Der Grund, warum ich reise, ist ganz derjenige eines Spaziergängers, welcher
es liebt, sein Auge an ganz unterschiedlichen Bildern zu ergötzen.
Karl May
In meinen Jugendjahren habe ich die Reise- und Abenteuererzählungen von Karl May verschlungen. Ich war zwölf Jahre alt, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke weitergelesen habe, nachdem meine Mutter das Licht ausgeschaltet hat. Ich glaube auch, dass ich es dieser Lektüre verdanke, Ethnologe geworden zu sein. Die Fremde, und die dort vermutete Exotik, hat mich schon sehr früh fasziniert. Schon als Kind wollte ich Forscher werden. Seit ich nicht mehr erwerbstätig bin, und nur noch für mich verantwortlich sein muss, forsche ich auf Jakobswegen.
Ich habe heute ein »Wandertief«. Das ist nichts Neues, und kommt gelegentlich vor. Ich fühle mich lustlos, meine Füße und Beine sind schwer, und ich spüre meine Muskeln schwach und träge. Nichts fühlt sich nicht nach Zwanzig-Kilometer-Wanderung an. So weit ist es nach Santo Domingo de la Calzada. Meine Muskeln betteln nach einer Pause. Man soll auf den Körper hören. Sagt man das nicht? Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Dann werde ich den Bus nach Santo Domingo de la Calzada nehmen. Meine erste Busetappe des Camino Francés. Mein körperliches Missempfinden hängt mit dem Weg zusammen. Ich hadere seit ein paar Tagen mit der aufgeregten Atmosphäre, mit den vielen Pilgern, dem Gedränge in den großen Herbergen. Kein Wunder, dass ich mich psychisch angeschlagen fühle. Nun ist der Camino Francés nicht mein erster Jakobsweg und ich habe ich bisher andere Erfahrungen gemacht.
Irgendwann vor vielen Jahren habe ich das einleitende Zitat in der Reiseerzählung Am Rio de la Plata gefunden, und ich finde es passt zu meiner Stimmung. Ich will versuchen, wieder geruhsamer zu werden, und mich dem Sog der Masse entziehen. Ich will es dem Flaneur gleichtun, der umherschlendert, jemand sein, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, der sich umschaut, immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich bietet, versinkt, dem was ist, die sinnliche Essenz abgewinnt. Es ist immer schwierig, zu vergleichen, ich sollte das nicht tun. Aber ich weiß auch nicht, wie ich damit aufhören kann. Ein Luxusproblem, ich weiß, so nennt man das. Als Pilger habe ich mich zu bescheiden, mich anspruchslos und demütig zu geben. Aber ich bin eben kein richtiger Pilger, und erlaube mir den Bus. Eine Busfahrt von dreißig Minuten entspricht einer Wanderung von vier oder fünf Stunden. Als ich in Santo Domingo de la Calzado aussteige, liegt die große Kreuzung in der Sonne. Die dunklen Wolken waren gestern, der Himmel ist tiefblau. Von den Wolken sind nur ein paar hellgraue Streifen geblieben, die den Himmel dekorieren, und schattige Flecken auf den Boden werfen.
Santo Domingo de la Calzada am Camino Francés ist, und war, schon immer ein besonderer Ort, einer, der mit einer nächsten Legende um einen besonderen Heiligen aufwartet. Der Heilige Jakobus der Ältere (Santiago) ist der wichtigste Schutzpatron der Pilger und Namensgeber des Jakobswegs. Er ist einer der zwölf Apostel, wird meistens als Pilger mit Hut, Stab, Muschel und Tasche dargestellt.
Aber Santiago Peregrino ist nicht allein für den Schutz der Pilger verantwortlich. Es gibt andere Heilige des Kirchenkalenders, die ihm zur Seite stehen, die mit dem Jakobsweg und ihren eigenen Wallfahrten verbunden sind, die noch immer verehrt werden, und um Schutz, Fürbitte und spirituelle Sorge angerufen werden, wie der Heilige Rochus (San Roque), dessen Kult in Spanien sehr verbreitet ist, Schutzpatron der Pestkranken, Pilger und Krankenpfleger, der Heilige Christophorus, Schutzpatron der Reisenden, Pilger und Autofahrer oder der Heilige Alexius von Edessa, Schutzpatron der Pilger und Bettler, der als reicher Römer auf Pilgerschaft gegangen und sein Leben anschließend in Armut gelebt haben. Zu diesen Schutzpatronen der Pilger gehört auch der heilige Domingo von Calzada, in dessen Stadt ich heute übernachte. Ist die Biografie des Apostelsweitgehend legendär und fiktional, ist Domingo ein Heiliger mit einer realen Vita.
Santo Domingo de la Calzada hieß mit bürgerlichem Namen vermutlich Domingo García und wurde um 1019 nahe Viloria de Rioja geboren. Domingo García war Laienbruder und Einsiedler, der sein Leben dem Dienst an den Pilgern auf dem Jakobsweg widmete. Nachdem er zunächst in ein Kloster eintreten wollte, dort aber abgelehnt wurde, zog er sich in die Wälder der Rioja zurück. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, sich um das Wohl der Pilger und ihrem sicheren Weg nach Santiago de Compostela zu kümmern.
Mit seinem Namen ist der Bau der Kirche verbunden, der späteren Kathedrale, und er initiierte auch die Brücke über den Fluss Oja sowie die Einrichtung eines Pilgerhospitals, in dem Pilger übernachteten und medizinisch versorgt wurden. Santo Domingo wurde nicht nur durch die Infrastrukturprojekte, die er initiierte verehrt, sondern auch für sein asketisches Leben, seine legendäre Frömmigkeit und seine Wundertätigkeit. Seine Figur ist eng mit der Förderung des Jakobswegs im 11. Jahrhundert verbunden, und er avancierte zur Kultfigur der Jakobusverehrung in Nordspanien. Nach seinem Tod (1109) wurde er in der von ihm gegründeten Kirche beigesetzt, und der Ort wurde nach ihm benannt: Santo Domingo de la Calzada.
Seine Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada in der Region La Rioja zählt zu den bedeutendsten monumentalen Denkmälern des Camino Francés. Die ursprüngliche romanische Kirche wurde Ende des 11. Jahrhunderts gegründet und in den folgenden Jahrhunderten mehrfach erweitert, sodass sich heute ein architektonischer Schichtenbau präsentiert, der Elemente der Romanik, Gotik, Renaissance und des Barocks vereint. Im Hochmittelalter galt sie den Pilgern nicht nur als spiritueller Ort des Gebets und der Heiligenverehrung, sondern auch als symbolischer und praktischer Knotenpunkt mit einer Herberge, einem Krankenhaus und den von Domingo erbauten Brücken- und Straßen. Im Zentrum der religiösen und kultischen Bedeutung steht das Grab des Heiligen, das sich in einem kunstvoll gestalteten, gotischen Schrein in der rechten Apsis der Kathedrale befindet, der Epistelseite, früher volkstümlich Männerseite, gleich vis-á-vis des Hühnerstalls, von dem alle sagen, man muss ihn gesehen haben. Der im 14. Jahrhundert gearbeitete Sarkophag zeigt Reliefszenen aus der Vita des Heiligen und bezeugt die bereits im Mittelalter weitverbreitete Verehrung. Der von einer steinernen Balustrade umgebene Sarkophag ist mit fein gearbeiteten Reliefs, mit Szenen aus seinem Leben und den Wundern, die er gewirkt hat, illustriert, darunter natürlich das berühmte Wunder mit dem gebratenen Huhn.
Das sogenannte »Hühnerwunder«, das eine Legende erzählt, ist unmittelbar mit seinem Kult verbunden. Sie verbindet Glaube, Wunder und ein bisschen skurrilen Humor. Im 14. Jahrhundert machte sich eine deutsche Pilgerfamilie – Vater, Mutter und Sohn – auf den Weg nach Santiago de Compostela. In der Stadt Santo Domingo de la Calzada übernachteten sie in einer Herberge. Die Wirtstochter verliebte sich in den jungen Sohn, doch er erwiderte ihre Gefühle nicht. Aus Rache versteckte sie einen silbernen Becher in seinem Gepäck und beschuldigte ihn des Diebstahls. Der Junge wurde für schuldig befunden und zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Eltern setzten dennoch ihren Weg fort – voller Trauer – und pilgerten zum Grab des Apostels Jakobus. Auf dem Rückweg wollten sie noch einmal die Stelle besuchen, wo ihr Sohn gehängt worden war. Doch sie fanden ihn lebendig vor, denn der Heilige Domingo hatte ihn durch göttliches Eingreifen am Leben erhalten, obwohl er noch immer am Strick hing. Voller Freude rannten sie zum Richter der Stadt, der gerade beim Essen von gebratenem Huhn und Hahn saß. Der Richter lachte und sagte: «Euer Sohn ist so lebendig wie diese gebratenen Hühner auf meinem Teller!« Und im gleichen Moment erhoben sich die Hühner auf, wackelten mit dem Kamm und begannen zu krähen!
Die Legende vom »Hühnerwunder« ist bis heute lebendig geblieben und in Erinnerung daran werden seit dem in kleinen gotischen Käfig im Seitenschiff der Kathedrale lebende Hühner als Zeugnis dieses Wunders gehalten; ein einzigartiges Element der Pilgertradition, mit symbolische (Gerechtigkeit) und volksreligiöser Bedeutung (göttlicher Schutz). Santo Domingo de la Calzada, sagte man mir schmunzelnd, ist die Stadt, donde cantó la gallina después de asada – wo das Huhn nach dem Braten noch krähte - ohne damit das wundersame Eingreifen des Heiligen zugunsten eines unschuldig verurteilten Pilgers lächerlich machen zu wollen. Eher klingt ihre Bemerkung nach einem Limerick über eine skurrile Episode an dem mit legendären Episoden reichen Camino Francés:
In Calzada, so sagt man ganz sacht,
wurd' ein Pilgersohn fast umgebracht.
Doch der Heilige sprach:
„Er lebt noch und ist wach!“
Das Huhn im Bratgewand hat sich kaputtgelacht.
Die Legende des »Hühnerwunders« wird in der Literatur und am Camino Francés wieder und wieder paraphrasiert, sodass ich sie zuerst nicht zum Dutzenden Mal nacherzählen wollte. Aber irgendwie gehört sie dazu, wenn die Rede auf Santo Domingo kommt. Ich bin überzeugt, dass das die Legende des »Hühnerwunders« eine in Europa einzigartige Verbindung von Heiligenkult, volkstümlicher Frömmigkeit, urbaner Entwicklung und Pilgerinfrastruktur im sakralen Raum veranschaulicht. Der Heilige Domingo ist eine Schlüsselfigur der spirituellen Geografie Nordspaniens im 11. und 12. Jahrhundert, ein lebendiger Erinnerungsort für Pilger und Gläubige aus aller Welt, die nicht nur lokal, sondern für den gesamten Camino Francés immer noch von Bedeutung ist.
Als ich aus der Kathedrale zurückkomme, treffe ich Stefan aus Gütersloh, eigentlich Hasewinkel, wie er später einräumt, vor der Pilgerherberge zum zweiten Mal. Er ist ein komischer Kauz, mit dem ich mir in Navarrete ein Zimmer geteilt habe. Er hat mich im Lauf des Abends mit Details aus seinem Arbeitsleben bei Miele und Nobilia so zugetextet, mir vom Familienunternehmen vorgeschwärmt, der Qualität der Produkte, und wie gerne er dort gearbeitet hat, dass ich froh bin, als wir uns morgens verabschiedeten. Er geht den Camino Francés dieses Jahr zum elften Mal, sagt er, gibt sich erfahren und abgeklärt. Ich schweige, erzähle ihm nichts von meinen Pilgerfahrten. Er erzählt enthusiastisch, und ich merke schnell, dass es ihm reicht, zu reden. Stolz erzählt er, dass er bis letztes Jahr noch im Rollstuhl gesessen hat, an Atemnot fast gestorben ist. Long Covid oder COPD, die Ärzte waren ratlos. Nun ist er wieder fit, und das Bier schmeckt wieder.
In La Faba, weit entfernt in Galicien, ist er Mitglied der Albergue La Faba. Er empfiehlt sie mir wärmstens, und prophezeit gleichzeitig, dass es schwer ist, ein Bett zu bekommen. Noch schlimmer geht es in O Cebreiro zu. Dort wimmelt es inzwischen von Touristen, die sich in das Dorf, noch ein Weltkulturerbe, auf den Berg hinauffahren lassen. Dort ein Bett zu bekommen, so Stefan, ist so gut wie unmöglich. Und so geht es in einem fort, in dem Bemühen, mich mit den Unwägbarkeiten des Camino Francés einzuschüchtern. Und heute Morgen begegne ich ihm zum zweiten Mal, vor sich einem halben Liter Bier, seinen beachtlichen Bauch der Sonne zugewandt. Es ist nur ein kurzer Austausch, denn eine Gruppe Kindergartenkinder in brauner Pelerine, hölzernen Wanderstäben, sie größer sind als sie selbst, mit konzentrierter Miene, versammelt sich auf dem Platz vor der Pilgerherberge. Eine der Erzieherinnen erzählt ihnen vom Pilgern und von Domingo. Es ist berührend, wie ernsthaft die Kleinen blicken und den vorbeikommenden Pilgern ein fiepsiges Buen Camino zurufen. Dann reihen sie sich hintereinander auf, und ziehen weiter. Mich faszinieren die aufgeregten Kleinen mehr als Stefans Caminolatein. Ein Buen Camino für Stefan, der es nicht versäumt, mich zum wiederholten Mal auf den Hühnerstall in der Kathedrale aufmerksam zu machen, ohne zu registrieren, was ich ihm gerade erzählt habe. Neugierig folge ich den kleinen Pilger*innen durch die Gassen und überlasse Stefan seinem Bier und dem nächsten Opfer, das sich bereits eingefunden hat
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