Sonntag, 8. Januar 2023

Ankunft in Bilbao


Heute Morgen weiß ich noch nicht, wohin ich gehen soll, nach Larrabetzu, nach Lezama oder gleich nach Bilbao. Es spielt auch keine Rolle, denn es bleibt mir überlassen, wohin ich wandere, denn auf einer Fußreise bin ich keines Menschen Untertan. Es wird auch heute so sein, wie in den letzten Tagen, darauf kann ich vertrauen: abends werde ich irgendwo angekommen sein.

Morgens steht mein Bett in der Jugendherberge in Gernika neben dem des gefürchteten Knisterers. Ich war dem Franzosen aus Toulouse bereits vor ein paar Tagen in Deba begegnet. In dem ausgebuchten Zehn-Bett-Zimmer in Gernika wird er erneut seinem Ruf gerecht. Abends kramt er unermüdlich in seinem Rucksack, in den er alles ordentlich in Plastikbeutel eingepackt hat. Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr setzt er die Suche in den Tiefen seines Rucksacks fort, und ich war unwiderruflich wach. Warum jemand vor dem Morgengrauen aufsteht, und unermüdlich in seinen Plastikbeuteln kramt, während alle im Raum noch schlafen, finde ich wunderlich. Die Nacht war unruhig und das Frühstück ist nicht das beste. Weißes Brot, etwas Butter und Marmelade, dazu dünnen, lauwarmen Kaffee aus dem Tank. Ich schwöre mir: Nie wieder eine Jugendherberge, wohl wissend, dass ich nicht wirklich die Wahl habe. Als ich in den Speisesaal komme, sitzt Karla bereits beim Frühstück, ganz allein in dem großen Raum. Ich sehe ihr an, dass sie nicht erfreut ist, mich zu sehen, doch ich finde es albern, nachdem uns so vieles verbindet, mich an einen anderen Tisch zu setzen. Es wird ein schweigsames, unerfreuliches Frühstück. Gestern Abend hat Karla den beiden Dortmundern verkündet, sie fahre mit dem Bus nach Bilbao. Großstädte erklärte sie ihnen, findet sie fürchterlich, nicht auszuhalten, und hielt sich dabei beide Ohren zu. Was sich daran ändert, wenn sie mit dem Bus in die Stadt fährt, bleibt mir verschlossen. Die Dortmunder jedenfalls zeigen sich spontan begeistert. Ihnen war neu, dass man auch mit dem Bus pilgern kann. Auf diese Idee sind sie von selbst nicht gekommen. Die Dortmunder habe ich heute Morgen nicht gesehen, denn sie schlafen gerne lange. Doch als ich aufbreche, sitzt Karla allein auf einer Bank vor der Jugendherberge und ordnet ihr Gepäck. Der Abschied ist distanziert. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie mir grollt, und erfahre auch nicht, ob sie mit dem Bus nach Bilbao fährt oder doch zu Fuß geht. Sie sagt nichts, und ich frage nicht. Wiedergesehen habe ich sie nach unserem kühlen Abschied in Gernika nicht mehr.

Die Stadt verlasse ich durch eine Wohnsiedlung. Der Küstenweg führt am Rathaus und dem Park der Völker Europas vorbei. Nebelschwaden wabern feucht durch die Luft. Durch den dunstigen Schleier wirkt die Stadt früh morgens grau und unfreundlich. Eine moderne Wohnanlage bildet ein Hufeisen um einen Platz, auf dem mich ein eiserner Pilger ins Freie entlässt. Auf dem Weg durch Gernika sind wir zu sechst, doch jenseits der Stadt verlieren wir uns nach wenigen Kilometern aus den Augen. Wieder bin ich der Langsamste. Nach und nach begegne ich den meisten Pilgern wieder, die mit mir aufgebrochen sind. Die spanischen Decathlon-Roadrunner brauchen häufiger eine Pause als ich. Verständlich bei ihrer Geschwindigkeit und den schweren Rucksäcken. Die Trainierten, die sportlichen Pilger, sehe ich nicht wieder. Langsames Gehen braucht nicht viele Unterbrechungen und mein Rucksack wiegt gerade acht Kilo.
Zum ersten Mal habe ich kein Ziel; ich weiß noch nicht, wohin ich heute gehe. Ich habe beschlossen, mich von Ortschaft zu Ortschaft neu zu entscheiden. Im Baskenland liegen die Pilgerherbergen nah beieinander. Ich will ausprobieren, wie mein Knie mit der neuen Bandage zurechtkommt. In den Windungen meines Gehirns spukten in den letzten Tagen zu viele Abbruchgedanken. Die erste Herberge in Eskerika liegt nur zehn Kilometer entfernt. Die traue ich mir bergauf und bergab zu. Es ist ein Tag wie jeder andere im Baskenland. Zuerst geht es steil und steinig bergauf, dann wieder bergab. Westlich von Bilbao mündet der Küstenweg in die nächste der spanischen Provinzen: Kantabrien. Dann wird es flacher. Milano hat es versprochen, den ich seit Markina nicht mehr gesehen habe. Irgendwo in der Nähe wird er unterwegs sein. Vielleicht sehe ich ihn heute Abend wieder, denn er ist ein angenehmer Begleiter. Auf dem Weg treffe ich ihn nicht, und auch nicht nachmittags in Bilbao.
Langsam, mühsam und schweißtreibend klettere ich über Steine, Löcher und Rillen hinauf in einen schönen Bergwald, durch den eine breite Piste führt, vorbei an einzelnen Höfen, wo mich angekettete Hunde verbellen. Zwischen Laub- und Nadelbäumen sehe ich meine ersten Eukalyptusbäume, die immer dichter stehen. Ich habe gelesen, dass es Eukalyptus ist, sonst hätte ich gestaunt und nicht gewusst, welche Bäume ich vor mir habe. Eukalyptuswälder in Nordspanien habe ich nicht erwartet. Silbergraue, hoch aufragende dünne Stämme mit frischen, duftend dunkelgrünen Blättern, die ovalen Speerspitzen ähneln. Im Schatten, unter den Bäumen, wächst vereinzelt Bambus zwischen Farnwedeln. Wie ein Baum, der nicht in ein europäisches Mittelgebirge gehört, auf die iberische Halbinsel gekommen ist, erzählt mir ein Forstarbeiter, der auf einem Baumstamm seine Mittagspause einlegt. Der Mann, sagt er, dem dies einfiel, war Marcelino de Sanz Sautuola, ein spanischer Jurist, Biologe und Amateurarchäologe. Nicht nur die Kultivierung des Eukalyptus ist heute mit seinem Namen verbunden, erzählt er weiter, sondern auch die Entdeckung der prähistorischen Malereien in der Höhle von Altamira, zwanzig Jahre später, durch seine Tochter María. In wenigen Tagen, fährt er breit lächelnd fort, erreicht der Camino del Norte das Städtchen Santillana del Mar, wo ich die Höhle mit eigenen Augen sehen kann. In der spanischen Landschaft ist der Eukalyptus ein fremder, problematischer Baum. Ökologisch betrachtet, nicht ästhetisch. Vergesellschaftet mit der baskischen Eiche verleiht er den Wäldern ein verführerisches, lichtdurchflutetes Farbenspiel. Aber der Eukalyptus tut dem spanischen Wald nicht gut. Seine tief reichenden Wurzeln senken den Grundwasserspiegel auf Kosten der einheimischen Flora. Zudem ist Eukalyptus ein leicht entflammbarer Baum, der die Waldbrandgefahr in Spanien und Portugal erhöht. Doch das Holz der schlanken, fast astlos hoch aufragenden Stämme ist in der Möbelindustrie sehr begehrt.
Die Piste des Küstenwegs mündet schließlich in einen schmalen, verschlungenen und lehmigen Pfad, der über Steinstufen weiter bergauf führt. Er ist schlammig, wo das Regenwasser der letzten Tage in Rinnsalen den Berg hinabfloss. Wo Erosion die Erdkrume abgetragen hat, wechseln sich knorrige, die Oberfläche durchbrechende Wurzeln, mit langen Passagen geschichteten Schiefers ab. Die stufig übereinander liegenden Platten sehen aus, als hätten vor Urzeiten die Wellen eines lange ausgetrockneten Ozeans das Profil des Hangs geformt. Mir kommt es vor, als ob ich am Strand eines längst vergessenen Meeres unterwegs bin, in Vorfreude, bald den Atlantik wiederzusehen. Unerwartet sehe ich die Herberge in Eskerika nur ein paar hundert Meter abseits des Küstenwegs. Ich bin überrascht, schon zehn Kilometer gewandert zu sein. Die Zeit verging, ohne mir bewusst zu werden. Mir fällt mein Vorsatz ein: Keinen Schritt umsonst! Doch ich gehe weiter nach Larrabetzu. Die nächsten sechs Kilometer. Ich fühle mich gut in diesem fremden Wald, der so frisch und aromatisch nach Sauna duftet. Trotz des fließenden Schweißes genieße ich die warme Sonne auf der Haut. Mein Knie scheint gleicher Meinung zu sein, fühlt sich stabil an und schmerzt das erste Mal seit Tagen nicht.
Im Goikolexea-Viertel in Larrabetzu scharen sich die Häuser um eine große Kirche aus dem frühen 16. Jahrhundert, deren wuchtige Präsenz mich an andere Zeiten denken lässt. Die majestätischen mittelalterlichen Kirchen des frühen Mittelalters, die die umgebenden Häuser wie Festungen überragen, wirken wie Fremdkörper in den kleinen bäuerlichen Gemeinden. Die Hallenkirche Emeterio y San Celedonio erhebt sich auf einem rechteckigen Grundriss über einer früheren Kirche, die im neunten Jahrhundert gegründet wurde, gleich zu Beginn der Santiago-Pilgerfahrten. Der Haupteingang im Barockstil aus dem 18. Jahrhundert ist verschlossen, nicht aber der Nebeneingang. Der von Holzpfosten gestützte Arkadengang ist bemüht, dem Vorübergehenden das ehrfürchtige Alter der Kirche nahezubringen. Die Kirche schmückt ein in Bizkaia einzigartiger Altaraufsatz, spanisch-flämischer Provenienz, der nur mit dem der Kirche Santa María in Lekeitio zu vergleichen ist. Das Hochaltarbild im Stil der Spätgotik und Renaissance stellt Maria mit dem Jesuskind dar, umgeben von Engeln. Darunter Jakobus in der Pilgertracht. Die Sanierung der Kirche legte Fragmente bedeutender spätgotischer Wandmalereien frei. Für die Gottesdienste der Bewohner sind diese alten Kirchen am Jakobsweg viel zu groß. Die wenigen Gläubigen, die noch in die Messe kommen, gehen in den großen Kirchenschiffen verloren. Solche Kirchen haben die Zeit wegen ihrer Größe überdauert. Sie verdanken ihre Existenz ihrer Lage am Jakobsweg. Scharen vorüber kommender Pilger müssen einst an ihre Tore geklopft haben. In ihrer stillen Behäbigkeit, mit verschlossenen Türen und leeren Fenstern, wirken sie auf mich wie verlassen, fast aufgegeben, und ich frage mich erneut, ob sie überhaupt noch jemand nutzt. Hinter der Kirche, kurz bevor die Ortschaft endet, streckt ein im Baskenland ungewöhnliches historisches Pilgerkreuz seine Arme aus. Später in Galicien sehe ich viele dieser Kreuze. Am baskischen Jakobsweg sind diese Wegmarken eines religiösen Koordinatensystems seltener. Das Besondere dieser Kreuze ist die janusköpfige Ikonographie der Darstellung. Auf der Rückseite, im Rücken des Gekreuzigten, befindet sich eine zweite Figur in den Stein geschnitten, meistens eine Darstellung der Maria, aber auch ein Apostel, besonders Jakobus, nehmen diesen Platz ein.
Bis Larrabetzu bleibe ich im Wald, dicht unter Bäumen, ohne Aussicht auf Berge und Meer. Aber zum Mittagessen bin ich im Ort. Larrabetzu ist eins der baskischen Städtchen mit zentraler Plaza, engen Gassen und einer inflationären Anzahl an Bars. Meine Mitpilger aus Gernika bevölkern bereits die Bänke auf der Plaza, und die Tische in den benachbarten Bars sind alle besetzt. Obwohl in den Gassen des Orts eine heimelige Atmosphäre herrscht, bleibe ich nur kurz, denn die Pilgerherberge in der Sporthalle, in der ich übernachten wollte, macht einen traurigen Eindruck. Ich fühle mich noch immer gut unterwegs, es ist warm und die Landschaft lockt mich vorwärts. Gut gestimmt mache ich mich auf den Weg nach Lezama, doch auf der mehrspurigen, stark befahrenen Nationalstraße versickert mein Enthusiasmus. Asphaltgehen mutiert schnell zum Tunnelblickgehen. Den Blick starr geradeaus gerichtet, beschleunigt sich der Schritt von selbst. Plötzlich gibt es nur noch einen einzigen Gedanken: Ankommen!
Die Herberge in Lezama zeigt sich als der nächste Flop. Meine Freude auf eine Dusche und ein Bett, auf dem ich mich ausstrecken kann, wird enttäuscht. Der einstöckige, moderne Flachbau steht noch nicht lange hier. Er sieht aus wie eine Schule oder ein Verwaltungsgebäude, rechteckig und seelenlos. Das eiserne Gittertor ist verschlossen, auf mein Klingeln regt sich nichts in dem Bau. Ich mache es mir auf einer Bank gegenüber bequem und warte, flüchte vor einem Regenschauer in die nächste Bar, und warte weiter. Keiner kommt, kein anderer Pilger ist zu sehen, auch keine Hospitaleros und telefonisch ist niemand zu erreichen. So kurz vor Bilbao will in Lezama niemand übernachten. Mittlerweile ist der Nachmittag vorangeschritten. Ich werde unruhig, besorgt um ein Bett für die Nacht. Es regnet immer wieder, alles ist nass, und Lezama kein Ort, um zu bleiben. Die letzten Kilometer nach Bilbao fahre ich mit dem Bus, ärgerlich, den Nachmittag vertan und den letzten Berg des Baskenlands, den Monte Avril, verpasst zu haben.

Eine halbe Stunde später stehe ich auf der Brücke über den Nervíon, mitten im Zentrum Bilbaos, baskisch Bilbo, der größten Stadt der Autonomen Gemeinschaft Baskenland, und eine der zehn größten Städte Spaniens. Bellum Vadum, eine Siedlung, die Schönfurt geheißen haben könnte, gab es bereits in der Römerzeit. Als Diego López V. de Haro Anfang des 14. Jahrhunderts die Stadt gründete, existierte ein kleines Dorf, Bilbao la Vieja, beiderseits der Ría, in dem Bauern, Schmiede und Fischer lebten. Die Eisenindustrie und das Meer bestimmen die Geschichte Bilbaos bis in die Gegenwart. Die Römer kamen wegen der Bergwerke und des hochwertigen Eisens in die Region. Die Ría ist bis weit ins Land schiffbar, sodass ein geschützter Hafen entstand, der den Import des Eisens einfach machte. Die ersten Hochöfen entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, doch erst nach den Karlistenkriegen kam die Produktion richtig in Gang.
Eine hässliche, graue und schmutzige Arbeiterstadt ist Bilbao schon lange nicht mehr. Architekten und Stadtplaner wählten Barcelona als Vorbild. Obwohl größer und urbaner als San Sebastián, fehlt Bilbao nichts von dem Charme seiner östlichen Schwester. Bilbao summt wie ein Bienenstock. Ständig kommen Busse an und fahren wieder ab, dazwischen moderater Autoverkehr und ein Strom von Fußgängern, der über die Nervíonbrücke in die Altstadt strömt. Orientierungslos lasse ich mich mit der Menge vorwärts ziehen. Als ob der Strom der Fußgänger weiß, was sich für einen Pilger gehört, stehe ich schließlich vor der Bilbaoer Jakobuskathedrale, nach Santiago de Compostela, die einzige andere spanische Kathedrale, die dem Apostel geweiht ist. Der Aufstieg der Catedral de Santiago im Zentrum der Altstadt von Bilbao begann im Mittelalter, als im neunten Jahrhundert der Pilgerboom nach Santiago einsetzte. Jetzt stehe ich staunend vor dem reich dekorierten Kirchenbau, ganz in weiß, wie eine jungfräuliche Braut. Nie zuvor habe ich eine solche Kirche gesehen. Überall mit filigranen Steinmetzarbeiten geschmückt, ragt der weiße Glockenturm himmelgreifend vor mir auf. Die Kirche ist geöffnet. Vor dem Hauptportal herrscht Gedränge. Japanische Touristen, unter die sich einige Spanier gemischt haben, belagern den Eingang, den reich ornamentierte Türflügel schmücken. Das Japanisch des Fremdenführers klingt eigenartig dumpf. Die Japaner lauschen angestrengt, lächeln maskenhaft und klatschen trotzdem begeistert. Dann heben sie unisono ihr Smartphone in die Höhe und fotografieren, was ihr Führer ihnen zeigt.
Die mittelalterliche, gotische Santiago-Kathedrale umgeben die belebten Gassen der Altstadt, deren historische Fassaden der Kirche eng auf den Leib gerückt sind. Das Casco Viejo, eine architektonisch interessante Melange aus Altbauten und modernen Gebäuden der unterschiedlichsten Stilrichtungen, verströmt eine nostalgische Atmosphäre. Bilbao ist mehr als eine Stadt. Bilbao ist ein in Stein gemeißeltes Ambiente vergangener Geschichte, gegenwärtiger Ereignisse und persönlicher Erlebnisse. Die Gassen der Altstadt laufen über von Passanten, die eilen, schlendern, flanieren oder vor einem der zahlreichen Schaufenster stehen bleiben. Sie erinnern an kleine Kinder, die sich lachend und drängelnd einen Weg durch die Menge bahnen. Ich erinnere mich an Familien, die hinter ihren Kindern hergehen, aber mehr Blicke für die reich gefüllten Schaufenster ihrer Umgebung, als für ihre Sprösslinge haben. Ich erinnere mich an Jugendliche, ausländische Besucher in grässlichen T-Shirts, die einen Ball durch die dahineilenden Menschen kicken. Ich erinnere mich an vornehme Geschäfte mit teuren Auslagen, internationale Marken in hell erleuchteten Schaufenstern, die magisch wirken und die Vorbeigehenden in den Bann ziehen. Ich erinnere mich an Souvenirläden mit billigem Tand, den alle kaufen, aber keiner wirklich braucht, an Kioske mit einem zusammengewürfelten Angebot von Ansichtskarten bis zu Getränken, an Bars und Cafeterien, in denen sich die Gäste um die Bar drängen und an den Tischen auf die Bedienung warten. Ich erinnere mich an die vielen schmalen Gassen und die aufgeschreckten Spatzen, Piraten der Städte, die im Schwarm vor den Fußgängern fliehen, nur um sich einen Augenblick später vor der nächsten Bar unter die Tische zu flüchten, um nach leichter Beute auszuspähen. Ich erinnere mich an die überall herumstehenden Touristen, die sich ratlos umschauen, zögernd die Richtung wechseln und immer wieder ihr Smartphone zücken und fotografieren. Ich erinnere mich an den einen oder anderen Pilger, mit Rucksack und Muschel auf dem Rücken, dem die Anstrengung der Tagesetappe ins verschwitzte Gesicht geschrieben steht, einer von denen, die sich mit seltsam entrücktem Blick umsehen. Ich erinnere mich an vier konservativ gekleidete junge Frauen, Studentinnen vielleicht, die am Hauptportal der Jakobuskathedrale fromme Choräle singen, um sich ihr Abendessen zu verdienen. Ich erinnere mich an die Vielen und an die Wenigen. Die einen vorwärtsstrebend, ihren Blick auf die Oberfläche gerichtet, ohne etwas von den Wundern um sich herum zu bemerken, die subtiler sind, als der flüchtige Blick erkennen lässt. Die anderen, die staunend und ehrfürchtig durch die Lebendigkeit der Altstadt streifen, die sie mit jedem Blick in sich aufsaugen. Ich erinnere mich noch gut daran, selbst inmitten dieser Mischung aus Geräuschen, Gerüchen, Gesehenem und Gehörtem, Gedachtem und Gespürtem unterwegs gewesen zu sein, bis sich meine Wahrnehmung in diesem Sinnen-Cocktail verloren hat.

Es erweist sich als mühsam den Bus zur Pilgerherberge nach Kobetabidea / Altamira zu finden. Meine Sinne sind überreizt, und ich bin müde. Während ich fragend von Haltestelle zu Haltestelle laufe, begegne ich Kathleen, die ich aus Zumaia kenne. Ich scheine einen Doppelgänger zu haben, denn sie hält mich zuerst für einen französischen Pilger. Und da sie gut Deutsch spricht, kommen wir schnell ins Gespräch. Sie läuft den gleichen Parcour wie ich, nur dass sie mit ihrem guten Spanisch andere Auskünfte bekommt. Gemeinsam fahren wir mit einem Bus ans andere Ende Bilbaos, in die öffentliche Pilgerherberge in einer renovierten Schule. Als wir gegen acht Uhr eintreffen gibt es noch viele freie Betten. Eine Stunde später sind alle Betten belegt. Kathleen ist Mitte Vierzig, Kanadierin und lebt in Berlin-Mahrzahn, wo sie schon seit Jahren in einem kirchlichen Gemeinwesenprojekt arbeitet. Sie ist noch einmal durch das Baskenland gewandert, nun unterwegs nach Ponferrada, wo sie einige Wochen als Hospitalera aushelfen will. Sie bleibt noch bis übermorgen. Dann fährt sie mit dem Bus an den Camino Francés.
Den späten Nachmittag verbringe ich in der Aterpetxea, in der von freiwilligen Hospitaleras betreuten öffentlichen Pilgerherberge Bilbaos, trinke grünen Tee und esse Erdnüsse. Wir warten auf das Abendessen, ein Menu de Peregrinos, das später abends serviert wird. Während wir uns unterhalten, wird zubereitet und gekocht. Appetitliche Düfte ziehen durch den Raum, und mein Magen fühlt sich mit den paar Nüssen benachteiligt an. Ich sitze mit Kathleen und Karl auf den Polstermöbeln im Gruppenraum. Zusammen mit anderen Pilgern warten wir auf das Abendessen, bei dessen Zubereitung die Hospitaleras keine Hilfe annehmen wollen. Karl aus Aachen, ein guter Freund der Kanadierin, promovierter Chemiker an der Universität, ist zum ersten Mal auf dem Jakobsweg unterwegs, und begeistert wie ich. Wir können uns nicht genug über unsere Erlebnisse auf den baskischen Küstenweg freuen. Wir sind uns einig: Schöner kann es nicht mehr werden. Während wir unsere Erfahrungen teilen, erzählt am Nebentisch ein älterer Pilger von seinem langen Weg zur Erweckung und schwingt fundamentalistisch christliche Reden. Seine jungen Zuhörer machen den Eindruck, als ob sie überlegen, wie sie ihm entkommen können. Dann rufen die Hospitaleras zu Tisch, auf dem aus Schüsseln und Töpfen das Pilgermenu dampft. Alles gegen eine Spende. Die Hospitaleras, zwei ältere Frauen, haben uns königlich bekocht: Brühe mit Kichererbsen, ein Korb mit Brotscheiben, gekochtes Rindfleisch mit Kartoffeln und Gemüse, dazu gemischter Salat, Paprika mit gekochtem Fisch und Äpfel als Dessert. Zu trinken gibt es Krüge mit kaltem Wasser in dem Limonenscheiben schwimmen. Während wir den riesigen Berg verschmutztes Geschirr spülen, hüpft die Unterhaltung hin und her. Meine Füße sind müde und meine Oberschenkel fühlen sich nach vielen Kilometern an wie aus Gummi. Trotzdem bin ich glücklich und zufrieden. Die Euphorie einer geglückten Etappe mit vielen Bildern, Eindrücken und Stimmungen besetzt meine Gefühle und Gedanken bis in den letzten Winkel.


Weiterlesen: Abschied vom Baskenland



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