Jede Reise, nicht nur eine Pilgerfahrt, bindet sich täglich an etwas, nur um sich kurz darauf wieder loszureißen. Den Reisenden erkennt man an der Bewegung, und daran, dass er wenig hinterlässt. Er kommt, nimmt wahr, und ist im nächsten Augenblick weitergegangen. Er gleicht einem Schatten in der hellen Sonne, der flüchtig seine Schritte quert. Nur selten hinterlässt er mehr.
Früh um sieben Uhr beschließt der mürrische Karmelitermönch, nun sei Zeit für alle aufzustehen. Ohne Unterschied. Ohne Vorwarnung schaltet er die Neonleuchten ein, deren grelles Licht mir in die Augen sticht. Unhöflich, nicht sehr respektvoll, doch nicht wirklich ein Problem, denn ich bin seit einer Weile wach, wenn ich auch nicht zu den Wanderern gehöre, die sich morgens mit Im Frühtau zu Berge auf den Lippen auf den Weg machen.
Nach und nach befreien sich die Pilger aus ihren Schlafsäcken und beginnen ihr morgendliches Ritual: waschen, einpacken, aufbrechen. Und dann stehe ich in der morgendlichen Kühle auf der Straße, unsicher, wie es weitergeht. Den Rucksack geschultert, schaue ich mich nach einer Gelegenheit für ein Frühstück um. Die letzten Pilger schwärmen aus dem Tor des Klosters wie verspätete Arbeiter, die aus dem Bahnhof stürmen, auf dem Weg zur Arbeit. Der Milchkaffee schmeckt, ein Croissant gibt es so früh noch nicht, dafür ein weiches Milchbrötchen mit einem Hauch Marmelade, viel zu dick mit Margarine zu bestrichen. Die ersten Schritte gehen sich morgens jedes Mal anders. Kein Tag ist wie der andere. Jeder Morgen fühlt sich anders an. Der Rucksack ist heute schwerer als sonst, die Beinmuskeln wachen nicht immer mit mir auf, oft brauchen sie eine Weile, bis ich das Gefühl habe, ich gehe, anstatt mich vorwärts zu schleppen. Ich entscheide nicht immer selbst, wie viele Kilometer ich gehe. Der Abstand von einer Herberge zur anderen bestimmt mit darüber, wie weit eine Etappe ist. Ich bin froh, dass ich meinen Rucksack fünf Minuten später auf einen freien Stuhl abstellen kann.
Es fällt mir schwer, aus Markina-Xemein herauszufinden. Vielleicht bin ich noch nicht richtig wach. Vielleicht ist die Wegmarkierung unvollständig oder die gelben Pfeile sind verwaschen oder versteckt aufgesprüht. Mehrmals gehe ich in die Irre, umrunde anonyme Häuserblocks, bis mich irgendjemand sieht, laut ruft, und mich zurück auf den richtigen Weg bringt. Vor einem Fabrikgelände sehe ich die deutlich angebrachten gelben Pfeile trotzdem nicht, und biege zum wiederholten Mal falsch ab. Hektisch winkend kommen Arbeiter aus der Halle gelaufen und bewahren mich davor, ihnen in die Quere zu kommen. Ich bin zu früh aufgebrochen, nach dem abrupten Wecken noch verschlafen. In der Bar, bei einem zweiten Milchkaffee, wäre ich jetzt besser aufgehoben. You`ll never walk alone, eine Parole, die jemand auf die Wand der Unterführung gesprüht hat, durch die ich Markina verlasse. Caminollatein. Sie soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Pilger einer Gemeinschaft angehört, die den einzelnen auf seinem Weg umgibt wie ein Mantel. Doch an diesem grauen Morgen in Markina fühle ich mich allein und verloren. Dieser trübe Tag, der schon früh mit einem unfreundlichen Karmeliter begonnen hat, spiegelt meine Stimmung. Der Mönch in Markina erinnert mich plötzlich an einen anderen mürrischen Mönch, an den Bruder Laurentius. Ich hatte gerade mein Studium der Ethnologie abgeschlossen und meine erste Beschäftigung aufgenommen. Meine Professorin vermittelte mir den Auftrag, die Ausstellung eines kleinen Missionsmuseums zu modernisieren. Ich war glücklich und stürzte mich begeistert in die Arbeit mit den verstaubten Exponaten, arbeitete an einem Ausstellungskonzept und kämpfte mit der Sichtung unzähliger, verwahrloster Ethnographika, in Jahrzehnten von Missionaren mit nach Hause gebracht. In dem verschmutzten und mit Gerümpel vollgestopften Museumsmagazin vermoderten wertvolle ethnographische Artefakte aus Afrika und Südamerika neben Ramsch, hergestellt für Touristen, wie sie in den Souvernirshops von Flughäfen feilgeboten werden. Jeden Morgen traf ich Bruder Laurentius, schon weit jenseits des Rentenalters, der ungern und mit genervter Miene Tag für Tag an der Kasse des Museums saß, in das sich selten ein Besucher verirrte. Er lächelte nur, wenn Kinder kamen, gelegentlich eine Schulklasse zu Besuch war. Dann kam etwas tief Verborgenes in ihm zum Vorschein, er blühte auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und erzählte den jungen Gästen ein paar Anekdoten über die Tierpräparate, die den Besucher im Eingangsbereich empfingen. Bruder Laurentius und der namenlose Karmeliter in Markina gehören einer aussterbenden Berufung an. Die Hoffnung, dass ihr Engagement neue Novizen anzieht, wird sich auch in diesem Kloster nicht erfüllen. Obwohl es unmittelbar am Küstenweg liegt, und täglich Dutzende Pilger beherbergt, glaube ich nicht, dass einer versucht ist zu bleiben.
Der Küstenweg, der wieder nicht an die Küste führt, empfängt mich freundlicher, als der Aufbruch morgens versprach. Kilometerweit gehe ich an einem kleinen Fluss entlang. Der Weg ist flach und verläuft lange unter Bäumen und Sträuchern. Erst in Bolibar steigt er steiler an. Ein alter Bauer, unrasiert, mit Stock und zerfleddertem Hut, spricht mich an, und fragt mich neugierig aus. Wir amüsieren uns über das spanische Kauderwelsch, verstehen uns aber trotzdem. Zumindest glaube ich das, denn der Alte setzt zufrieden seinen Weg fort. Bolibar liegt im Schatten des Bergs Oiz, an einer großen, unbebauten Kreuzung, wo der Weg hinauf abzweigt. Auf einer Bank eines neuen Rastplatzes kann ich ausruhen und den Rucksack loswerden, damit mein nasses Hemd im Wind trocknet. Eine Pilgerin kommt vorbei. Sie setzt sich auf die andere Bank, mir gegenüber, holt ihren deutschen Pilgerführer aus dem Rucksack, dreht mir den Rücken zu und liest. Deutlicher lässt es sich nicht sagen. Andere Pilger gehen freundlich grüßend vorüber. Während ich der warmen Sonne meine Stimmung überlasse, gehen sie nach Bolibar voraus. Der Name des Dorfs ist baskisch und bedeutet Windmühlental, nach dem ich mich vergebens umschaue. Nirgendwo sehe ich eine Windmühle, dafür ist der Wind frisch und böig. Der Ort ist der Stammsitz derer von Bolívar, klein und an einer belebten Durchgangsstraße gelegen, die Bolibar in zwei Hälften geteilt hat. Der Ort hat eine Busanbindung, für Dörfer im Baskenland nicht selbstverständlich. Simón Bolívars Großvater ließ sich einst hier nieder. Bolibar versteht es, durchkommende Pilger zu begrüßen.
Der Küstenweg verläuft auf einer asphaltierten Rampe hinauf in das Dorf, entlang eines gusseisernen Zauns, der mit symmetrisch angeordneten Jakobsmuscheln verziert ist. Auf dem Dorfplatz vor dem Rathaus erinnert ein kleiner, barocker Obelisk mit Wappen und spanischen Texten an Simón José Antonio de la Santísima Trinidad Bolívar Palacios y Blanco, an El Libertador, den südamerikanischen Nationalhelden, der die Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanische Kolonialherrschaft in Venezuela, Kolumbien, Panama und Ecuador anführte. Das Museum zu Ehren des Freiheitskämpfers ist so früh noch geschlossen, und zwei Stunden in diesem leeren Dorf zu warten, kann ich mir nicht vorstellen. Lieber wandere ich zum Trappistenkloster Zenarruca hinauf, einem spanischen Nationaldenkmal, in fünfhundert Meter Höhe. Eine Enttäuschung, ich sage es gleich. Ich habe einiges über das Kloster aus dem 10. Jahrhundert gelesen, und auch Fotos gesehen, die mich neugierig machten. Doch die Wirklichkeit ist ernüchternd.
Der Weg hinauf zum Kloster ist ein steiler, schmaler Pfad, auf dem zwischen unregelmäßig gelegten Feldsteinen die Bruchstücke von Platten des mittelalterlichen Wegs erhalten sind. Einst machten sie den Aufstieg ins Kloster komfortabel, nun suche ich stolpernd die Ritzen und Lücken für einen sicheren Tritt. Jenseits einer eingezäunten Wiese, deren fettes Gras auf Schafe oder Rinder wartet, liegen hinter hohen Bruchsteinmauern Kloster und Klosterkirche einsam auf einem Bergkamm neben der Landstraße, die durch Bolibar führt. Zum Eingangstor weist eine sandige Piste pfeilgerade unter eine expressionistische Kreuzigungsskulptur, die sich bedrohlich vor mir aufbaut. Die Wirkung der schwarzen, fast lebensgroßen Skulpturen bedrückt mich, und ich habe es plötzlich eilig auf den Klosterhof zu kommen. Dass es links zur Herberge hinaufgeht, fällt mir nicht auf, so schnell will ich der Hinrichtungsstätte entkommen.
Im Mittelalter und insbesondere während der Renaissance war Zenarruca eine wichtige Station des an der Küste verlaufenden Jakobswegs, wegen der Kämpfe mit den Mauren lange der einzige Weg nach Santiago. Es gab ein Hospital für Pilger, in dem nach seiner Sanierung die neue Pilgerherberge untergebracht ist. In einem Shop kann der Besucher heute die im Kloster produzierten Erzeugnisse kaufen. Die Kirche aus dem 15. Jahrhundert ist geöffnet, aber dunkel und muffig. Kunsthistorisches der Gotik und Frührenaissance, besonders das Retabel des Hochaltars, sind in der Dämmerung des Kirchenschiffs kaum zu erkennen. Das Wetter ist inzwischen wieder umgeschlagen und taucht den verlassenen Kreuzgang in ein trübes Licht.
Wieder bedrängt mich das mulmige Gefühl schnell hinaus ins Freie zu müssen, so bedrückend empfinde ich die düstere Atmosphäre. Ich fliehe aus der kalten Kirche in den windigen Kreuzgang, dessen maurische Architektur den letzten Rest einstiger Erhabenheit ausstrahlt. Mönche habe ich in Zenarruca keine gesehen. Es gibt dort nichts, das mich zu bleiben einlädt. Schon die Vorstellung erschreckt mich, bis morgen allein zwischen den Steinen in einer dämmerigen Mönchszelle zu verbringen. Am Ende noch mit dem Herbergsvater und Karla, die auf der Treppe zu den Arkaden der Kirche sitzt und frühstückt, als ich eintreffe. Gehört diese Begegnung mit Karla jetzt zu meinem Vormittagsritual, ich mag die Frage nicht laut aussprechen. Ich werde diese Dänin nicht mehr los, die beginnt, mich mit ihrer umständlichen Art zu nerven. Sie hat vorgestern ihr Hörgerät verloren, und scheint mich nun dafür verantwortlich zu machen, dass sie mich schlecht versteht. Sie reagiert verärgert und unterschwellig aggressiv, weil ich nicht noch lauter und deutlicher spreche. Ich habe den Eindruck, dass ihr meine Syntax nicht liegt, und sie mich deshalb nicht gut versteht. Viel lieber hätte ich Milano wiedergetroffen, dann wäre eine Übernachtung im Kloster attraktiv gewesen. Doch er bleibt heute verschwunden. Als ich morgens aufbrach, lag er noch im Bett, den Schlafsack über den Kopf gezogen. Nun hat ihn der Küstenweg verschluckt. Als Karla die Absicht äußert, in der Herberge im Kloster zu übernachten, schultere ich erleichtert meinen Rucksack und gehe zurück auf den Küstenweg. Es ist noch früh am Tag, also beschließe ich, weiterzugehen, nach Munitibar, am liebsten bis nach Gernika. Doch der Weg dorthin wird mir wahrscheinlich zu weit.
Die Schönheit des Wegs nach Munitibar überrascht mich. Sanft mäandert er abwechselnd aufwärts und abwärts, auf einem die Bergflanke umrundenden Pfad durch einen dichten Bergwald. Es ist still in dem lichten Laubmischwald, unter den sich Nadelbäume gemischt haben. In der Stille beruhige ich mich, fühle wie die Anspannung der Klosterstimmung weicht, die mir noch unter der Haut sitzt. Bäume wachsen auf den steilen Hängen auf beiden Seiten des Pfads. Eine Handbreit neben mir fällt der steile Hang abschüssig in ein tiefes Tal. Unter einem Gewirr von Unterholz sehe ich keinen Boden für den Fuß. Ich lasse meine mulmigen Gefühle los, bemüht nicht vom Weg abzukommen, denn auf dem dicht bewachsenen Hang ist kein Durchkommen möglich. Bevor mich der Flow des Wanderns ganz erfasst, endet der spannende Pfad an einer langen, neuen Holztreppe. Eine kuriose Konstruktion, deplatziert mitten im Wald, zerstört sie meine Illusion von Natürlichkeit, in die ich mich gerade erst gerettet habe. Vermutlich ist die Treppe ein gut gemeinter Willkommensgruß an die immer zahlreicher kommenden Pilger. Sie reduziert das Gefälle, das in den baskischen Bergen täglich hinab in ein besiedeltes Tal führt. Die Website von outdooractive bewirbt die Region als Wandertouren-Paradies mit sieben Wandertouren für Freizeitsportler und Aktivurlauber. Fünf Wanderungen und zwei Fernwanderwege hat der Anbieter im Programm, dazu die Treppe, als komfortable Erleichterung.
Die Gemeinde Munitibar in der Provinz Bizkaia liegt jenseits des Oiz, über den ich von Bolibar gewandert bin. In meiner Erinnerung ist Munitibar farblos und monoton. Es fühlt sich an, nie dort gewesen zu sein. Das Dorf an der Lea besteht aus mehreren kleinen Siedlungen. Wer fremd ankommt, hält das um die Kirche gelegene Zentrum für den Ort. Doch Munitibar ist mehr als eine zentrale Plaza mit einem großen Brunnen gegenüber der Kirche, und der Bar der Pension LEA mit großer Außenterrasse. Der ländliche Charakter der Gemeinde wird durch die vielen Bauernhöfe, die verstreuten Kapellen und die Mühlen von Elortza und Olatxu geprägt. Jede der vier Ortschaften hat seinen eigenen Dorfkern mit Kirche oder Kapelle. Eine Streusiedlung, eine Dorfgemeinschaft, wie ein zu lose geknüpfter Teppich.
Die kleine Pension ist noch geschlossen, doch die Bar geöffnet, einladend mit den großen Sonnenschirmen auf der Terrasse. Für die meisten Pilger sind die zwölf Kilometer nach Markina keine Etappe. Sie rasten nicht einmal auf der schattigen Terrasse, werfen nur einen schnellen Blick herüber und sind schon über die Plaza und hinter dem Brunnen verschwunden. Ich sage in der Bar Bescheid, dass ich bleibe, und setze mich auf die Terrasse, zu zwei spanischen Familien, die zu Mittag essen. Den Schlafsaal teile ich mir eine Weile später mit Gerard, einem Franzosen, mit dem ich nicht reden kann. Er spricht nur Französisch, das ich nicht spreche. Dann kommt Karla durch die Tür, die doch nicht im Kloster geblieben ist.
Den Nachmittag vertrödele ich auf der Terrasse vor der Bar. Ich bin ausgeruht, habe gut gegessen und trinke Estrella Galicia, das leichte spanische Bier. Durch die Markise spüre ich die Sonne auf der Haut. Die wohltuende Wärme und der Alkohol machen mich träge. Ich kann mich kaum überwinden, mir den Ort anzusehen. Durch einen Riss in der Markise lächelt mir ein blauer Himmel zu. Es ist traumhaft warm. Zufrieden wie eine satte Katze döse ich im Schatten, bis mir langweilig wird. Es ist bereits später Nachmittag, als ich durch die wenigen Gassen laufe, die Munitibar sind. Ein Dutzend Häuser vielleicht, deren Bewohner unter drei Bars wählen können, scharen sich um die geduckte, neoklassische Kirche San María mit schönen Arkaden, doch ohne Kirchturm. Viel zu sehen gibt es nicht, und schnell ist meine Tour durch den Ort beendet. Den Park hinter der Kirche teile ich mir mit zwei Porträtbüsten aus Bronze, die auf Sockeln platziert, sich durch ihre Brillen grimmig anstarren.
In der Herberge sind die beiden Dortmunder angekommen. Wir sind zu fünft in dem großzügigen Zehn-Betten-Schlafsaal der Pension, nicht zwanzig bis dreißig andere Schläfer oder Schnarcher, wie sonst üblich. Der Abend vergeht mit Small Talk, Caminolatein und mit warten. Morgen Nachmittag bin ich in Gernika.
Weiterlesen: Der Baum von Guernika
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