. Der lockende Imbiss entpuppt sich als kalter und steriler Ort, unheimlich kalt im Licht zweier Leuchtstoffröhren. Den Raum beherrschen zwei Getränkeautomaten, die getrennt Kaltes und Heißes anbieten: die üblichen, überzuckerten Limonaden, mehrere Kaffeesorten, Kakao und Gemüsebrühe. Auf Knopfdruck gegen Münzen fließen ein Kaffeeextrakt, heißes Wasser und dünne, schaumige Milch in einen Pappbecher, an dem ich mir fast die Hand verbrenne, als ich ihn aus dem Schacht ziehe. Ein dritter Automat liefert Essbares: unansehnliche, labbrige Baguettebrötchen; den Belag dazu muss man sich einzeln kaufen. Als ich eintrete, riecht es nach muffig feuchter Luft von an Garderobe und Heizkörpern trocknender Kleidung. Nasse Pilger mit mürrischen Mienen belagern die willkürlich im Raum verteilten Tische. Von den Stuhllehnen und von der Heizung tropft es in Lachen auf dem Boden. Verärgert zurückgekehrt zu sein, begnüge ich mich mit heißem Kaffee, einer Pfütze in einem Pappbecher, zentimeterhoch unter Milchschaum versteckt, der gegen die Kälte in mir machtlos ist. Die Fassade der touristischen Herberge im Zentrum von La Espina ist auffällig dekoriert, und nicht zu übersehen. Ich hoffe, zu bleiben, doch ein Schild an der Tür stürzt mich in die nasse Realität zurück. Es ist Mittag, niemand zuhause, und die Herberge öffnet erst am Nachmittag.
In der Café Bar Paris in der Hauptstraße von La Espina finde ich eine Atmosphäre, in der ich mich eine Weile wohlfühlen kann. Ein trockenes Hemd, zwei Milchkaffees und meine Regenjacke auf der Heizung. Nach einer Stunde bin ich leidlich trocken und aufgewärmt. Die Bar hat eine gute Lage. Sie scheint die erste am Camino zu sein, die geöffnet ist. Während ich nach meiner verschwundenen Motivation suche, kommen nach und nach alle meine Spanier von heute Morgen an. Die beiden Kanadier, die ich weit vor mir wähne, stehen mit einem Mal triefend im Raum. Sie haben sich schließlich doch im Ort verloren und bis hierher durchgefragt. Schnell herrscht Leben und Feierstimmung in der Bar. Es wird laut und emotional, die Männer rivalisieren über was weiß ich. Plötzlich geht es hoch her, und ich befürchte, gleich prügeln sie aufeinander ein. Was sich aggressiv und wütend anhört, ist der übliche Kommunikationsstil unter Männern. La Règle du Jeu. Männer in Bars bevorzugen eine gewisse Lautstärke. Ein Hühnerhof mit vielen Hähnen. Die Federn werden gespreizt und der Kamm aufgestellt. Die Biergläser kreisen und die Wirtin kann nicht so schnell nachfüllen, wie ausgetrunken wird. Der Alkohol befeuert die Gemüter. So plötzlich wie sie aus dem Nebel aufgetaucht sind, ziehen sie unerwartet weiter. Ein letzter Schluck, eine herzliche Umarmung und ein fröhliches „Buen Camino!“ Es wird stiller, und die Lautstärke sinkt auf ein erträgliches Maß. Pilger kommen und Pilger gehen, wärmen sich auf, trinken Kaffee, wechseln ein paar Worte und gehen weiter. Ich mag nicht an den Aufbruch denken. Meine Begeisterung von heute Morgen, im Regen zu gehen, hat sich im Wasser aufgelöst. Ich zögere den unvermeidlichen Augenblick hinaus. Durch das beschlagene Fenster, an dem Wassertropfen nach unten rinnen, sehe ich die Wolken noch immer durch La Espina treiben. Die Konturen der Häuser haben Dunst und Nebel weichgezeichnet. Während ich trübselig in die nasse Welt hinaus starre, ziehen zwei rote Flecken draußen an der Bar vorüber. Zwei Pilger im Regen. Mich überkommt ungerufener Wagemut und ich kehre in die Nässe zurück. Hätte ich gewusst, was mich auf dem Weg nach Tineo erwartet, ich wäre in La Espina geblieben. Gerne hätte ich die Stunden in der Bar abgesessen und gewartet, bis die einladende Herberge öffnet.
Von Salas nach Tineo führt der Weg hinauf nach Bodenaya, von dreihundert auf siebenhundert Höhenmeter. La Espina liegt bereits auf dem Kamm eines Berges. Einmal oben angekommen, gibt es nur noch moderate Steigungen. Schwärmend verrät mir mein Wanderführer: Nun beginnt der Weg seine ganze Schönheit zu entfalten. Nass und durchgefroren, klingt der Satz sarkastisch. Der Camino Primitivo läuft an einer Bergflanke entlang durch dichten Wald. Es ist etwas anderes, durch feuchten Dunst zu wandern als im hellen Sonnenschein. Die Welt liegt verschwommen hinter einem dünnen, durchsichtigen Schleier verborgen. Er wartet nur darauf, gelüftet zu werden, um ihr Geheimnis preiszugeben. Ein Überzug aus Gaze, der die Farben und Konturen weicher zeichnet, als sie sind. Die Unschärfe der Umgebung, die unmittelbare Relativität der Entfernungen, bewirkt eine geheimnisvolle Atmosphäre, die sich unsicher anfühlt, und andere Bilder und Gedanken auslöst. Die Bäume und Sträucher bekommen Gesichter, die herabhängenden Flechten sehen plötzlich wie Bärte aus. Sie haben ihren Gestus verändert, und ihre Äste scheinen nach mir zu greifen. Blätter, auf denen sich Wasser gesammelt hat, neigen sich gefüllt herab, und schütten ihre Tropfen über mir aus. Unter meinen Füßen schmatzt der Weg, und in die Pfützen plätschern Regentropfen. Den ganzen Nachmittag gehe ich im Nieselregen auf morastigem Boden. Immer wieder weiche ich dem Wasser auf die Böschung des Hangs aus. Unter meinen Tritten schmatzt schwarzer, lehmiger Matsch, der an den Schuhen klebt und meine Hosenbeine sprenkelt. Die Spuren landwirtschaftlicher Maschinen haben den Weg in seiner ganzen Breite umgepflügt. In den Profilspuren steht knöchelhoch das Wasser. Springen, hüpfen, große Schritte machen, über aufgeweichte, rutschige Kanten balancieren oder sich durch das Unterholz auf einer der beiden Seiten des Wegs zwängen. Das Gehen auf dem Jakobsweg gleicht inzwischen einer Schnitzeljagd von einem trockenen Fleck des Wegs zum nächsten. Der Weg nach Tineo hat sich zu einer mühsamen Angelegenheit entwickelt, und ich komme nur langsam voran. Der Strom der Pilger rückt auf dem schwierigen Untergrund enger zusammen. Es ist einfacher, den Spuren eines vorausgehenden Pilgers zu folgen, in seinem Schatten zu wandern, weil er den Untergrund bereits auf seine Trittsicherheit geprüft hat. Doch genauso oft gehe ich voran. Allmählich entwickelt sich ein neuer Rhythmus, der dem Untergrund angemessen ist. Jeder ist bemüht, Schaden von seinen Schuhen abzuwenden, eindringende Feuchtigkeit und Nässe möglichst gering zu halten, um den Füßen ein angenehmes Klima zu bewahren. Trotz meiner zunehmenden Kompetenz im Schlammtreten, stehe ich bis Tineo mehrmals bis zu den Knöcheln im weichen Brei, und das erwünschte Fußklima verabschiedet sich. Alles, was lange genug dauert, formt Gewohnheiten, und selbst Unangenehmes gerinnt im Nachhinein zu einer gerafften Anekdote, die man den Daheimgebliebenen im Gestus des erfahrenen Wanderers gerne erzählt. So wird auch der Weg nach Tineo zu einem unvergesslichen Erlebnis. Statt Flanieren im Sonnenschein und erholsame Picknickpausen, idyllische Waldpfade und Ausblicke auf spektakuläre Landschaften, wird das Wandern zu einem Schreittanz, einem Schlammtanz, immer auf der Suche nach dem richtigen Schritt, um der weichen, schmutzig-nassen Dame nicht zu nahe zu treten.
Der Camino Primitivo windet sich durch eine kaum kultivierte Landschaft. Immer wieder durch Wälder und über Bergrücken. Ausblicke in tief eingeschnittene Täler, über sanft geschwungene Hügel oder auf hintereinander aufgereihte Gipfel wechseln sich ab. Wer stundenlang allein und für neue Wahrnehmungen und Stimmungen offen über die verschiedenen Wege des Camino Primitivo geht, für den ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich die Landschaft in hunderten Jahren nicht sehr geändert hat. Man sieht es den unterschiedlichen Wegen des Camino Primitivo an, nicht nur dem ursprünglichen, sondern auch dem ältesten Pilgerweg nach Santiago de Compostela, dass es sich um alte Routen handelt, die seit langem in Gebrauch sind, um Menschen und Orte zu verbinden. Während ich durch Morast und Regen nach Tineo stapfe, frage ich mich: Camino de Santiago quo vadis? Ich bezweifle immer mehr, ob auf diesen Wegen viele echte Pilger wandern. Am Ortsrand von Tineo empfängt mich eine Pilgerskulptur aus Blech mit Hut, Pelerine und Jakobsmuschel. Ihr Pilgerstab bildet den Zeiger der Uhr, in dessen Spitze ein skaliertes Ziffernblatt zwölf Strahlen bündelt, die den Sonnenschatten sichtbar machen. Viator horam aspice et abi viam tuam!, heißt es auf der Bodenplatte: Schau den Reisenden an, und geh deinen Weg! Die vielen traditionell gekleideten Blechpilger oder Pilgerskulpturen am Wegrand künden von einem Ideal, das in die Jahre gekommen ist. Es sind liebevoll gestylte Selfmade-Pilger in einem Garten oder Park, oft auf eine Wand gesprüht, die mich daran erinnern, auf welchem Weg ich bin. Es liegt ein Mythos auf den Jakobswegen, der erfolgreich vermarktet wird. Doch es gibt auch den persönlichen Mythos. Wovon dieser handelt, bleibt meistens ungesagt. Diese mysteriös klingende Vagheit macht die Faszination und das Geheimnis des Jakobsweg aus und sichert seinen Erfolg. Das Numinose, das geheimnisvoll Faszinierende und Ängstigende, das auch unsere Träume befeuert, ist hier am Werk. In einer medialen Welt der Kommunikation, in der Privatheit zunehmend öffentlich wird, beruhigt mich dieser letzte Rest Unmitteilbarkeit. Die Sonnenuhr steht am Rand eines Abhangs, der nicht passierbar ist. Im Tal liegt Nebeln auf den Dächern von Tineo. Ein Gitterzaun begrenzt den asphaltierten Weg hinunter in den Ort.
Als ich im Palacio de Merás eintreffe, stehen Dutzende schlammverschmierte Schuhe im Schuhregal an der Tür. Die Pilgerherberge im Keller des zentral gelegenen Luxushotels präsentiert sich als eine ungewöhnliche Mischung. Auf den ersten Blick hat die Übernachtung im Souterrain eines Sterne-Hotels etwas Schräges. In meinem Wanderführer steht abwertend Bonzenhotel, und ich erwarte spontan mehr Komfort als in den Tagen zuvor. Nachdem ich in vielen öffentlichen und privaten Herbergen übernachtet habe, bin ich neugierig auf die Kreuzung von Luxushotel und Pilgerherberge. Ich halte mich abseits einer Gruppe von Pilgern, die lautstark debattierend die Rezeption belagern. Alle wollen spät nachmittags noch ein Bett für die Nacht ergattern, besonders nach diesem Tag. Warum die Rezeptionistin sie stehen lässt, und zu mir herüberkommt, freut mich, verstehe es aber nicht. „Haben Sie reserviert?“ fragt sie mich freundlich lächelnd, als sei ich ein besonderer Gast. Die Unruhe, die mich angesichts des Andrangs am Counter um ein Bett für die Nacht fürchten ließ, schmilzt in der unerwarteten Freundlichkeit dahin, als sie mir erklärt, für Pilger gebe es immer Platz genug. Der Palacio de Merás besitzt getrennte Bereiche, fast bin ich versucht, Lebenswelten zu sagen. Eine unterirdische und eine oberirdische Ebene. Das Straßenniveau trennt beide Ebenen schon äußerlich. Unterirdisch übernachten die Pilger, oberirdisch die betuchten Touristen, die Geschäftsleute und Handelsreisenden. Wem fielen da nicht die oberirdisch lebenden Eloi und die unterirdischen Morlocks in Herbert G. Wells Roman Die Zeitmaschine ein. Die beiden Pilgerquartiere im Souterrain wirken auf mich wie Mannschaftsräume eines Dreimasters in einem Piratenfilm. Eng, stickig und überfüllt. Nur die Hängematten fehlen. Ich stehe vor einer Reihe von Verschlägen, abgetrennte Vierer-Kojen, in denen jeweils zwei Etagenbetten stehen. Modern, sachlich und auf die bescheidenen Bedürfnisse der Pilger abgestimmt. Obwohl sich ihr bescheidener Luxus nicht von anderen Pilgerherbergen unterscheidet, hat sie nichts von der Atmosphäre eines Kellers verloren. Eine pragmatische Aura, ganz auf Nutzen, nicht auf Beheimatung und Gemütlichkeit ausgerichtet. Die Erwartung mehr Komfort, die Bonzenhotel bei mir ausgelöst hat, war ein Irrtum, der zeigt, wie sehr die eigene Wahrnehmung von den eigenen Vorstellungen beeinflusst wird. Der Pilger ist und bleibt ein Fremder, ein Durchreisender, der im besten Fall nicht mehr wiederkommt. Erfreulich ist es, Bianca wiederzusehen.
Es ist noch früh, und die meisten Pilger sind bereits im grauen Morgen verschwunden. Ich fühle mich sarkastisch und singe ein Wanderlied, um mich zu motivieren und in Stimmung zu bringen. Doch mein Lied löst Heiterkeit unter den letzten Pilgern aus, die es irrtümlich für ein Geburtstagsständchen halten. Gestern Abend feierten sie einen Geburtstag. Sie tragen wieder bunte Hütchen auf dem Kopf, und werfen verspielt die letzten Luftschlangen in die Höhe. Eine der Frauen hat drei Luftballons an ihren Rucksack gebunden, sodass die Stimmung im Keller etwas Karnevalistisches bekommt. Es regnet nicht mehr, doch der Himmel döst in gleichmäßigem Schiefergrau. Die nasse Straße glänzt im Licht der letzten Laternen, deren Leuchten ein diesiger Hof umgibt. Es ist nicht richtig hell, die Farben sind stumpf und das Licht noch trübe. Es ist kalt, kälter als es im Juni sein sollte. Aus dem Zentrum von Tineo steigt der Weg über Treppen den Berg hinauf und zurück auf den Camino Primitivo. Schnell eile ich durch die Gassen der Stadt, schlage einen Bogen um das Tal, und gewinne allmählich Höhe. Rechts zieht sich ein Bergwald den Hang hinauf, links fällt der Weg hinab zu den Weiden und nach Tineo auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Aus der Ferne betrachtet, ähneln sich die spanischen Städte. Eine Augenweide sind sie alle nicht. Das ändert sich schnell, wenn man sie betritt. Aus der Ferne verdecken mehrgeschossige Neubauten, Wohnsilos und gewerbliche Gebäude den historischen Altstadtkern, den jede Stadt besitzt, und wo sich das öffentliche Leben abspielt. Aus der Höhe sehe ich die kleinen Häuser nicht mehr, die im Ortskern die Kirche und die Plaza umgeben. Die Wege der letzten Etappe nach Campiello, wo die Pässe über die Berge zum Greifen nahe liegen, sind trockener als gestern. Nur noch wenige Wege oder Pfade sind morastig. Der dunstige Wolkenschleier, der mich gestern den ganzen Tag begleitet hat, lastet nicht mehr so schwer auf der Landschaft. Die von Feuchtigkeit gedämpften Farben und Kontraste leuchten noch nicht wieder, doch die Ausblicke auf das asturische Mittelgebirge sind zurückgekehrt. Auf einem Gipfel verschwindet der letzte Wald und die Landschaft wird zur Heide, mit Gräsern und Heidekraut, mit ausgedehnten Blumenkissen, dicht bestückt mit gelben, sternförmigen Blüten zwischen kniehohen Sträuchern. Dazwischen fristet der eine oder andere von Wind verkrüppelte Baum ein bescheidenes Dasein. Als ich die windgeschützten Waldwege verlasse, blasen mir zänkische Böen ungehindert und kalt aus der Heide entgegen. Ich friere wieder und wünsche mir einen warmen Pullover oder eine Fleecejacke. Doch beides fiel der Gepäckreduktion in Gijón zum Opfer. Es ist besser zu frieren als zu schleppen. Ein paar hundert Meter weiter finde ich mich auf dem nächsten abschüssigen, nassen und steinigen Waldweg wieder. Ich brauche meine volle Aufmerksamkeit, um nicht auszurutschen und vergesse schnell, dass ich friere. Die letzten Kilometer nach Campiello wandere ich über die nächste, ansteigende Landstraße. Anders als der Küstenweg, wo ich kilometerweit über Landstraßen gegangen bin, verläuft der Camino Primitivo nur gelegentlich auf Asphalt. Kurze Etappen auf einer Landstraße, wenn es nicht vermeidbar ist, verbinden seine schönen Naturwege. Das Landesinnere ist dünner besiedelt als die kantabrische und asturische Küste, und bietet der Natur noch ausreichend Raum. Dichter Autoverkehr ist selten, und während ich vorwärts eile, kommt, wie oft am Nachmittag, die Sonne zurück. Ein gutes Omen für den morgigen Anstieg zum Hospital Fonfaraón.
Der kleine Ort Campiello besteht aus wenigen Häusern, die sich ein kurzes Stück beiderseits der Landstraße aufreihen. Der Pilger-Tourismus treibt kuriose Blüten im Ort. Zwei große Pilgerherbergen, mit der zugehörigen Restauration, dominieren den Ort, erdrücken ihn, sodass dazwischen kaum etwas Anderes Platz findet. Vor einigen Jahren öffnete eine geschäftstüchtige Einwohnerin die erste, noch sehr einfache Herberge. Ihre Herberge ist zu einer großen Lagerhalle mutiert, eine Baracke, in der neben sechsundzwanzig Betten alles untergebracht ist, was der moderne Pilger beansprucht. Schräg gegenüber gibt es seit einem Jahr eine zweite Pilgerherberge, die Konkurrenz, großzügig und modern, in geräumigen, ansprechenden Räumen, um einen schönen Innenhof gruppiert. Campiello ist ein Pilgertreff, Basiscamp und Ausgangspunkt für das Trekking über die zwei höchsten Pässe des Camino Primitivo. Der Ort definiert sich über das Pilgern. Gibt es mehr, so hat er das gut vor allzu neugierigen Augen versteckt. Die Pilgerfassade ist perfekt. Der kontinuierliche Pilgerstrom hat dem kleinen Dorf innerhalb von wenigen Jahren seinen Stempel aufgedrückt, und mindestens den zwei Familien Wohlstand, wenn nicht Reichtum beschert. Doch wie ich höre, konkurrieren die beiden Herbergen, Casa Herminia und Casa Ricardo, heftig miteinander, obwohl es genug Pilger für alle gibt. Als ich eintreffe, ist bei Herminia bereits kein Bett mehr frei.
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