Montag, 6. Februar 2023

Im Grenzland


Wer reist, der sucht.
Was? Das Andere.
Das Fremde. Und sich selbst.
Wer die Welt nicht aufsucht,
wird sich nicht finden
.
Christian Schüle

Die Ortschaften werden immer kleiner, immer seltener, immer menschenleerer. Vor ein paar Tagen habe ich die Vía de la Plata verlassen, die weiter nordwärts in Astorga auf dem französischen Weg endet. Ich bin in Granja de Moreruelo nach Westen auf den Camino Sanabrés abgebogen, der nördlich entlang der portugiesischen Grenze über Ourense nach Santiago de Compostela führt. Seit mindestens einer Woche wandere ich von einer Sierra in die andere, windzerzauste Hochebenen ohne Landwirtschaft, auf der blühende Sträucher und nur gelegentlich Bäume wachsen. Eine unversehrte Landschaft, eine Heide unter weitem Himmel, sonnengeflutet, sodass das Auge oft schmerzt. Ein Vogelland, ein Pferde- und Kaninchenland, so ausgedehnt, dass es ein Vergnügen ist, zu wandern.
Ich komme gut voran, aber es bleibt kalt. Die Sonne scheint, doch der Wind bläst eisig. Heute Morgen sind es wieder nur zwei Grad. Wieder steife Finger und eine laufende Nase. Nur langsam wird es in der Höhe wärmer, aber noch nicht warm. Trotzdem wird mir heiß beim Gehen, ich schwitze. Der Wind findet jede Lücke in meiner Kleidung und nimmt die fragile Wärme mit sich, die mir lose auf der Haut liegt. Ich friere, flüchte in eine Bar, trinke heißen Tee und freue mich über den Ofen, der die Luft im Raum erwärmt. Mit meiner viel zu dünnen Kleidung bin ich nicht auf diese Temperaturen eingestellt. Wieder habe ich alles übereinander angezogen, was im Rucksack ist. Ultra Light-Wandern im Frühling, auf fast tausend Metern, ist nicht umsonst zu haben. Gewicht ist Angst, das Unbehagen, die vertraute Sicherheit aufzugeben, so propagieren es die amerikanischen Thruhiker. Das ist richtig, aber es fällt schwer, auf warme Kleidung zu verzichten. Aber Wolle ist platzraubend und schwer, Funktionskleidung wiegt noch weniger als Baumwolle. Die ist ohnehin nutzlos. Ist sie erst einmal durchgeschwitzt, trocknet sie ewig nicht. Trotzdem geht es mir gut und meistens fühle ich mich unterwegs wohl. Der Flow des Wanderns schärft alle Sinne, lenkt den Blick weg von den Missempfindungen auf die Umgebung und ermöglicht eine ganzheitliche Präsenz. Er gibt mir psychisch mehr, als es mich physisch kostet.

Es ist Sonntagnachmittag in Asturianos und der Bar drängen sich die Gäste. Männer belagern den Tresen und unterhalten sich lautstark quer durch den Raum. Ob meine Mitpilger alle in ihren Schlafsäcken liegen? Zwei Drittel des Wegs liegen hinter mir. Zwei weitere Wochen. Und was dann? Morgen bin ich in Pueblo de Sanabría, mit 1500 Einwohnern seit langem wieder eine Stadt. Vielleicht repariert mir dort jemand meinen rechten Schuh, dem allmählich die Sohle abgeht.
Am Morgen ist der Himmel noch mit Wolken überzogen, und es sieht nach Regen aus. Jeden Moment erwartete ich den ersten Regenschauer über mir hereinbrechen; doch nur einige schüchterne Versuche, nicht mehr. Im leichten Wind verwehte Tropfen. Es ist nicht mehr so kalt wie gestern, der Nordwind hat verschlafen. Ohne zu frühstücken, gehe ich die ersten drei Kilometer bis in die erste, früh geöffnete Bar, wo man die üblichen Tostadas serviert; dazu einen heißen Milchkaffee. Immer hart an der Regenfront entlang, deren dunkelgrau-schwarze Wolken sich bedrohlich über mir auftürmen, führen schöne Wege bis kurz vor Puebla de Sanabria. Vereinzelt säumen Weiler den Weg, der sich zwischen Mauern hindurchdrängt, die mit Naturstein aufgeschichtet und teilweise eingebrochen sind. Und wieder zwischen Ginstersträuchern über eine Heide und durch kleine Eichenwälder, an deren Baumstämmen graugrüne Flechten wie die zauseligen Bärte alter Männer hängen. Hinter einer Biegung des Wegs stehe ich zwischen Sonne und Regen. Ein Regenbogen, in allen Spektralfarben, wölbt sich über den Camino Sanabrés, von einer Seite der Erde zur anderen. Ehrfürchtig, vor so viel Schönheit, schreite ich durch das bunt gestreifte Tor, hinab in einen Hohlweg, der die über mir Götterbrücke verschluckt. Der Pilgerweg zeigt sich heute von seiner guten Seite. Trotz der Regenfront, die auf die Berge zueilt, wandere ich, in leicht euphorischer Stimmung unter einer wohltuenden Sonne, mein Schritt leicht schwebend, im geliebten Stock-Tanz auf dem Camino. In Triufé mündet der Camino Sanabrés schließlich die letzten Kilometer auf eine Landstraße, die leicht abwärts die ersten Häuser der Stadt erreicht, die im Schatten der historischen Altstadt liegen. Hoch über dem Zusammenfluss von Río Castro und Río Tera thront das Castillo de los Condes de Benavente, die Burg der Grafen von Benavente.

Die Reconquista, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel aus arabischer Herrschaft, bezeichnet die Zurückeroberung der christlichen Reiche sowie die Zurückdrängung des maurischen Machtbereichs (al-Andalus) zwischen dem achten und fünfzehnten Jahrhundert. Regionaler Widerstandswille gegen die Fremdherrschaft und der religiös motivierte Kampf gegen den Islam standen von Beginn an im Vordergrund einer politischen Bewegung. Deren Ziel bestand darin, an das von den Mauren in der Schlacht am Río Guadalete (711) überrannte Westgotenreich anzuknüpfen. Der asturisch-galicische Adel legitimierte mit dieser Ideologie seinen historisch begründeten Anspruch auf die Herrschaft über die gesamte Iberische Halbinsel. Mit der Schlacht von Covadonga im zentralen Bergland von Asturien, unter Führung des legendären, siegreichen Soldatenkönigs Pelayo, beginnt 722 die Rückeroberung, die über mehrere Jahrhunderte andauerte: aus dem Nordwesten (Asturien-Galicien) der iberischen Halbinsel bis in den Süden (Andalusien) des modernen Spaniens und Portugals. 1482 begann die letzte Phase der Rückeroberung, die mehrjährige Eroberung des Königreichs von Granada, des letzten muslimisch beherrschten Territoriums durch die Katholischen Könige, Isabella I. von Kastilien und König Ferdinand II. von Aragón, die erst 1492 mit der Einnahme Granadas endete. Überall im ehemaligen Grenzgebiet der maurischen und christlichen politischen Territorien, entlang der ganzen Vía de la Plata, liegen heute die Ruinen ehemaliger maurischer Festungen (Alcazabas) oder christlicher Burgen (Castillos) auf Hügeln oder Berggipfeln, die erstiegen und besichtigt werden können. Architektonische Ensembles wie in Jimena de la Frontera oder Veyer de la Frontera im westlichen Andalusien, in der Nähe der portugiesischen Grenze, in Málaga oder Almería an der Küste des Mittelmeers, in Covadonga oder Cangas de Onis in der kantabrischen Kordillere im südwestlichen Asturien sowie in Castrotorafe und Puebla de Sanabria im Grenzgebiet der Berge des nordwestlichen Kastilien-León und südlichen Galiciens. Der Camino Sanabrés ist in einer Grenzregion angekommen, die Jahrhundertelang immer wieder in politische Konflikte und territoriale, oft kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wurde. Einst verlief auch hier die Grenze zwischen den Kulturen des Islams und des Christentums, heute die Grenze zwischen Spanien (Provincia Galicia) und Portugal (Região do Norte). Territorialgrenzen sind politisch gezogen, von nationalistischen Interessen motiviert. Geografisch und kulturell war diese Region schon immer eine Einheit, zu der einst auch Asturien und die nordwestlichsten Gebiete Kastiliens gehörten, immerhin begann hier die Reconquista, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel aus maurischer Besatzung.

Puebla de Sanabria ist eine nordspanische Stadt (920 Meter) mit einem bedeutenden historischen Ortskern, nicht weit entfernt von der nordöstlichen portugiesischen Grenze, Hauptort einer Gemeinde (municipio) mit 1.357 Einwohnern in der Provinz Zamora in der Autonomen Gemeinschaft Kastilien-León. Luftlinie sind es nur noch fünfzehn Kilometer bis zur portugiesischen Grenze. Gemeinsam mit Hannover, Montpellier, Szentes (Ungarn) und Kremnica (Slovakia) bescheinigt die EU der Stadt, sich für die Biodiversität der Region zu engagieren, was die Stadtverwaltung stolz auf einem riesigen Schild am Ortseingang verkündet. Puebla de Sanabria liegt am Zusammenfluss von Río Tera und Río Castro, am Nordrand der Sierra de la Culebra. Die Stadt ist zweigeteilt, in eine moderne, die sich an beiden Ufern des Río Tera ausbreitet, sowie in eine historische Altstadt, die auf einem Hügel über den beiden Flüssen liegt. Die nur dünnbesiedelte Region mit ihrem politischen und militärischen Zentrum wurde bereits im 10. Jahrhundert von den Mauren zurückerobert, sodass die Grenze zwischen der christlichen und der islamischen Einflusssphäre bis an den Duero verschoben werden konnte.
Es existiert eine Gründungslegende, die von der Entstehung des fünfzehn Kilometer entfernten Lago de Sanabria, dem größten eiszeitlichen See der Iberischen Halbinsel, und der Gründung der Ortschaft Puebla de Sanabria erzählt. Eine Info-Tafel in der Altstadt erzählt von einem rettenden Steinboot, wie ich ein weiteres später in Muxía antreffe, dass einen Pilger und eine barmherzige Bäckerin vor einer sintflutartigen Überflutung bewahrte. Gott selbst war der Pilger, den niemand außer der Bäckerin mit Nahrung versorgen wollte. Daraufhin nahm der Pilger seinen Stab, like a new Moses, struck the ground, and a jet of water came out floating the whole town, giving rise to Lake Sanabria. In einer anderen Version, so heißt es weiter: […] the pilgrim and the three bakers (sic.) were saved, as they climbed onto a large stone in the shape of a boat, […]. When the strength oft the water subsided, the stone boat stopped at the mountain where the Puebla de Sanabria is located. Heute befindet sich auf diesem Hügel die Altstadt mit dem Castillo und einer bemerkenswerten romanischen Kirche.

Die historischen Daten erzählen eine andere Version der Geschichte der Ortschaft am Zusammenfluss der beiden Flüsse: Die Altstadt ist eine der ältesten Siedlungen der Provinz Zamoras, 509, in westgotischer Zeit, erstmals schriftlich erwähnt. Aus dem siebten Jahrhundert, ebenfalls noch in westgotischer Zeit, ist eine Kirche in Senapría bekannt und eine Urkunde des späten 10. Jahrhunderts erwähnt eine Stadt mit Namen Urbe sanabrie. Die ersten Jahreszahlen für eine Befestigung auf dem Hügel zwischen den Flüssen, ist für 1132 belegt, und schon hundert Jahre später stattete Alfons IX. den Ort mit städtischen Privilegien (fueros) aus. Die majestätische Burganlage, das Castillo de los Condes de Benavente, das heute die Altstadt auf dem Hügel beherrscht, ließ Don Rodrigo Alfonso de Pimentel im 15. Jahrhundert bauen. Die Festung der Grafen von Benavente ist ein imposantes Bauwerk auf einer fünfzig Meter hohen und strategisch gut zu verteidigenden Anhöhe oberhalb der beiden Flüsse, die die Anlage auf drei Seiten umschließen.

Die beiden Sakralbauten der Altstadt auf dem Hügel, die romanische Iglesia Santa Maria del Azogue (1170), mit Renovierungen im gotischen Stil aus dem 13. Jahrhundert, sowie die benachbarte Ermita de San Cayetan, stehen in ihrer historischen, theologischen und kunsthistorischen Bedeutung dem Castillo in nichts nach, das vom 16. bis 18. Jahrhundert wiederholt verändert wurde. Wie es für solche Bauten im Mittelalter üblich, stehen Kirche und Erimitage auf dem höchsten Punkt des Ortes, wobei die Kirche die Burg noch überragt, sodass klargestellt war, wer wem zu dienen hatte. Die Kirche Santa María del Azogue repräsentiert ein herausragendes Beispiel für gotische Kunst und Architektur, deren Bedeutung weit über die religiöse Sphäre hinausgeht, da sie zur kulturellen und kunsthistorischen Geschichte der Region beiträgt; eindrucksvolles Beispiel gotischer Skulptur und christlicher Ikonographie im Mittelalter. Es ist kaum möglich, an den beiden Portalen der Kirche aus dem 12. Jahrhundert achtlos vorüberzugehen. Ihre romanische Aura nimmt den Passanten unmittelbar in ihren Bann. Das Südtor befindet sich unter einem Vorbau zwischen dem Turm und dem Südarm des Querschiffs. Es besteht aus drei halbkreisförmigen Archivolten, die sich bis auf die Pfosten ausweiten. Der äußere Bogen ist mit vierblättrigen Blüten verziert, der mittlere ist ein Baquetón, der von Stielen umgeben ist, die sich zu Rauten kreuzen. Der Innere der gewölbten Bogen besteht aus einem Nabel zwischen zwei Tüllen.

Der bedeutendste Gebäudeteil ist allerdings das erhöht liegende und nur über einen Treppenaufgang erreichbare spätromanische Westportal der Iglesia Santa Maria del Azogue mit seinen vier Gewändefiguren, den figural, vegetabilisch und geometrisch dekorierten Kapitellen und den vier spitzen, gotischen Archivolten. Diese Skulpturen sind nicht nur religiöse Darstellungen, sondern spiegeln auch die handwerkliche Kunst jener Epoche wider. Angeblich bezieht sich die eindrucksvolle Ikonographie des Westportals auf das Jüngste Gericht, die Abrechnung, bei der die Gerechten von den Sündern getrennt werden. Die Figuren, die diese Szene darstellen, sollen Engel, Heilige und die Verdammten sein, die auf die ewige Belohnung oder Bestrafung hoffen. Die Steinmetzarbeiten sind allerdings so verwittert, dass ich diese Interpretation nicht nachvollziehen kann. Die beiden Figuren auf den seitlichen Säulen des rechten Portalgewändes erscheinen durch ihre kronenartigen Kopfbedeckungen als König beziehungsweise Königin. Über dem Kopf der Frau wurde ein Kapitell mit der Paradiesszene in den Stein geschnitten: Eva und die Schlange. Die Darstellung über dem Kopf des Mannes ist so stark verwittert, dass ich nicht genau erkennen kann, was die Szene darstellt; am ehesten liegende Menschen. Die Figuren auf der linken Seite sind barhäuptig. Drei der vier Figuren tragen Gefäße oder ähnliches in den Händen, die Gaben oder Geschenke sein können. Die sechs Kapitelle zeigen unterschiedliche Motive, kleine Figuren, vegetabilische Formen oder geometrische Flechtbänder. Die im Scheitel angespitzten und reich profilierten Archivolten im äußeren Bogen sind mit aneinandergereihten Kugeln gefüllt. Über dem Schlussstein hat der Steinmetz einen bärtigen Ritterkopf eingelassen und ein von einem Zackenbögen eingefasstes Rundfenster.
Die dem Heiligen Cajetan geweihte Einsiedlerkirche, Ermita de San Cayetano, mit ihrer barocken Fassade und dem einfachen Glockengiebel (espandaña) schließt sich unmittelbar nördlich der Kirche an. Kajetan von Thiene war ein italienischer römisch-katholischer Geistlicher und Mitbegründer des Ordens der Theatiner, einer neuartigen Ordensgemeinschaft (Ordo Clericorum Regularium, vulgo Theatinorum) im 16. Jahrhundert, die die Missstände im Klerus bekämpfen sollte.

Ich habe die Stufen hinauf in die historische Altstadt nicht gezählt, doch später hörte ich, dass es 230 sind. Als ich am späten Nachmittag im frischen Wind an der Burgmauer stehe, kann ich im Nordwesten den höchsten Berg Galiciens sehen, den 2127 Meter hohen Peña Trevinca im gleichnamigen Bergmassiv. Vor der Burg angekommen, ist die Aussicht fantastisch, und jeder Schritt hinauf, hat sich gelohnt. An eine Brüstung gelehnt, sehe ich jenseits der Brücke des Río Tera die Häuser der Stadt an seinen Ufern, die sich entlang der Hauptstraßen aneinanderreihen. Es dämmert, und auf den Straßen schalten die ersten Autos ihre Scheinwerfer ein, während hinter mir die Sonne in einem nassen Sack versinkt. Es ist einer dieser Augenblicke, die nur auf einer tagelangen Wanderung zu erleben sind, wenn die Grenze zwischen Leib und Natur allmählich durchlässig worden ist. Erst gestern las ich es in Worte gefasst, zusammen mit einer rankenden Pflanze und der Muschel, an die ockerfarbene Wand eines Hauses gesprüht:

Nada mas pido          Mehr verlange ich nicht,
el cielo sobre mi          den Himmel über mir
y el camino bajo mi pies          und die Straße unter meinen Füßen.

Nachmittags bekomme ich meine Schuhe wieder. Der Hospitalero hatte mich gleich bei meiner Ankunft mit einem befreundeten Schuster bekannt gemacht. Mit besorgtem Gesicht musterte dieser die Sohlen meiner abgelaufenen Schuhe, und murmelte etwas von Entengang. Unverlangt bekam ich abends nicht geklebte, sondern neu besohlte Schuhe, eine glatte, glänzende Ledersohle mit Absätzen, die mir eher für Tanzschuhe geeignet erschienen. Skeptisch, ohne es mir anmerken zu lassen, musterte ich sein gut gemeintes Handwerk und bedankte mich, hoffentlich nicht mit zu skeptischer Miene. Nach beinahe zweitausendfünfhundert Kilometern stand ich nun mit meinen neu besohlten Schuhen in den galicischen Bergen, mit Sohlen, mit denen ich mich selbst in der Stadt nicht wohl gefühlt hätte und rätselte darüber, wie ich ab morgen auf diesen Sohlen unterwegs sein würde.

Das Wetter bessert sich zunehmend. Die Sonne gewinnt den Streit mit den Wolken und der Himmel ist strahlend blau. Die Heidelandschaft, der mäandernde Pfad zwischen Felsen und Sträuchern, das erhebende Gefühl, tagelang über eine ausgedehnte Hochebene zu wandern, die mir allein gehört, ist berauschend. Die Stunden in den Herbergen, in denen wir zusammensitzen und erzählen, von Jetzt und Früher, die Beziehungen, die in einem Moment entstehen, sich im nächsten wieder auflösen, machen meine Wanderung zu einem Ensemble von mannigfaltigen Eindrücken, wie ich sie sonst in dieser Dichte nicht erlebe. Der Camino Sanabrés begeistert mich immer mehr. Bisher dachte ich, der Camino Primitivo ist mein Favorit unter den Jakobswegen, die ich gegangen bin. Doch ich beginne zu zweifeln. Die Wochen auf dem Camino Primitivo, durch dichte Wälder und über hohe Pässe, waren sicherlich ein Highlight, doch der Camino Sanabrés, obwohl landschaftlich sehr verschieden, bleibt nicht dahinter zurück. Wir saßen gestern Abend noch lange zusammen, wir erzählten vom Castillo und der Altstadt, deren Atmosphäre zwischen Geschichte und Moderne oszilliert, zwischen quirligem Tourismus und beschaulicher Abgeschiedenheit in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden.
Es ist schon spät, als ich nach einem guten Frühstück, was selten ist, nach Requejo de Sanabria aufbreche. Ich steige noch einmal in die Altstadt hinauf, zum zweiten Mal die 230 Stufen, was mit Gepäck spürbar anstrengender ist, und überquere die am Vormittag noch erstaunlich leere Praza Mayor. Niemand ist unterwegs, und die historischen Fassaden wirken aus der Zeit gefallen. Der Trampelpfad auf der gegenüberliegenden Seite ist gesperrt, doch es stellt kein Problem dar, über die Absperrung zu steigen. Ich kann mir nicht vorstellen, die Stufen wieder hinabzusteigen. Der Pfad führt ins Tal hinab an den Río Castro und auf eine Landstraße. Ein paar hundert Meter schlendere ich am Ufer entlang, bevor die Straße auf einen feuchten Pfad am schnell fließenden Rio Castro endet. Eine schattige Flusslandschaft mit Bäumen und Sträuchern auf der Böschung, der Pfad übersät mit Kieseln. Wahrscheinlich tritt der Fluss regelmäßig über seine Ufer, und ich wandere in einem ausgetrockneten Flussbett. Die Wanderromantik endet, als ich an dem Werk ankomme, das den Schotter herstellt, über den ich laufe. Lautstark und staubig häckseln Maschinen die Gerölle aus dem Fluss in verschiedene Größen. Den Weg bedeckt eine zentimeterdicke Staubschicht, über die ständig LKW fahren und wirbelnde Staubfahnen hinter sich herziehen. Die Luft ist mit grauweißem Staub gesättigt und ich versuche so wenig wie möglich von dem Dreck einzuatmen. Unmöglich. Der Weg am Werk vorbei ist zu lang, und der Staub hüllt mittlerweile Haare, Kleidung und Rucksack in eine pulvrige Decke. Hinter mir sehe ich Paul und Angela, den Mund mit einem Schal bedeckt, im nebeligen Dunst.

Nach der wohltuenden, feuchten Kühle auf dem Uferweg am Río Castro, nach dem erfrischenden Plätschern und Quaken der Frösche, ersticken die trockene, schmutzige Spur des Schotterwerks, das verstaubte Grün der Pflanzen, die trockenen Nasenschleimhäute und der schlechte Geschmack im Mund, meine Wanderlust und ich lasse eilig meine Stöcke fliegen. Es ist ein befremdliches Gehen, auf den neu besohlten Schuhen, denn ich bin keine Absätze gewöhnt. Mir fällt der Schuster wieder ein, der vom Entengang sprach, prophetische Worte, denn ich komme mir inzwischen vor wie das watschelnde Geflügel, allerdings auf dem Trockenen. Ausnahmsweise bin ich froh, dass jenseits des Werks eine Landstraße beginnt, neben mir die LKW ihre steinige Fracht transportieren. Allzu schnell bin ich zurück auf einem holprigen, unebenen Pfad, der meine Trittsicherheit unangenehm prüft. An einer Furt, über die glatte Trittsteine führen, rutsche ich auf einem losen Stein aus und entledige mich auf unerwartete Weise vom ersten Staub. In der Flussaue, in die mein Wiesenpfad mündet, warten bereits die mächsten LKW und laden staubend und lärmend weitere Gerölle auf, das Rohmaterial für den Schotter. Noch einmal wandere ich durch Staub, bevor ich zwischen einer weidenden Kuhherde ans Ufer des Río Castro zurückfinde. Zurück am Fluss, an einem Fischerhäuschen (Refugio de Pescadores), lasse ich den restlichen Staub flussabwärts fließen. Der Wiesenweg, von dem zuletzt nur noch eine grasige Spur bleibt, endet in einer pfadlosen Wiese zwischen Strommasten. Ein schmaler Bach mäandert durch die Wiese, den ich auf Steinen und Baumstümpfen mehrmals überquere, bis ich den Wald erreiche, wo ein Waldweg auf der Höhe an einer kleinen Kapelle, der romanischen Iglesia de Santiago de Terroso, endet. Die Sonne scheint verführerisch auf eine Steinbank unter den Arkaden. Suzanna sitzt vor der Kapelle und weint, denn der Freidhof der Kapelle erinnert sie an eine verstorbene Freundin. Paul und Angela ziehen winkend vorüber, Angela unter ihrem Sonnenschirm. Der Waldweg steigt bergauf, teilweise nass und steinig, kreuzt einige Male die Autobahn, und mündet schließlich in einem verwunschenen Hohlweg. Terrosso liegt menschenleer in der Mittagssonne. Auf eine Lichtung, wo weiß der Ginster blüht, verliert sich der Weg zwischen locker verteilten Bäumen. Suzanna irrt zwischen den Bäumen umher, auf der Suche nach einem Weg nach Requejo, den wir schließlich zwischen Büschen versteckt wiederfinden. Ein Bach hat sich über sein Bett hinweg ausgebreitet und fließt in mehreren Armen durch den Wald. Wieder balanciere ich über kleine Steine und Äste, vorsichtig, um nicht erneut in Matsch und Wasser zu treten. Eine letzte Biegung und die Kirche von Requejo taucht vor uns zwischen den Bäumen auf. Juan und Gert warten bereits in der Herberge. Es gibt kein Licht in Bad und Toilette, dafür eine Wiese in der Nachmittagssonne, auf der ich träumend Zeit verschwende, träge dösend wie eine Katze. Der Himmel ist wolkenlos blau und verstrickt sich in mediterrane Klischees. Die Sonne wärmt, brennt nicht, und der Wind schläft. Juan neben mir spinnt ohne Pause Caminolatein, dass nur träge in meine schweifenden Gedanken dringt. Aufgeheizt von Sonne und Worten werde ich schläfrig und strecke mich im kühlen Haus aufs Bett. In der kleinen Bar an der Hauptstraße verbringen wir den Abend mit Gespräch, Tapas und Rotwein. Ich vermisse Paul und Angela, mit denen ich die letzten Abende verbracht haben. Ob sie die dreißig Kilometer bis Lubián gegangen sind? Ich kann es mir kaum vorstellen.
Wir haben uns bewusst entschieden, im kleinen, eher uninteressanten Requejo zu übernachten, denn der Ort liegt am Fuß der Portilla de Padornela, mit 1352 Metern der höchste Pass der gesamten Vía de la Plata. In Erwartung eines anstrengenden und schweißtreibenden Aufstiegs habe ich im Halbdunkel gefrühstückt, doch es kam alles wieder einmal anders. Eigentlich weiß ich es längst, dass es wenig Sinn macht, auf einer Fernwanderung durch fremde Landschaften Pläne für den Weg zu schmieden. In Requejo verpasse ich die Abzweigung auf den Pilgerweg, weil ich einem Pilger hinterhergehe, von dem ich annehme, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dass es nirgendwo gelbe Pfeile gibt, ist mir in meiner Morgenmüdigkeit nicht aufgefallen. Auf dem Asphalt der breiten, stark befahrenen N-252 trotte ich, eingelullt vom Herdentrieb, hinter meinem Mitpilger her. Der Aufstieg über die lange, nur allmählich ansteigende Landstraße ist anstrengend und schweißtreibend und zieht sich zäh in die Länge. Die N-252 stößt auf dem Pass auf eine große AVE-Baustelle sowie die Autobahn A-52 von Benavente und endet in Porriño. Schon früh morgens sind viele Autos unterwegs, Durchgangsverkehr und Baustellenverkehr, und ich muss mich am Rand der Landstraße langsam aufwärts kämpfen, meinen Mitpilger mittlerweile aus den Augen verloren. Der LKW-Verkehr der AVE kreuzt und zerschneidet den Camino Sanabrés, sodass es keinen Sinn mehr macht, umzukehren. An einem Wendehammer treffe ich meinen Mitpilger wieder, der im Staub der Straße rastet. Er hat sich für die Landstraße entschieden, erklärt er mir, weil der Camino Sanabrés vom Baustellenverkehr sehr in Mitleidenschaft gezogen ist. Außerdem verläuft die Landstraße durch einen Tunnel und nicht über den Pass, was für ihn bequemer sei. Doch noch einmal kommt es anders, als ich erwarte. Ein paar Kilometer vor dem Tunnel finde ich die gelben Pfeile wieder. Dazu eine Hinweistafel der Bauunternehmer: Road To Santiago - Temporary Diversion Building Site - We Apologize For The Inconvenience. Endlich lasse ich den Asphalt hinter mir. Die eben noch gerade ansteigende Straße mündet auf einen krummen, staubigen und steinigen Weg, auf dem ich mit meinen neuen Sohlen keine gerade Stelle für meinen Fuß finde. Unter den Brücken von Autobahn und Landstraße hindurch umrunde ich in einem großen Bogen das Tal des Río Requejo, der lärmend den Berg hinab über die Felsen rauscht, und alles Motorengeräusch schluckt. Der Camino Sanabrés quert den Fluss und steigt moderat auf die Portilla de Pardonela hinauf. Wenig anspruchsvoll und unspektakulär, und nichts von der erhofften Aussicht. Unter einer Gruppe Birken steht einladend eine Bank aus schwarzweiß gesprenkeltem Granit und ein monumentales weißes Steinkreuz. Hinter mir¸ auf einem Bergkamm, drehen sich die Rotoren eines Windparks und unten im Tal warten die A-52 und die N-525. Mit jedem Schritt hoffte ich, dass ich eines Tages wiederkomme, um den Weg von Requéjo nach Lubián unversehrt wandern zu können.

Das Dorf Pardonelo wird von der Landstraße in zwei Teile zerschnitten, hat aber einen heißen Milchkaffee für mich. Es folgen weitere, ermüdende Kilometer auf Asphalt, langweilig und monoton, und wegen der vielen LKW unangenehm zu wandern.Ich drücke mich von nah an die Leitplanke auf dem unbefestigten Seitenstreifen, zum Gehen kaum geeignet, weil er auf einer Hangkante verläuft, neben der er steil ins Tal abfällt. Wieder blockiert der Bau der AVE-Trasse den ursprüngliche Camino Sanabrés. Gelbe Pfeile weisen einen Weg über die Autobahnbrücke. Ein vorbeikommender LKW-Fahrer hupt und winkt und signalisiert mir, nicht abzubiegen, aber ich habe ein komisches Gefühl und ignoriere sein Winken. Mein Misstrauen beschert mir den schönsten Abschnitt meiner Wanderung an einem Tag, den ich schon abgeschrieben habe.
Eine Unterführung unter Landstraße und Autobahn endet auf einem leicht ansteigenden Schotterweg. Noch in der Unterführung sehe ich auf der anderen Seite eines Tals Lubián auf der Traufkante eines Bergs in der Sonne liegen. An der Bergflanke reihen sich die Häuser des Dorfs, eins an das andere, hoch über ihnen der Windpark, der sich über die Kuppe des Berges ausbreitet. Was nach einem Katzensprung aussieht, entwickelt sich zu einer weiteren Wanderung, allerdings ungestört von den Segnungen der Zivilisation auf Wald- und Wiesenwegen. Ich weiß nicht mehr, wo ich wandere, ob noch auf dem Camino Sanabrés oder selbstgewähltem Pfad, denn mein Weg verläuft zuerst in die entgegengesetzte Richtung, parallel zur Autobahn, deren Geräusche die Naturgeräusche noch eine Zeitlang begleiten. Doch ich habe Lubián in der Höhe fest im Blick, denn das Tal ist weit und ausgedehnt, und ich fühle mich mit meiner Entscheidung gut. Der Wald- und Wiesenweg schlängelt sich immer tiefer ins Tal hinab und Lubián entfernt sich immer weiter, bis ich doch unsicher werde, und sich das vertraute mulmige Gefühl, das zu dieser Situation gehört, einschleicht. Ich frage mich, ob ich wieder eine Abzweigung übersehen habe. Doch mir gefällt der Pfad zwischen Bäumen und über Wiesen, steinig und von Rinnen zerfurcht, der in einer kurvenreichen Schlangenlinie durch das Tal führt. Die Landschaft hat sich wieder verändert, wird abwechslungsreicher, waldiger und unübersichtlicher. Bäume, Sträucher und Unterholz versperren die Sicht, nur selten öffnet sich eine Lichtung oder der Weg steigt aufwärts. Lubián ist der letzte Ort in Kastilien, in der Provinz Zamora. Nur noch zwei Tage, dann erreiche ich die Grenze nach Galicien, aber schon jetzt kündet viel von den waldreichen Mittelgebirgen Galiciens. Eiserne Schwellen liegen über einem Bach. Auf der anderen Seite endlich der erlösende gelbe Pfeil. Ich bin genau da, wo ich hingehöre, obwohl Lubián noch immer weit hinter mir liegt. Eine Steigung, der Weg nimmt einen weiten Bogen, noch ein Blick auf den Ort, und dann hinab in das bewaldete Tal des Río Pedro. Über eine behelfsmäßige Brücke erreiche ich schließlich die letzte Steigung hinauf in den Ort.

Die Herberge von Lubián liegt gleich am Ortsrand. Juan, der heute Morgen im Dunkeln in in Requejo aufgebrochen ist, steht ausgehfertig im Schlafsaal. Wie bereits gestern erklärt er mir die Regeln. Sternschnuppen habe er heute Morgen gesehen, sagt er noch im Vorübergehen, dann ist er weg. Auch der Franzose, dem ich morgens hinterhergelaufen bin, ist bereits eingetroffen. Und dann kommen sie einer nach dem anderen an, doch Betten gibt es genug, auch wenn es im Schlafsaal wieder eng ist. Suzanna strahlt, als sie von dem Wolf erzählt, den sie weit unten im Tal gesehen hat, als sie rastete. Von einem Mann erfuhr sie, dass die Wölfinnen ihre Jungen bekommen, wenn eine bestimmte Pflanze blüht. Den Namen weiß sie nicht mehr. Wenn im Winter auf den vereisten Straßen Lubiáns Salz gestreut wird, weiß der Mann ihr zu erzählen, kommt das Rotwild aus der Deckung, um das Salz auf der Straße aufzulecken. Die Wölfe wissen das, und machen reiche Beute. Sicher denke ich, während Suzanna erzählt, Lubián, Lobos, Wölfe.
Abends treffe ich mich mit Suzanna und Gert in der Bar Javi an der Hauptstraße zum Abendessen: Menu de Peregrinos. Marius, nicht Westernhagen betont er lachend, der sich einen Caminosammler nennt, setzt sich zu uns an den Tisch und hört nicht mehr auf zu erzählen. Er ist Manager bei VW in Wolfsburg und caminosüchtig und geht den Camino Sanabrés nun in die entgegengesetzte Richtung, weil keiner mehr übrig ist, den er vorwärts gehen kann. Das ist schwieriger, sagt er. Die Wegmarkierung ist unvollständig, und er rechnet mit fünfzehn bis zwanzig Prozent zusätzlichen Kilometern. Er kennt alle Jakobswege in Spanien, brüstet er sich, und hat ein paar davon schon mehrfach begangen. Sicher, ich liebe meinen Luxus zu Hause, Wohnung, Auto und Klimaanlage, doch der Camino, das ist etwas anderes. Marius ist nicht nur caminosüchtig, denke ich, er ist auch narzisstisch und leistungsorientiert. Ich höre zu, nicke, zeige mich beeindruckt und denke mir das Meine. Mit einem Narzissten mitzuhalten, steht mir nicht der Sinn. Im letzten Licht der Sonne verlasse ich die Runde und flaniere zufrieden durch schmale Gassen, in denen sich schiefergedeckte Häuser aus Granit an die Traufkante drängen, in die Dämmerung hinein, die sich über das kleine Bergdorf Lubián ausbreitet. Schon morgen verlasse ich wieder einen Ort, an dem ich mich spontan wohl fühle. Pilgerleid und Pilgerglück liegen nah beieinander. Morgen noch eine Nacht in A Gudiña, und ich überquere auf dem A Canda-Pass, in 1259 Metern Höhe, wo sich der Wald lichtet zwischen Heidekraut die Grenze nach Galicien. Galicien begrüßt mich angemessen. Dunkle, fast schwarze Regenwolken ziehen sich über dem Pass zusammen und schütten kurz darauf ihre nasse Fracht gleich mehrmals über mir aus.

Weiterlesen: Der galicische Karneval


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