Als ich aus dem Fenster in den Garten der Herberge schaue, sehe ich die nebeligen Schleier, die die Berggipfel umschmeicheln. Orange scheint eine blasse Sonne auf Castro. Ich weiß es sofort: Der Tag verspricht ein guter zu werden. Ich packe mein Zeug zusammen, bringe es hinunter in den Garten und frühstücke. Ratlos stehe ich vor dem Automaten, aus dem mein Kaffee kommen soll. Juán, der mich gestern arrogant ignoriert hat, ist plötzlich ein freundlicher Mann. Wir kommen holpernd ins Gespräch, vielmehr stolpere ich in sein kehliges Spanisch. Juán ist das Klischee eines Machos, ein Mann, der den Ton angibt, dem Hilflosen aber uneigennützig zur Seite steht. In höflichem Befehlston weist er mich an, was ich tun muss, um an den begehrten schwarzen Trank zu kommen. „Gib mir einen Euro . . . !“ lautet sein erster Befehl.
Fünfzig Kilometer und drei beinahe eintausend Meter hohe Berggipfel, von denen die beiden letzten bereits in Galicien liegen. Meine letzten Tage in der Bergwelt Asturien, die zu den Picos de Europa gehört, den der Camino Primitivo streift. Noch zwei Tage, dann wird es flacher, bis ich zuletzt am Camino Francés ankomme. Castro liegt sechshundert Meter über dem Meeresspiegel. Die zentrale kantabrische Kordillere ist die westliche Verlängerung der Pyrenäen, des Gebirgszugs im spanischen Norden, den ein kilometerbreiter, nach Süden kontinuierlich ansteigender Landstreifen von den Stränden und Steilküsten der Biskaya trennt. Als Klimascheide trennt sie España Verde, das grüne Spanien, von der kontinentalen kastilischen Hochebene, der Meseta. Von Ost nach West prägt dieses alte Gebirge die Landschaften von Baskenland, Kantabrien, Kastilien-Léon, Asturien und schließlich Galicien, wo seine Ausläufer ans Ende der Welt stoßen. In Kantabrien haben geologische Prozesse des Karbons seine höchsten Gipfel in den Himmel gedrückt, die im Mai noch schneebedeckten, fast dreitausend Meter hohen Spitzen Europas; der Nationalpark der Picos de Europa, ein Rückzugsgebiet des europäischen Braunbären, das er sich mit bedeutenden Wolfsrudeln und Geier-Populationen teilen muss. In diesen unwegsamen Bergen begann 722 mit der Schlacht von Covadonga die Reconquista: die Rückeroberung des islamisch besetzten Südens Hispanias. Die Besiedlung der Berge begann schon im Magdalénien. Die Höhle von Altamira ist nur das prominenteste Beispiel für eine Besiedlung Nordspaniens bereits im Altpaläolithikum. Altamira ist nicht das älteste, nur das erste Zeugnis für die Anwesenheit des Homo sapiens. In der Cueva del Mirón bei Ramales de la Victoria fand man 2010 das Grab einer Mitte dreißigjährigen Cro-Magnon Frau, der Dama Roja de la Mirón, die ihren Namen von dem roten Ocker und den Blüten erhielt, die ihr Skelett bedeckten. Die bisher älteste Beisetzung auf der iberischen Halbinsel. Ocker, wie ihn die rote Dame aus der Höhle Mirón mit ins Grab bekam, fand man auch in Neandertalergräbern, dem Frühmenschen, mit denen der Homo sapiens seinen Lebensraum teilte. Der Anthropologe David Lewis-Williams erläutert in seinem Buch The Mind in the Cave kenntnisreich und außergewöhnlich brillant die neuropsychologischen Unterschiede zwischen dem Neandertaler und den frühen Vertretern des modernen Menschen, die beide Homo sapiens, denkende Menschen waren. Unterscheidend, so der Autor, ist das weiter entwickelte Gehirn und das Bewusstsein des frühen Homo sapiens, das letztlich in die Entstehung einer im Religiösen wurzelnden, künstlerischen Ausdrucksweise mündet, der sogenannten franko-kantabrischen oder Eiszeitkunst. Dem Neandertaler sollen die entsprechenden kognitiven und psychischen Fähigkeiten für Empfindungen dieser Qualität gefehlt haben. Bleibt die Frage zu klären, wer wem den Brauch abgeschaut hat, Tote mit rotem Ocker bedeckt zu begraben.
Neuerdings wurde am Stadtrand von Cáceres, in der Extremadura, eine Höhle entdeckt, die, als ich ein Jahr später vor ihr stehe, wie ein Safe gesichert ist. Besucher sind nicht zugelassen, da deren Atem irreversible Schäden an den prähistorischen Malereien im Höhleninneren verursacht. Regenwasser hat jahrtausendelang Gänge und Kavernen in ein Kalksteinplateau gegraben. Die Cueva de Maltravieso ist nicht die einzige Höhle der Region; ganz in der Nähe liegen El Conejar und Santa Ana. Die Höhle von Maltravieso enthält allerdings eine Besonderheit: die einzigen prähistorischen Bildnisse der Extremadura, die frühesten sind über 60 000 Jahre alt, weit entfernt von den Stätten der franko-kantabrischen Malereien. Stimmt die Datierung, können sie nur vom Neandertaler des Moustériens stammen. Das häufigste, und auch spektakulärste Motiv, sind die siebzig Handnegative sowie die Reihen von Punkten und Dreiecken. Vielen Handabdrücken fehlt der kleine Finger, keine rituelle Verstümmelung, sondern eine Übermalung während der Herstellung. Symbolisches Denken ist also keine Errungenschaft des jungpaläolithischen Homo sapiens, der Darstellungen von Pferd, Steinbock, Hirsch und Rind in der Höhle hinterlassen hat. Über die Koexistenz und interkulturellen Beziehungen zwischen dem Homo sapiens neanderthalensis und dem Homo sapiens ist mit Sicherheit noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die materielle und industrielle Entwicklung Nordspaniens hat seit diesen Zeiten enorme Fortschritte gemacht. Sie beruht auf den Bodenschätzen der kantabrischen Kordillere: auf Kohle, Eisenerz, Zink, Blei, Mangan und Kalisalz. Doch die Jahrhunderte alte Tradition des Bergbaus ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen.
Unterhalb des Museo del Chao Samartín mündet ein leicht ansteigender Hohlweg in ein Wäldchen; kurz darauf eine der kleinen Kapellen, die Eremita St. Lazare de Padraira. Historische Zeugnisse der Pilgerzeit sind am Camino Primitivo zahlreich. Viel zu schnell muss ich aus der grün schattigen Idylle der ehemaligen Einsiedelei auf die breite, stark befahrene A-28 zurück. Gefühlt unendlich langsam ziehen sich die Kilometer Landstraße zum über tausend Meter hohen Alto del Acebo hinauf. Erst in Peñafuente verlässt der Camino Primitivo die Landstraße. Aus dem Ort schlängelt sich ein unbefestigter Pfad, steil und steinig auf den ersten Pass hinauf, die letzten Meter Asturiens liegen vor mit. Die einzige Bar im Ort ist für eine Mittagspause wieder einmal nicht geöffnet.
Das disharmonische Rauschen eines Windparks auf dem Gipfel liegt mir schon von weitem störend in den Ohren. Lärmend nach stundenlanger Stille, übertönt er jedes andere Geräusch und mordet meine Gedanken. Die Säulen der großen Windräder, Stacheln, die den Himmel stechen, als wollten sie sein makelloses Blau tätowieren. Die hässlichen Rotoren auf dem Berggrat drehen sich behäbig um ihre Achse; knatternd wie Wäsche im Wind. Ununterbrochen. Einen Augenblick später klingt es anders, so als schwinge ein Riese sein überdimensionales Schwert durch die Luft: Sirr! Sirr! Sirr! Hin und Her und wieder zurück, die Luft zerschneidend und alles niedermähend. Ein allzu langer Blick wirkt hypnotisch, und zaubert das schwertschwingende Monster auf meine Netzhaut. Doch mir gefällt nicht, was ich sehe, auch wenn die Bilder in meiner Vorstellung einer gewissen Komik nicht entbehren, die mich lächeln lässt. Ein surreales Bild, überschrieben mit einer deutlichen Überschrift: Technik contra Natur. Zu offensichtlich und schamlos präsentiert sich diese Vergewaltigung des Bergs. Unermüdlich und unerbittlich zerschneidet ein Rotorblatt nach dem anderen die Luft. Nachdenklich folge ich dem Pfad bergwärts und unter die riesigen, sich verjüngenden Säulen, die stämmigen Beine von Riesen auf der Erde. Zum ersten Mal kann ich es nachvollziehen, warum der erdhafte Thor die Riesen hasst. Ich fühle mich winzig, und ziehe bei jedem Schwung der Rotoren, die drehende Schatten unter meine Schritte werfen, den Kopf ein, um mich nicht an ihnen zu stoßen. Mein Weg mäandert unter ihnen entlang, nur ein paar hundert Meter, und ich bin vorbei. Qualvoll sind die Konsequenzen der Energiewende für die Landschaft und ihre tierischen Bewohner. Todesfallen für unvorsichtige Vögel. Es gibt keine Alternative, dass weiß ich, auch wenn die Natur unter den ökologischen und energiepolitischen Notwendigkeiten, die sie retten soll, zunehmend leidet. Doch letzten Endes dienen sie nur dem Menschen. Unsere Verschwendung, unser ausufernder Konsum. Unser Verbrauch der Erde hat uns weit gebracht. Ich werfe einen letzten Blick zurück über die weit ausgedehnte asturische Berglandschaft. Wieder heißt es Abschied nehmen. Noch wenige Schritte, und ich bin in Galicien. Über die Grenze, in die nordwestlichste autonome Region Spaniens, die zwei Meeren gehört: der Bizkaya und dem Atlantik. Der Grat des Alto del Acebo, jenseits des Windparks, ein Weg für einen schönen Nachmittagsspaziergang, zwischen Sträuchern und vereinzelten Bäumen über eine grünbraune Heide.
Die Grenze ist gegenständlich, mehr als eine Vermutung. Vorüberziehende Pilger haben einen sichtbaren Strich durch die Landschaft gezogen, an der mein Fuß unwillkürlich zurückzuckt, als wolle er innehalten. Quer über den Weg verläuft ein Band aus unregelmäßigen blassgrauen Steinen mit glatten Kanten, durch das sich bereits wieder Pflanzen drängen. Die freie Natur lässt sich nicht begrenzen, das versucht nur der Mensch. Die Steine sehen aus wie von einem einzigen großen Block abgeschlagen; Fragmente der Abbauarbeiten eines Steinbruchs. Links am Weg lehnt eine blaue Schieferplatte an einem steinernen Klotz, auf den weitere Steine gehäuft sind. Diese Schiefertafel ersetzt den Monolithen. Der ausgebleichte Abdruck einer ehemals gelben Muschel weist mit der Basis vorwärts. Ultreya! Weiter, nach Santiago de Compostela. Daneben stützt sich ein aus zwei Ästen gebundenes, windschiefes Kreuz an die Böschung. Geografie, Wanderromantik und Religion bilden an dieser Grenze eine Einheit: Steine, Landschaft und Kreuz. Eine improvisierte, unnütze Grenze zwischen Asturien und Galicien für wissbegierige und religiöse Pilger, die auf Ordnung und Struktur nicht verzichten wollen. Einfach und unkompliziert wechsele ich aus einem anderen Land in die gleiche Landschaft. Selbst am Jakobsweg ist Schengen-Raum, gilt das Schengener Abkommen, das Länder in eine Einheit bindet, wie der Jakobsweg seit Jahrhunderten. Übermütig springe ich probeweise hin und her, ohne dass sich irgendetwas ändert. Mit einem letzten, ausgreifenden Schritt bin ich hinüber und in Galicien, folge einem Pfeil aus gleichen Steinen, der auf dem Boden liegt und mir gebieterisch die Richtung weist, obwohl es nur die eine gibt. Ich schaue mich um, ob es hier Anderes zu entdecken gibt. Doch alles sieht so aus wie auf der anderen Seite. Jenseits der Grenzsteine stürzt der Camino auf einer brutal steilen, kurvenlosen und sandigen Piste den Berg hinunter, bis ich das Gefühl habe, dass der Druck die Knorpel in meinen Knien zerquetscht. 166,098 kilómetro steht auf einem weißen Monolithen mit der blauen Kachel, auf der die gelbe Muschel prangt. Bis in die Jakobusstadt werde ich von jetzt an über die noch zurückzulegende Entfernung mit drei Stellen hinter dem Komma informiert. Ob ich will oder nicht, danach hat mich keiner gefragt. Ordnung muss sein. Am Sockel der hüfthohen Säule steht, in kalligraphisch schönen Lettern, der Name der Region: galicia.
Am Fuß des Bergs liegt Acebo, kaum ein Weiler, eher eine Poststation an einer überdimensionalen, asphaltierten Straßenkreuzung. Ich bin in der Provinz Lugo angekommen. Ich bin in der Provinz Lugo und Acebo ist der erste Ort am Camino Primitivo in Galicien, einer Region mit eigener Kultur und eigenem Dialekt, dem Galego, das mit dem Portugiesischen verwandt ist. Ein eigenständiger Dialekt in einem homogen wirkenden Sprachraum ist immer etwas Besonderes. Er bewahrt die Erinnerung an eine überlieferte ethnische Identität: eine gemeinsame Geschichte und Tradition, die tief im keltischen Erbe wurzelt. In Spanien ist dies nicht ungewöhnlich, das Baskenland und Katalanien sind nur die prominentesten Beispiele. Ich bin stolz und aufgeregt in der letzten der Autonomen Provinzen Nordspaniens angekommen zu sein, durch die meine Fußreise führt. Neben dem Baskenland hat mich Galicien von Anfang an am meisten angezogen. Mich erinnern Landschaft und Kultur an die Bretagne, an Irland und Schottland.
Acebo besteht aus wenigen Gebäuden. In einem befindet sich eine kultige Bar, die anscheinend kein Pilger auslässt. Durch die offene Tür schallt Lachen und laute Unterhaltung auf die Straße. Gegenüber der Bar regelt ein riesiger Kreis den Verkehr, in den vier Straßen münden, um gegenüber wiedergeboren zu werden. Ein absurdes Bild, die Gebäude und die Kreuzung, mitten in der ansonsten leeren Landschaft. Vor der gekalkten Hauswand stehen rauchend Pilger und telefonieren. Zeit für einen Mittagsimbiss. Im Hausflur hängt ein Schild von der Decke, dass auffordert, die Rucksäcke abzustellen. Die Gaststube ist zu klein, um beide aufzunehmen, Pilger und Rucksäcke. Der Raum, in dem sich die Bar befindet, ist verwinkelt und eng. Eine goldbraun schimmernde Patina liegt auf allem und prägt eine gemütliche Atmosphäre. Ein überdimensionaler Tresen dominiert die Bar, an den Wänden eine liebevoll zusammengestellte Kollektion von Pilgerdevotionalien und Ansichtskarten. An dem großen Tisch sitzen vier spanische Pilger, zwei Paare, vor sich riesige Bocadillos. Mir bleibt der zweite Tisch im Raum, ein Beistelltisch mit einem wackeligen Stuhl, der sich mit einem Getränkeautomaten unter eine Schräge drängt. Der bärtige Barkeeper, ein Bär von einem Mann, mit breiten Schultern über einem runden Bauch, wieselt zwischen Bar und Küche hin und her und schleppt immer neue Bocadillos an den Tresen, von denen es nur eine Sorte gibt. Die nach und nach eintreffenden Pilger reißen sie ihm erfreut aus den Händen. Ich nenne ihn im Stillen Joe, obwohl das sicher nicht sein Name ist, aber er wirkt wie einer der Barkeeper in einem amerikanischen Film, der vom Goldrausch in Alaska erzählt. Konrad und Renate, die ich vor dem Anstieg auf den Alto de Acebo wiedergetroffen habe, kommen auch herein. Es wird voll in der kleinen Bar am großen Kreisverkehr. Eine Goldgrube. Die Qualität ist gut, der Hunger nach dem Weg über den Berg groß und die Preise gesalzen. Joe hat das Monopol: alle kommen nach dem mühsamen Auf- und Abstieg hungrig und durstig zu ihm in die Bar. Nur Masochisten, scheint mir, gehen an dieser Pilgeroase vorüber und lasse mir das dick mir Schinken belegte Bocadillo schmecken.
In den westlichen Kulturen wird wieder vermehrt gepilgert. Außerhalb Europas, im Islam oder Buddhismus, war das nie anders. Dort hat es keinen Martin Luther gegeben, der spottete, in Santiago verehrten die Pilger die Knochen eines Hundes und nicht die eines Apostels. Es gab dort auch keine Aufklärung, und die Menschen dieser Kulturen haben den Kontakt zu den geistigen Potenzen und Energien des Universums noch nicht verloren. In Europa findet momentan eine Renaissance der Pilgerfahrten statt, von einer Wiederentdeckung des mittelalterlichen Jakobswegenetzwerks ist die Rede, inzwischen Weltkulturerbe. Doch was hat das alles mit der Biografie moderner Menschen zu tun? Die Zeitgenossen sind sich wieder einmal selbst auf der Spur, versuchen, in all den Reizen, die sie täglich umgeben, ihr schwindendes Selbst zu retten. Nicht ihr Wahres Selbst, doch wenigstens ihr Ego, das sich schon immer standhaft geweigert hat, unterzugehen. Pilgern ist kein elitäres Privileg einiger weniger mehr, sondern eine Massenbewegung geworden, die alle sozialen Schichten erfasst hat. Viele Menschen sind heute an einem Scheideweg angelangt. Unsicher darüber, was sie gefunden haben und was sich zu finden lohnt, machen sie sich auf den Weg, oder es sich auf der Couch eines Psychoanalytikers bequem. Pilgern, auf dem Weg sein, so hoffen sie, aktiviert ihre Lebenskraft und treibt aus in Entfremdung verdorrten Gehirnwindungen neue Blüten. Historische und außereuropäische Kulturen, oft als primitiv diffamiert, entwickelten für diesen biografischen Moment spezielle Übergangsrituale, die ihren Mitgliedern Statussicherheit gaben. Jenseits der Selbstdiskreditierung westlicher Religion und der Bruchlandung der Psychotherapie in einer Bauchladenesoterik, bietet die Grenzerfahrung der Pilgerfahrt eine Möglichkeit, die eigene Situation zu überdenken und zu rekonstruieren. Pilgern ist ein Initiationsritual im Rahmen eines biografischen Prozesses. Die kontemplative Rückschau auf die eigene Lebensgeschichte während des einsamen Wanderns dient der Bilanzierung und Selbstvergewisserung. Die Stille der Natur, das organische Gegenüber der Landschaft, fördert die unabgelenkte Konfrontation mit sich selbst. Nirgendwo ist der Mensch so sehr auf sich selbst zurückgeworfen wie in der unkontrollierbaren Natur, den täglichen Herausforderungen der Fremde. Seine Auseinandersetzung mit dem, was er ist, was ihn umgibt, was er weiß und wessen er sicher und fähig ist, hält ihm sein vergangenes Leben vor Augen. Die notgedrungene Achtsamkeit für die Fremdheit von Landschaft und Natur, die Begegnung mit Mitpilgern und Einheimischen, schafft ein imaginäres Gegenüber, das hilft, das eigene Leben einzuordnen und mit neuer Bedeutung zu füllen. Der Aufbruch aus einer offen gewordenen Lebenssituation, der oft ein Ausbruch ist, wird als Fügung oder Schicksal empfunden, als biografische oder spirituelle Krise, auf die Religion und Psychotherapie keine angemessene Antwort mehr geben. Diese Krise, verursacht durch Verlust, Angst oder Schmerz, in der der Mensch in seine primitive Gegenwart zurückgeworfen wird, der Auflösung seines Hier und Jetzt, des vertrauten Dies und Das, erschüttert seine Identität. Die Ungewissheit und Unplanbarkeit einer Pilgerfahrt spiegeln seine biografische Situation. Findet er in dieser Phase auf den Pilgerweg, wechselt er in eine alternative Rolle. Diese temporäre Rolle ermöglicht es ihm, einen Weg zur Bewältigung seiner Krise zu finden. Die Metaphorik, die dem augustinischen Solvitur ambulando zugemutet wird, weist ihn auf diese Chance hin. Pilgern, weil die vertraute Welt zusammengebrochen ist, damit es wieder besser werden kann. Die körperlichen Anstrengungen und Herausforderungen und die Gespräche mit anderen Pilgern reinigen in dieser psychischen Ausnahmesituation Körper, Psyche und Geist. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten sind auch die Trias der psychoanalytischen Methodik. Die daraus folgende, annehmende Anerkenntnis dessen, was ist, wie es ein Buddhist ausdrücken würde, entfaltet ihre heilsame Wirkung besonders fruchtbar in der Liminalität einer Pilgerfahrt. Gleichgültig, ob dieser Prozess bewusst erlebt wird, in den meisten Fällen wird er das nicht, er passiert trotzdem, denn in ihm besteht das Wesen einer Pilgerfahrt.
Dieser Wunsch nach Liminalität wird durch kein bestimmtes Ereignis ausgelöst. Die schwierigen, unbefriedigenden und entbehrungsreichen Situationen des Alltagslebens oder die ungeliebten Anforderungen und Erwartungen der Lebenswelt stellen früher oder später immer die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage danach, ob das, was man tut, auch das Richtige ist. Das kann doch nicht alles gewesen sein / Es muss doch noch etwas geben / Eben, so fasst Wolf Biermann dieses existenzielle Dilemma zusammen, das nur angenommen oder erneut verdrängt werden kann, bevor es in Krankheit mündet oder in einem unreifen Tod endet. Pilgern fördert Distanz, Ruhe und Entschleunigung. Einmal heraustreten aus der Kreativität tötenden Struktur und Routine; heraus aus einem falschen Leben in ein richtiges. Einmal ungestört bedenken, was in diesem Leben wirklich von Bedeutung ist. Pilgern führt zu neuen Optionen für ein verirrtes Leben, ermöglicht neue Entscheidungen, drängt, etwas zu verändern. Gelingen kann ein solcher Prozess nur durch eine radikale, temporäre Trennung aus dem heimischen Umfeld. Neues Leben erfordert eine Abnabelung von der mütterlichen, versorgenden Brust, den ersten Schritt in eine fremde, noch unvertraute Welt. Die Communitas der Pilgergemeinschaft wird auf diesem Weg zum Übergangsobjekt, das neue Wahrnehmungen von sich selbst in Gemeinschaft mit anderen unterstützt und ermöglicht. Neuer Sinn wird gestiftet. Eskapismus und Flucht aus dem Alltag, so mag es beginnen, eine Reflektion fördernde Distanz ist das Resultat. Die physischen und psychischen Herausforderungen des Wegs lassen keine andere Wahl. Die Gewohnheit des kontinuierlichen Gehens sorgt für die Entwicklung von anderen, lösenden Routinen und Kompetenzen sowie die Gewissheit, dass es schließlich leicht wird.
Pilgern ist ritualisiertes Handeln im Hier und Jetzt. Pilgern bewirkt einen biografischen Übergang in einen neuen Status, der im besten Fall mit einer Wiedereingliederung endet und den Prozess abschließt. Manche schaffen es nicht, verweigern die Rückkehr, wie Marius, der Caminosammler. Pilgern stellt einen liminoiden Prozess dar, wie der Ethnologe Victor Turner die mittlere Phase einer Rite de Passage nennt, die der Trennung aus dem alltäglichen Leben vorausgeht, und die in einen neuen Status führen soll. Pilgern unterstützt das Loslassen abgeschlossener Lebensphasen: Pubertät und Jugend, Erwachsensein, den Eintritt in das Dritte Alter. Pilgern stellt die Weichen neu und bereitet auf die nächste Phase einer Biografie vor. Die Bilanzierung der Vergangenheit und der Traum von einer neuen Zukunft bereitet den biografischen Neustart vor. Wer der Bilanz und den Träumen eine zu große Bedeutung gibt, verliert sich in egozentrischem Wollen und Wünschen. Dabei verfehlt er das erneuernde Potential der Liminalität, das sich auf die Gegenwart bezieht, in der es darum geht, sich seiner selbst bewusst zu werden. Wissen wer man ist, was man will und tun kann. Gerade der Verlust der Übergangsrituale in der postmodernen Gesellschaft hat zu einem Rückgriff auf eine alte Technik geführt, die gut geeignet ist, Entwicklungspotentiale freizulegen. Pilgern ist Selbstvergewisserung in der Gemeinschaft mit anderen im liminoiden Zustand der aus der Rolle Gefallenen, derjenigen, die zwischen den Stühlen sitzen. Das Ritual des Pilgerns vollzieht den Übergang von einem schwierig gewordenen Alltag in die Liminalität, in der sich Biografie hin zu einem erwünschten Neubeginn rekonstruiert.
Ausgeruht und satt verlasse ich Joes Bar und gehe die nächste Steigung hinauf auf eine weit ausgedehnte Heide. In der Ferne liegt A Fonsagrada, eine Kleinstadt in neunhundert Metern Höhe, ausgestreckt auf einem Bergkamm. Noch fehlen mir zwölf Kilometer, bis ich ankomme, aber der Blick auf die gewundene Linie der Häuser der Stadt, die wie auf Messers Schneide schnurgerade auf dem Grat liegen, ist spektakulär. Sie sind die einzigen Häuser in dieser bergigen Landschaft und das Ensemble wirkt wie eine mittelalterliche, schwer einzunehmende Festung. Es ist meine Fantasie, die mir ein imaginäres Bild der Wirklichkeit vorspiegelt, denn der Aufstieg nach A Fonsagrada am Ende des Tages ist kraftraubend und erschöpfend. Doch die Ausblicke ins galicische Land sind atemberaubend schön. Für mich sind Mittelgebirge der ideale Landschaftstyp. Noch bin ich ahnungslos, und kann mich an der ungewöhnlichen Lage der Stadt erfreuen. Stundenlang wandere ich auf meist neu angelegten weißen Pisten, durch die braungrüne, gelb gesprenkelte Heidelandschaft, gelegentlich auf Feldwegen oder durch kleinere Wälder, vorbei an einsamen Weilern, Cabreira, Fonfría und Silvela, wo mich der gefährlich freilaufende Hund aus dem Pilgerführer kläffend begrüßt. An Kreuzungen, auf denen ich eine Landstraße überquere, hat die regionale Verwaltung große Plakatwände aufgestellt. Sie wirken wie monströse Karikaturen der Monolithen, die in die Jakobusstadt weisen. Aufgestellt wurden die Tafeln mit den Markenzeichen des Turismo de Galicia in Kooperation mit der Xunta de Galicia. Mit 477.875,45 Euro hat die EU achtzig Prozent der Sanierung des Weltkulturerbes Jakobsweg gefördert. Nach A Fonsagrada bewegt sich der Camino Primitivo auf einer breiten, planierten Piste, die keine Herausforderung mehr bietet.
Spät am Nachmittag erreiche ich Paradanova, ein kleines Dorf am Fuß des Bergs, auf dem A Fonsagrada liegt, den letzten Aufstieg des Tages. Es gibt zwei Varianten, und ich entscheide mich für die traditionelle und kürzere, allein schon deshalb, weil die andere über die Landstraße in die Stadt führt. Zu Beginn ist dieser Weg noch eben, steigt aber schnell immer steiler an, sobald ich das Dorf verlassen habe. Müde und erschöpft, mit letzten Kräften, quäle ich mich einen steilen Weg nach oben auf den Kamm. Endlich komme ich in der Albergue Cantábrico an, wo ich erfahre, der Weg nach oben war nur sechshundert Meter lang. Zimmer frei! Unterwegs hat mich die Vorstellung gestresst, ich bekomme in A Fonsagrada kein Bett mehr, weil es schon so spät ist. Das tägliche Gerede vom Reservieren - Hast du reserviert? Wir haben schon gestern telefonisch reserviert! - setzt mich immer noch unter Druck. Die touristischen Herbergen werden zahlreicher und luxuriöser. Die kommunalen Herbergen lassen sich nicht auf eine Konkurrenz ein, und halten ihr bescheidenes Angebot aufrecht, das durchaus dem liminoiden Prozess dient. Fünfeinhalb Stunden bergauf und bergab waren heute für mich zu viel. Nach einer Stunde komatösen Schlafs erwache ich mit neuer Energie für einen Stadtbummel. Ein schöner Park, spätnachmittägliches Treiben, wenn die Orte zum Leben erwachen und sich für den Abend bereitmachen, flanieren, mich umsehen, verweilen. Ein Kaffee in einer Bar, ein Salat und ein Rotwein auf einer Terrasse, inmitten der Kakophonie spanischer Unterhaltung. Ich treibe durch den Abend und sauge das Leben um mich herum in tiefen Zügen ein. Nach einer Wanderung durch eine einsame Landschaft gibt es nichts Beflügelndes. Schauen statt sprechen! Zurück in der Herberge empfängt mich Bianca mit einem gemischten Salat. Ich widerspreche ihrer Einladung nicht, obwohl der andere Salat noch nicht weit zurückliegt. Gastfreundschaft und freundlich Geschenktes weise ich nicht zurück. A Fonsagrada, die Heilige Quelle, eine Ortschaft, in der Pilger bereits im 12. Jahrhundert gastfreundschaftlich empfangen wurden. Für mich bleibt der Ort die Stadt der Zwei Salate.
Heute Morgen habe ich nachgegeben, es nicht geschafft, nicht zu reservieren. Schon beim Frühstück in der großen Küche kreisen die Gespräche um die Gefahr, am Nachmittag kein Quartier mehr zu bekommen. Die Atmosphäre von Sorge um die nächtliche Sicherheit hat mich angesteckt. Die Etappe, die vor mir liegt, ist länger und herausfordernder als gestern, und führt über zwei Eintausender: der erste Pass bei dem Weiler Montouto, der andere, ist der Alto de Fontaneira. Ich nehme mir vor, es heute ruhiger anzugehen, damit ich nachmittags nicht gleich wieder ins Bett falle. Trotz der Anstrengung wird der Tag entspannt, unterwegs auf einem landschaftlich außergewöhnlich schönen Weg. Der Camino Primitivo führt von der Höhe A Fonsagrado zuerst nur leicht bergab, um in Padrón, einen Kilometer entfernt, wieder kontinuierlich anzusteigen, über die beiden letzten Bergpässe.
Der Camino Primitivo durch die westlichen Ausläufer der kantabrischen Kordillere führt an einer weiteren historischen Pilgerherberge vorbei. Hospital de Montoutu scheint gut erhalten, ist vielleicht nur gut saniert. Hinauf nach Montouto steigt ein gemächlicher Weg unter Weiden, bald auf einer stark befahrenen Landstraße, die in einen Nadelwald einmündet. Zügig geht es bergauf, vorbei an einem beiderseits der Straße gelegenen, verwahrlosten Grill- und Rastplatz, auf einen ansteigenden Waldweg. Kilometerweit ändert sich nicht viel; es geht höher und höher hinauf. Der Wald wird immer lichter, bis er bei Montouto endet. Die letzte Steigung ist geschafft. Der Weiler mit wenigen Häusern aus grob behauenen Bruchsteinen wirkt verlassen. Eine gebeugt gehende, alte Frau, in schwarzer Witwentracht, treibt ein paar Ziegen einen Hang herab. Sie bleibt stehen, stützt sich auf einen krummen Ast, und schaut mir scheu und misstrauisch hinterher. Ein böser Blick. Sie mag anscheinend keine Fremden, selbst nicht, wenn sie Pilger sind. Die täglichen vorbeiziehenden Pilger stören ihre beschauliche Ruhe. Ich verstehe, dass ich ihr nicht geheuer bin. Ihre Ziegen sind nicht so wählerisch. Sie lassen sie hinter sich stehen, und trollen sich heim ins Dorf. Neben einer Hauswand dampft ein Misthaufen.
Die letzten hundert Meter steige ich auf dem schmalen, steilen Pfad auf den Kamm. Die hoch über Montouto gelegene, historische Pilgerherberge beherrscht die Bergkuppe vor einem fantastischen Panorama. Wer von hier aus weiter geht, lässt Schönheit hinter sich zurück. Das Herbergsareal, ein musealer Eindruck vom früheren Leben auf dem Berg. Eine hüfthohe Mauer aus Geröllen umschließt die Ruinen der vielleicht letzten historischen Herberge der galicischen Jakobswege. In der Nähe steht ein Dolmen, ein letztes Fragment einer keltisch-iberischen Vergangenheit, der daran erinnert, dass dies schon immer ein besonderer Ort war. Jenseits der niedrigen Mauer stürzt das Gelände steil hinab ins Tal. Unter einem wolkenverhangenen Himmel dehnt sich das galicische Mittelgebirge bis an den Horizont aus. In auf- und abschwellenden Wellen fließen Hügel und Berge sanft durch die Landschaft. Ein wenig Vorstellungskraft genügt, und der entbehrungsreiche, mittelalterliche Alltag erwacht erneut zum Leben. An die einstige Versorgung der Pilger mit Nahrung und Wärme, besonders in den harten Wintermonaten in dieser einsamen Lage, muss ich mir keine Gedanken machen. Ich sitze auf der Mauer, sonne mich, und lasse mir den Proviant schmecken, den ich morgens in A Fonsagrada gekauft habe. Nahrung und Holz zum Heizen, mit Tragen auf dem Rücken oder mit Eseln in diese Höhe zu transportieren, eine aufwändige Angelegenheit. Für mich gibt es immer wieder eine geöffnete Bar und Brunnen mit frischem Wasser am Weg. Um mein leibliches Wohl mache ich mir heute keine Gedanken. Es wird zunehmend heißer, und mein Wasserverbrauch ist groß, aber gesichert.
Montouto ist die vorletzte Höhe des Camino Primitivo. Noch höher hinauf in die Berge geht es nicht. Cádavo-Baleira, wo ich die Nacht verbringen will, liegt in einem Tal auf siebenhundert Höhenmeter. Von dort geht es in Pradeda ein letztes Mal auf neunhundert Höhenmeter hinauf und nach Castroverde hinunter auf sechshundert Meter. Ich bin kurz vor Lugo, der Römerstadt, und in ein paar Tagen erreiche ich Melide am Camino Francés, wo mich keine steilen Anstiege bis Santiago mehr erwarten. Die Berge der Kordillere liegen dann hinter mir. Ich werde traurig bei dem Gedanken, dass es bald vorbei ist. Aus der kargen Heidelandschaft, mit dem Höhepunkt der Pilgerherberge, führt der Weg bergab ins kleine Paradavella. Gleich am Ortsanfang, auf beiden Seiten des Wegs mit Tischen und Bänken in der Sonne, versammelt das Casa Máson, die verschwitzt und durstig eintreffenden Pilger. Wir kennen uns alle aus den letzten Tagen seit Tineo, und es gibt das übliche Hallo. Vorbeizugehen ist unmöglich. Es ist die zweite Bar, aber die erste kurzweilige Rast des Tages. Es gibt genügend Tische, die im Schatten stehen, aber ich will in die Sonne, um Hemd und Rucksack zu trocknen. Ich setze mich zu den beiden Münchenern, die auf einer der Bänke mit Kaffee und Kuchen sitzen. Milchkaffee serviert man, wie in deutschen Ausflugslokalen, nur im Kännchen, sodass ich zu einem trockenen Croissant zwei Tassen hintereinander trinken kann. Ich stelle meinen Rucksack ab, hänge mein nasses Hemd an den Zaun und lösche gemeinsam mit den Anderen Hunger und Durst. Schöne, wild romantische Wald- und Bergpfade mäandern auf und ab, bis ich die nächste brutale Steigung nach A Lastra geschafft habe. Im Ort erwartet mich die nächste Bar für die verdiente Rast. Wieder treffe ich ein paar Mitpilger und setze mich zu ihnen. Einige Tische und Stühle stehen auf einer schattenlosen Terrasse gleich unterhalb der Landstraße auf der ununterbrochen der Verkehr vorbei rauscht.
Die Etappe nach Cádavo-Baleira ist eine genussvolle, denn immer genau zur rechten Zeit erreiche ich die nächste Bar. Die touristische Logistik des Jakobswegs ist um Komfort bemüht. Die Anwohner haben sich selbst in dieser abgelegenen Gegend längst auf die steigenden Pilgerzahlen eingestellt. Für mich ist dies praktisch. Unnötig, etwas zu essen oder zu trinken durch die Berge zu tragen. Ich habe mich gerade an einen der Tische gesetzt, als die Münchener auf die Terrasse kommen, die sich in die Straßenkurve drängt.
Motiviert und gut gelaunt verlasse ich A Lastra auf die nächste schweißtreibende Steigung, hinauf auf neunhundertfünfzig Meter Höhe, über den Alto de Fontaneiro. Ich habe es mir nicht vorgestellt, doch es ist noch heißer geworden. Die Sonne brennt erbarmungslos vom inzwischen wolkenlosen, tiefblauen Himmel, und saugt mir das Wasser schneller aus der Haut, als ich es trinken kann. Die Höhe von Fontaneiro ist der letzte hohe Pass des Camino Primitivo, der auf eine Heide führt, die weite Aussichten über die galicischen Berge bietet. Höher als siebenhundert Meter komme ich nun nicht mehr. Anders als die asturische Kordillere sind die galicischen Berge weniger schroff, die Täler weiter geschwungen, mit sanfteren Hängen. Viele der Berge tragen ein Kleid dichter Wälder, dominiert von dunkelgrünen Nadelbäumen, zwischen die sich Eukalyptus ausgebreitet hat.
Der Eukalyptusbestand in den nordspanischen Bergwäldern stellt mittlerweile ein besorgniserregendes, ökologisches Problem dar. Der Biologe Don Marcelino Sanz de Sautuola kultivierte Eukalyptusbäume im 19. Jahrhundert im Norden Spaniens. Damals rechnete niemand damit, dass ausgerechnet dieses leicht verwertbare, vielseitig verwendbare Holz derart in Verruf kommen könnte. Der in den spanischen Wäldern heimisch gewordene Eukalyptus ist ein schlanker hoher und schnellwüchsiger, immergrüner Baum. Wuchshöhen bis zu hundert Metern und einem Stammumfang von bis zu zwanzig Metern wurden allerdings nur in Tasmanien, der Heimat dieses Baums gemessen. Ich habe einen nur annähernd so großen Baum in Asturien gesehen. In dem kleinen Dorf La Isla hat mich ein mächtiges Exemplar dieser Gattung vor einer Kirche überrascht. Bis dahin dachte ich noch, dass diese Bäume zwar schlank in die Höhe wachsen, gerade wie Masten, aber nicht wie die mächtigen Säulen antiker Tempel oder gotischer Kathedralen. Der Eukalyptus trocknet den Boden bis in die Tiefe aus. Er senkt den Grundwasserspiegel, verringert den Nährstoffgehalt der Böden und führt zu verstärkter Bodenerosion. Er verdrängt aggressiv andere Pflanzenarten und nimmt den heimischen Tieren ihren Lebensraum. Außerdem verstärkt er mit seinen hochbrennbaren Ölen die Waldbrandgefahr. Der Baum selbst profitiert von den Bränden, da seine Wurzelstöcke und Samen den Brand überleben und sehr schnell wieder austreiben, bevor sich andere Pflanzenarten erholen können. Im Wettbewerb mit den anderen Wildpflanzen dient das Feuer nicht nur der Beseitigung von Parasiten, sondern hilft dem Eukalyptus bei der Fortpflanzung. In der großen Hitze des Feuers platzen die Samenschalen des Baumes und ermöglichen ein Wiederaustreiben auch nach völliger Zerstörung der oberirdischen Pflanzenteile. Immer wieder haben die durch Eukalyptus angefeuerten, intensiven Waldbrände in Spanien und Portugal von sich reden gemacht und sich negativ auf die heimische Fauna ausgewirkt. Inzwischen ist man dazu übergegangen, den Eukalyptusbestand gezielt zu reduzieren, besonders um den Wasserhaushalt in einzeln Regionen zu verbessern.
Die vielen Eukalyptusbäume tauchen den Wald im hellen Sonnenlicht in ein mysteriöses Silbergrün, in dem hinter jedem Baum, hinter jeder Biegung des Wegs ein Fabelwesen lauern könnte. Häufig erinnert mich die galicische Landschaft an den heimischen Schwarzwald eines Tannhäuser oder Holländer Michel. Ich kann mir vorstellen, dass diese Wälder vergleichbare Märchen und Sagen hervorgebracht haben. Obwohl ich mir der ökologischen Problematik bewusst bin, fasziniert mich diese einzigartige Atmosphäre, die der Gemeinschaft von dunklem Tann und lichtem Eukalyptus zu danken ist. Ich fühle mich in diesem Licht in eine grimmsche Märchenwelt versetzt. Den Wald unterbrechen immer wieder Weiden mit Rindern, meist Kühen; Stiere sind selten unter ihnen, doch die wenigen haben mächtige Schultern und tiefhängende Hoden. Schafe und Ziegen, so zahlreich im Baskenland, gibt es kaum noch. Vereinzelt streunen Pferde über Weiden. Der Esel, ein wichtiges Nutztier im Baskenland, scheint in Galicien völlig verschwunden zu sein. Auch Schweine, das Nutztier der Extremadura, wo sie den weltberühmten Jamón Ibérica produzieren, sehe ich nirgendwo.
Die steinernen Monolithen mit den vertrauten Symbolen, sind nicht die gleichen geblieben. Gelbe, aufgemalte, aufgeklebte oder aufgesprühte Pfeile gibt es kaum noch. Dafür stoße ich immer häufiger auf kleine, emaillierte Plaketten oder Kacheln mit Muschelsymbol und Pfeil auf blauem Grund. Die Monolithen mit der Wegmarkierung wirken so neu, als ob sie gerade erst installiert wurden. Sie waren noch nicht lange Wind und Wetter ausgesetzt, wirken, so sauber wie sie sind, frisch und unverbraucht. Von Moos und Algen, von Verwitterung, keine Spur. Jeder Monolith verkündet neben dem obligatorischen Muschelsymbol aufdringlich die restlichen Kilometer - in Hunderten-Zehnern-Einern - die noch bis Santiago de Compostela übrig sind. Und jeder Monolith weist mich darauf hin, wo ich mich befinde: nämlich in Galicien; in schön geschwungenen Lettern, schwarz auf weiß. Aber ich will gar nicht wissen, wie weit ich noch gehen muss. Ich will auch nicht wissen, dass ich gerade erst dreihundert Meter zurückgelegt habe. Und trotzdem erfahre ich es in kurzen Abständen immer wieder. In Galicien befinde ich mich auf einer gründlich ausgeschilderten Strecke, deren Auskunft die Zeit dehnt. Sie geben mir das Gefühl, eine Schnecke zu sein. Der Jakobsweg hat damit begonnen, sich beinahe unerträglich in die Länge zu ziehen. Nach der wochenlangen Wanderung habe ich ein Gespür für die Anwesenheit von Wegmarken entwickelt. Ich sehe sie schon, bevor es mir bewusst ist. Mein Blick fällt automatisch in die richtige Richtung und auf die richtige Stelle. Ich kann es kaum vermeiden. Und nun lese ich ständig: Ich habe weitere dreihundert Meter geschafft. Die Wege bleiben breite, geradeaus führende, planierte Schotterpisten, elegante Wanderwege, die sich wie ein sandiger Highway auf und ab durch Wald und Heide winden. Ein müheloses, aber auch jede Fantasie und Naturromantik erstickendes Gehen. Wege für einen Sonntag-Nachmittag-Spaziergang, bei dem man sich die Schuhe nicht schmutzig machen muss. Mir scheint, in Galicien vollzieht man den Übergang vom Pilgern zum Wandern, und bereitet sich auf eine andere Klientel vor.
Alto de Fontaneiro, die letzte Steigung. Dann beginnt der lange Abstieg nach Cádavo-Baleira, ein kleiner Ort, eine ungeordnet wirkende Ansammlung von Häusern in einer Talsenke, von Hügelkuppen umgeben. Die Pilger können unter drei Herbergen wählen. Sie sind alle ausgebucht, denn nach dreiundzwanzig Kilometern bergauf und bergab sind die meisten Pilger müde und erschöpft und bleiben. Ich bin es heute ruhig angegangen, habe jede Rast genutzt und viel getrunken, sodass meine Muskeln besser mitgemacht haben als gestern. Trotzdem hat mir der lange Weg von Fontaneiro, von der letzten Bar am Weg, bis nach Cádavo-Baleira zugesetzt. Es sind immer die letzten Kilometer, die den Preis einfordern. Die touristische Albergue Porta Santa ist modern, aber bescheiden, ein mehrstöckiges Wohnhaus mit engen Schlafsälen, die keine sind, sondern Zimmer, in denen mehrere Etagenbetten stehen. Sie liegt mitten im Ort, gegenüber der Plaza mit einem kuriosen Denkmal. An der niedrigen Mauer, die den Platz begrenzt, zwingt ein dicker gelber Pfeil die Pilger in eine Richtung. Ich habe reserviert, was ich nicht bedauere, und muss mich dieses Mal um nichts weiter kümmern.
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