Sonntag, 15. Januar 2023

Am Scheideweg


Jede Pilgerfahrt findet zwischen zwei biographischen Polen statt: eine Zeit des Aufbruchs und eine Zeit der Rückkehr. Dazwischen, in einer unbestimmten Zwischenwelt, ist der Pilger sich selbst und anderen ein Fremder, ein Peregrinus. Dort wo er ist, ist er ein Ausländer, einer, der weit weg von zu Hause ist, einer Welt gegenübersteht, der jegliche Vertrautheit fehlt. Unterwegs wird mir die Vergänglichkeit meines Lebens am deutlichsten bewusst. Während ich weiter gehe, verändert sich ständig alles um mich herum. Nichts bleibt, nichts kann ich festhalten, wie es in den Phasen der Sesshaftigkeit zu sein scheint, in denen man hofft, das Erreichte habe Bestand. Wir müssen zuerst vergessen, damit wir in der Erinnerung wieder erleben können, was an uns vorbei gegangen ist. Wir verstehen unser Leben immer erst im Nachhinein. Auf jeder Wanderung gibt es etwas zu erleben, jede Landschaft erzählt Geschichten. Reisen ist eine Bewegung im Raum, Erinnerung ist eine Bewegung in der Zeit, die uns unser Leben schließlich bewusster macht.

Der moderne Pilger ist ein Homo viator, ein Wanderer, ein Eigenartiger, einer der in einer automatisierten Welt beginnt, zu Fuß zu gehen. Er ist kein einsamer Kämpfer, der gegen den Strom schwimmt, kein Aussteiger oder seltsamer, irgendwie übriggebliebener Kauz, sondern einer, der gemeinschaftlich mit vielen gegen die Trägheit und Gleichgültigkeit der Welt angeht. Er ist einer, der aufrecht durch die Menge geht, die ihn verwundert, oft misstrauisch beäugt. Doch für ihn scheint die Möglichkeit einer Freiheit auf, wie am Morgen die Sonne rot über den Horizont klettert. Deshalb bleibt er seinem Zuhause für Wochen oder Monate fern. Er ist einer, der sich Verzicht und freiwilligen Prüfungen unterzieht. Pilgern ist Askese, und findet wie jede Askese in einem Zwischenraum statt. Wer heutzutage auf einen Pilgerweg geht, legt nur noch selten ein ostentatives Glaubensbekenntnis ab, wie es für den mittelalterlichen Pilger selbstverständliche Pflicht und Zweck seiner Fußreise war. Wer heute auf einen Pilgerweg geht, unabhängig von Mode und Ziel, ist auf der Suche nach persönlicher Spiritualität, dem Bedürfnis Zeit für sich selbst zu haben, für eine Weile mit den Rhythmen und Techniken seiner durchstrukturierten Welt zu brechen. Willentlich aus dem Takt zu geraten. Die Hoffnung des modernen Pilgers ist seiner Identität gewidmet, die obsolet geworden ist. Er bricht auf, um sich zu reinigen, das Sterben seiner alten Rolle zu inszenieren, um in einen neuen Status hineingeboren zu werden. Wie dem mittelalterlichen Pilger geht es ihm um die Begegnung und Konfrontation mit dem Heiligen, das er aber nicht in den äußeren Manifestationen einer Konfession, sondern in der Natur, in der Begegnung und im eigenen Selbst zu finden vermutet. Am Ziel seiner Pilgerfahrt angekommen, wenn seine alte Identität gestorben ist, hofft, er wiedergeboren, re-integriert, zu werden. Diese Erfahrung macht aber nur derjenige, dem es gelingt, die Bequemlichkeit und Sicherheit seines bisherigen Lebens hinter sich zu lassen.

Eine erholsame Nacht in Villaviciosa. Trotz des erkälteten Franzosen neben mir im Bett, der laut schnarcht und nach Luft ringt, weil seine Nase zugeschwollen ist. Meine letzte Nacht auf dem Küstenweg. In Villaviciosa beende ich meine Fußreise auf dem zuletzt verregneten Camino del Norte. Ich frühstücke in einer Panderia am Busbahnhof und freue mich auf meine Auszeit in Gijón. In Gijón will ich mich ein paar Tage vom Pilgern zurückziehen, mich neu einstimmen, und das urbane Flair der Stadt genießen, eine Stadt im Schatten der Provinzhauptstadt Oviedo, auf die sich seit Tagen mein Blick richtet. Als ich am Bushof ankomme, sind bereits zwei der Pilger eingetroffen, mit denen ich gestern Abend an der Bar der Pension reichlich La Sidra getrunken habe. Ich mag keinen Apfelwein, doch der asturische Cidre ist das Nationalgetränk. Jeder trinkt ihn, und jeder sollte ihn wenigsten einmal probieren. Ich bin der Faszination des Einschenkens erlegen. Den rechten Arm mit der Flasche in der Hand hoch über den Kopf gehoben, goss die Kellnerin gestern Abend den Cidre in ein Glas, das sie auf Kniehöhe in der linken Hand hielt. Schäumend floss der Apfelwein ins Glas, reicherte sich unterwegs mit Sauerstoff an, wodurch er den charakteristischen frischen Apfelgeschmack bekommt. Obwohl das Glas nur um ein Viertel gefüllt wird, spritzt Wein daneben, an die Theke und auf den Boden, an dem meine Sohlen kleben bleiben. Ich habe mehr von dem nationalen Wein getrunken, als mir bekommen ist, und der Alkohol spukt mir trotz starkem Kaffee im Kopf herum.
Der Bus aus Ribadesella kommt nicht. Wir warten fast eine Stunde frierend im Nieselregen, dann biegt er gemächlich auf den Busbahnhof ein. Ich packe meinen Rucksack zu den anderen in das Gepäckfach, steige ein, und werfe einen letzten Blick auf das nasse Villaviciosa. Meine Fußreise auf dem Camino del Norte ist nach 460 Kilometern beendet. Seltsam, denke ich, dass mir der Abschied nicht schwerfällt, ich ihn einfach hinnehme. Ich freue mich zu sehr auf den neuen Camino, der den geheimnisvollen Beinamen primitivo, ursprünglich, im Namen führt. Ich war zu glücklich auf dem Küstenweg, um traurig auf den Weg zurückzublicken, der mich seit einem Monat durch Nordspanien geleitet hat. Das Ursprüngliche zieht mich an, und mischt auch jetzt seinen Reiz in meine Entscheidung. Rational verstehe ich nicht wirklich, was mich bewegt, den Jakobsweg zu wechseln, besonders, da mir Asturiens Küste zuletzt immer besser gefiel. Ich bin mir über meine Motive unsicher. Ein vages Gefühl, ein Impuls, etwas zutiefst Irrationales, mehr bekomme ich nicht zu fassen. Kurz spüre ich Gewissensbisse, fühle mich undankbar, aber das bin ich nicht. Was ist falsch daran, den Jakobsweg auf verschiedenen Wegen zu gehen? Es gibt nur den einen Jakobsweg, und das ist mein individueller Weg, der mich durch innere und äußere Landschaften führt. In Gedanken an den neuen Abschnitt des Camino de Santiago, der auf mich wartet, kribbelt mein ganzer Körper. Plötzlich fühlt es sich an, als ob ich in eine vergangene Zeit auf einen anderen Kontinent unterwegs bin. Die letzten 310 Kilometer nach Santiago de Compostela. Die kantabrische Kordillere in Asturien beeindruckt mich ungemein, die Nähe der Picos de Europa mit dem 2648 Meter hohen Torre de Cerredo, ein Nationalpark, in dem Braunbären, Wolfsrudel und Geier leben. Die Bergwelt bildet die Klimascheide zwischen der grünen, maritim geprägten Nordseite, das España Verde, das grüne Spanien, und der kontinentalen kastilischen Hochebene, der Meseta. In der Cueva del Mirón bei Ramales de la Victoria wurde 2010 der älteste Beleg für eine Beisetzung aus dem Magdalénien auf der Iberischen Halbinsel entdeckt, die so genannte Dama Roja de El Mirón. 18 700 Jahre sind die Hinterlassenschaften der Roten Dame alt.
Der Abschied von Gijón fällt mir nicht schwer. Meine Erwartungen halten nicht, was ich mir gewünscht habe. Ich vermisse die Freiheit des Wanderns, die Weite der Landschaft; den ganzen Tag reine Luft, Ruhe und Frieden. Der Monat auf dem Camino del Norte hat mich stadtscheu gemacht. Ein Freund wünscht mir Schuh heil. Mit diesem Wunsch ausgerüstet, werden die neuen Wege flüssiger unter meinen Füßen fließen. Hätte ich gewusst, dass es in Asturien einen anderen Pilgerweg gibt, manches wäre anders verlaufen. Ich war zwar schon einmal in Cangas de Onís und an den Seen von Covadonga, aber die historische und kulturgeografische Bedeutung der Orte war mir nicht bewusst. Ich wusste auch nichts vom Camin de Cuadonga, von Gijón über Cangas de Onís nach Covadonga, den ein Spiralmotiv, die keltische Triskele, weist.
Nachmittags fahre ich mit dem Bus nach Oviedo und morgen bin ich zurück auf dem Camino de Santiago. Ein Teil meines Gepäcks ist auf dem Weg zurück nach Berlin, und ich gehe mit weniger Gewicht auf den Camino Primitivo. Gewicht ist Angst, und das ist richtig. Je mehr ich von meinem Alltag auf dem Rücken über den Jakobsweg trage, physisch, psychisch und mental, desto größer erscheint die vermeintliche Sicherheit. Gewicht und Sorgen sind das wirkliche Problem des Wanderers in unbekanntem Gelände. Das habe ich inzwischen verstanden. Weder sorgenvolle Gedanken noch die vielen Dinge im Rucksack ändern etwas daran. Wer nicht loslassen kann, schafft die vielen hundert Kilometer in die Jakobsstadt nicht. Ich habe inzwischen meinen Rhythmus gefunden. Noch einmal aufbrechen. Ins Unbekannte. Mich noch einmal spüren, anders ausprobieren. Der Weg, die Landschaft, die Anstrengung, die Einsamkeit. Die unterschiedlichen Begegnungen, von denen viele nicht nötig, und nur wenige angenehm sind. Die Intensität des Erlebens, ein Gefühl der Ehrfurcht vor mir selbst, der Natur gegenüber, der Weg durch Wälder, durch grüne Täler, an Bächen vorbei, in einem der verschlafenen Weiler etwas essen und trinken, Freundlichkeit und Mitgefühl, eine kurze Begegnung unterwegs, ein Austausch mit Anwohnern und Mitwanderern, ein „Buen Camino!“ und schon vorüber. Dann fühle ich mich in der Weite der Welt zuhause, fühle die Schönheit der Schöpfung, die mich umgibt, und kann kaum fassen, dass ich es bin, der hier steht und das alles erlebt. Im Bus nach Oviedo laufen die Bilder der letzten Wochen wie ein Film durch meine Erinnerung. Ich bin der Protagonist einer Erzählung, die ich mir selbst erzähle. Ich kann es noch immer kaum glauben, dass das alles wirklich geschieht. Ich bin aus einem komplizierten, komplex gewordenen Leben in die Einfachheit gefallen. Vieles erinnert mich daran, wie kostbar die Zeit ist, die bleibt. Niemand sollte sie mit Nebensächlichkeiten verschwenden.
Von Gijón nach Oviedo ist es ein Katzensprung. In fünfundzwanzig Minuten ist die Distanz überbrückt. Die Pilgerherberge La Peregrina zu finden, dauert noch einmal so lange. Heute ist der Mai zu Ende. Inzwischen bin ich vier Wochen an der spanischen Biskaya entlanggewandert, und wieder liegt ein Geburtstag hinter mir. Irgendetwas muss sich geändert haben, muss sich nach mehr Erfahrung anfühlen. Trotzdem bleibt es ein neuer Anfang, der einen neuen Zauber ausstrahlt, mit prickelnder Vorfreude und aufgeregter Spannung, auf all das Neue, das ich erleben werde. Ein neuer Aufbruch, ganz leicht, auf der Schwelle schwebend.
Die wenigen Stunden in Oviedo reichen nur für einen flüchtigen Eindruck von der Stadt. Oviedo bedeutet: das Fürstentum Asturien, die historische Aura, die in der Luft liegt, die unerwartete Entdeckung des Jakobusgrabs vor Jahrhunderten. Der königliche erste Pilger, Alfonso II. o Casto, Alfons II. der Keuche, der 781 in Uvíeu geboren wurde, und der Beginn des Camino Primitivo. Wieder wird mir bewusst, was alles von mir selbst in eine Landschaft fließt, die meine Fantasie entzündet. Ich brauche keine Strände, um mich wohlzufühlen. Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Wenn die alten Namen verschwinden, gehen die Geschichten mit ihnen verloren. Die neuen Namen rufen keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr wach. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt eher erhalten. Abends sind oft nur unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext geblieben. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens einzutauchen, das ganzheitliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, sakral und profan. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Sie erinnern im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In den seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet. Die Ernte des Gehens! Sie aufzuschreiben lässt vergangene Welten wieder auferstehen, verbindet was gewesen ist, mit dem, was ist.

Die Entdeckung des Jakobusgrabs in Galicien, der Kult um den Apostel sowie die Entstehung des Jakobswegs im neunten Jahrhundert ist das Ergebnis einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei Religionen: dem Christentum, dessen Missionierung im westlichen Europa inzwischen abgeschlossen war sowie dem mit Feuer und Schwert vordringenden Islam. Der Zusammenprall von zwei monotheistisch geprägten Kulturen, ein fanatisch ausgetragener Konflikt zwischen Orient und Okzident, ein beidseitiger militärischer Dschihad. Die wundersamen Ereignisse, die sich wie gerufen im Nordwesten der iberischen Halbinsel zutrugen, waren vor diesem Hintergrund nicht nur von theologischer Bedeutung. Im Gegenteil, zu Beginn waren sie ein Politikum, ein historisches Ringen um Macht, Territorialbesitz und religiöse Vorherrschaft. Die Begegnung der beiden Religionen auf der iberischen Halbinsel war ein Religionskrieg, in dem es nur einen Überlebenden geben durfte. Der Apostel Jakobus bildete in diesem Konflikt das integrierende Element auf der Seite der christlichen Reiche Europas. Bereits der Prolog des Jakobswegs klingt heute nach historischer Fantasy. Die Kriege gegen die Mauren bildeten den geschichtlichen Rahmen des Skripts. Was die Ereignisse um den Apostel betreffen: Kaum etwas wird so gewesen sein, wie es überliefert wird. Ende des achten Jahrhunderts hatten die Mauren Roderich, den letzten der Westgotenkönige, in der Schlacht am Rio Guadalete besiegt; das historische Datum des Untergangs des Westgotenreichs auf der iberischen Halbinsel. Die letzte Bastion, die Europa vor dem Griff des Islams geschützt hatte, lag am Boden. Der Karolinger Karl Martell, den die Geschichte den Hammer nennt, drängte die vorrückenden Mauren bei Tours und Portiers in Südfrankreich über die Pyrenäen zurück.
Asturien wurde in diesen Jahren von Munuza Utaman Abu Nâsar, einem maurischen Gouverneur, verwaltet. Die Legende berichtet von einem Helden, dem adeligen Westgoten Pelayo, dessen Familiensitz Cangas de Onís in den schwer zugänglichen asturischen Bergen lag. Pelayo war Schwertträger in der Leibgarde von Roderich. Nach dem Untergang des Westgotenreichs arrangierte sich Pelayo mit den neuen Machthabern und diente kurze Zeit dem maurischen Gouverneur Munuza. Als Pelayo dem Mauren die Heirat mit seiner Schwester Ermesinde verweigerte, kam es zum Zerwürfnis. Pelayo flüchtete in die Berge und organisierte den Aufstand gegen Munuza. Die Mauren unterschätzen Pelayo, den seine Anhänger inzwischen zum Dux, zum Oberbefehlshaber Asturiens, ausgerufen hatten. In der Schlacht von Covadonga, Anfang des achten Jahrhunderts, südöstlich von Cangas de Onís, besiegten die Asturier unter Pelayos Führung die maurische Streitmacht und brachten deren Vorstoß nach Asturien und Kantabrien ins Wanken. Pelayo behauptete seinen Herrschaftsbereich und hob das Königreich Asturien, zu dem auch Galicien gehörte, aus der Taufe.
Der Sieg von Covadonga führte zu einem anderen wichtigen Ereignis der spanischen Geschichte: er löste die Reconquista aus, die christliche Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren. Pelayo, erster König von Asturien, residierte in seinem schwer einnehmbaren Geburtsort Cangas de Onís, der vor Oviedo die Hauptstadt Asturiens war. Während der Regierung Alfons III. idealisierte der Adel Pelayo zum Nationalhelden. Seine Historizität ist zweifelhaft, und es rankt sich auch kein komplexer Sagenkreis um seine Person. Das ist bedauerlich, denn die Entdeckung des Jakobusgrabs, wäre sie früher erfolgt, hätte sein Gral werden können. Dennoch ist Pelayo ein spanischer Arthur, ein mysteriöser Repräsentant einer ursprünglichen Bevölkerung im Befreiungskampf, ein im Dunkel der Geschichte verschwommen wirkender Befreier in höchster Not, der die Mauren schlug, wie Arthur die Sachsen. Die historische Identifizierung Pelayos ist unsicher, auch darin gleicht er seinem britannischen Bruder. Die Wissenschaft vermutet eine gefälschte Biografie. Der Name Pelayo könnte auf Sankt Pelagius zurückgehen, einen beliebten Soldatenheiligen der Westgoten. Gleichermaßen umstritten sind die Ereignisse um die Schlacht von Covadonga, die durch konkurrierende Perspektiven charakterisiert ist, und sich historisch nicht richtig fassen lässt. Um ihrer Identität wegen benötigen Staatsgründungen Heroen wie Pelayo und Arthur. Es gibt viele von ihnen, und das Königreich Asturien war nicht das erste früh-europäische Reich, an dessen Anfang ein mythisch-legendärer Heros steht. Seine historische Funktion, unwichtig ob es sich um eine historische oder legendarische Persönlichkeit handelt, besteht in seiner identitätsstiftenden Rolle, die er für die Kontinuität zwischen dem untergegangenen Westgotenreich und dem asturischen Reich spielt, aus dem mächtige christliche Königreiche des Mittelalters hervorgingen. Den Neogotismus, die ideologische Konstruktion, dass das asturische Reich die Wiedergeburt des Westgotenreichs ist, vertrat der asturische Hof bereits unter Alfons II. im neunten Jahrhundert. Im frühen Mittelalter bestand ein geläufiger Trend darin, die eigene Dynastie auf den aus Troja geflohenen Aeneas zurückzuführen. In höchster Not schickte Jesus seinen Lieblingsjünger als die christlichen Herrscher einigende Reliquie. Der Miles Christi, der Krieger-Apostel Matamoros betritt die Bühne der Befreiung der christlichen Welt von der Geißel des Islams. Solche Geschichten im Kopf waren verantwortlich für meinen Entschluss, auf Alfons II. Spuren weiter zu wandern. Ein Trail, derart historisch aufgeladen, übte auf mich einen unbezwingbaren Reiz aus.

Etwas abseits des Hauptportals der Kathedrale der Santa Basílica Catedral de San Salvador de Oviedo warte ich darauf, in die Càmara Santa eingelassen zu werden. Dort begegne ich ihm zum ersten Mal: dem ersten Pilger. Ich vertreibe mir die Zeit und bummele über den Platz vor der Kathedrale und entdecke ein abseitsstehendes, schlichtes Denkmal. Auf einem Sockel steht ein Mann mit lockigem Bart und schulterlangem Haar, dass eine Herrscherkrone schmückt. Er trägt Brustpanzer und den kurzen Rock, wie ihn römische Legionäre trugen. Sein wuchtiger Schild lehnt lässig an seinem nackten Bein, die beide in geschnürten Stiefeln stecken. Sein bodenlanger Königsmantel, den eine florale Brosche hält, bedeckt nur eben seine Schultern, und fließt in Falten hinab zu den Knöcheln. Mit toten Augen aus Stein schaut er hinauf, ein verklärter Blick, dem Himmel zugewandt, als ob dort oben etwas zu sehen ist, dass niemand anderes erkennen kann. Der vornehm wirkende Mann mit dem sanften Antlitz ist Alfons II. von Asturien. Ihm gleich am Anfang meiner Wanderung zu begegnen, für mich ein gutes Omen. Dass ich ihn auch am Ende, ikonographisch fast identisch, in einer Nebenstraße in der Jakobusstadt zum zweiten Mal treffe, ahne ich noch nicht.
Das Forum um die Kathedrale präsentiert sich in strahlendem Sonnenschein. Die beigen Kacheln des gepflasterten Platzes glänzen in der Sonne und erinnern an einen sandigen Strand. Touristen flanieren über den Platz, fotografieren die biblischen Geschichten, die als Comic in den Stein des Kirchenportals geschnitten sind. Auf dem schattigen Rand des Brunnens vor der Kathedrale sitzt eine einsame Touristin, und blättert gelangweilt ihn ihrem Führer. Hinter ihr stürzt sich klatschend eine Fontäne in das Bassin. Im schattigen, kühlen Inneren fehlt die andächtige Stille, herrscht ein Kommen und Gehen, und mir wird bewusst, dass ich durch ein Museum schlendere.
Die San-Salvador-Kathedrale, die Bischofskirche des Erzbistums Oviedo, ist ein eindrucksvoller, weißer Kirchenbau mit filigraner Steinmetzkunst, der die Altstadt dominiert. Von Weitem ähnelt er der Jakobuskathedrale in Bilbao, doch es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Kathedralen, und besonders der Catedral de Santiago de Compostela. Damit es niemand übersieht, der vorbeischaut, verkündet eine Tafel: Quien va a Santiago y no al Salvador visita al lacayo y no al señor, Wer zu Santiago geht, und nicht zu Salvador, besucht den Diener und nicht den Herrn. Der Diener ist natürlich Jakobus, der ein Jünger von Jesus war, während seinem Herrn, dem Erlöser selbst, die Kathedrale in Oviedo geweiht ist, bemerkenswert, nahm doch in Oviedo die Tradition der Jakobuspilgerfahrt ihrem Anfang. Der rezente gotische Kirchenbau datiert ins späte 14. Jahrhundert, sehr viel später als der Beginn der Pilgerfahrt. Sehr viel früher, bereits im neunten Jahrhundert, gründete Alfons II. einen Vorgängerbau, der an den nur wenig älteren Michaelsturm des Königspalastes grenzte. Er diente wahrscheinlich als Palastkapelle der königlichen Familie. Die heutige Cámara Santa, die Heilige Kammer, Aufbewahrungsort zahlreicher wertvoller sakraler Gegenstände und königliches Pantheon, in dem die asturischen Könige bestattet sind, gehört zu diesem älteren Gebäudekomplex. Die Bedeutung der verwahrten Reliquien war im Mittelalter so groß, dass sie Ziel eigener Wallfahrten waren, besonders da die Stadt auch der Ausgangspunkt des ursprünglichen Jakobswegs war. Das Schmuckstück der Kathedrale, der Reliquienschrein Arca Santa, die Heilige Arche, liegt gut gesichert in der Heiligen Kammer. Eine Legende erzählt, dass der Reliquienschrein nach der Invasion der Perser in Palästina von Philippus, einem Vorsteher der Urchristengemeinde, zuerst nach Jerusalem gebracht wurde, später nach Alexandria. Als die Perser weiter vorrückten gelangte sie schließlich über Nordafrika nach Spanien. Es war der bedeutende Gelehrte und einer der letzten Autoren der Spätantike, Isidor von Sevilla, der den Schrein nach Toledo brachte. Irgendwann während der maurischen Eroberung tauchte er im neunten Jahrhundert im Königreich Asturien auf. Das Verzeichnis der Reliquien der Arcta Santa, dass Alfons VI. fast dreihundert Jahre später erstellte, führt zahlreiche Zeugnisse der Menschwerdung Gottes in Jesus auf, darunter das Sudarium Domini, das Schweißtuch von Oviedo, das vor der Bestattung Jesus um den Kopf gewickelt wurde, und das drei Mal im Jahr in der Kathedrale San Salvador öffentlich gezeigt wird. Alfons II. heilige Kammer, die mit dem Prädikat UNESCO-Kulturdenkmal ausgezeichnet wurde, hat nicht nur religiöse Bedeutung. In ihr werden historische Gegenstände aufbewahrt, die die kulturelle Identität Asturiens repräsentieren: das Cruz de los Àngelos, das Engelskreuz, sowie das Cruz de la Victoria, das Siegeskreuz. Beide Kreuze sind nationale Insignien, die aus der Gründerzeit des asturischen Königreichs stammen, als es gelang, das äußerste Nordwestspanien erfolgreich gegen die militärische Übermacht der Mauren zu halten. Das Engelskreuz ist eine Stiftung von Alfons II, das die Grundlage für das Wappen der asturischen Könige bildet, ein reich mit Edelsteinen dekoriertes griechisches oder Tatzenkreuz aus Goldblech um einen Holzkern. An der Basis des Kreuzes knien zwei Engel im Gestus der Verehrung. Die Inschrift auf dem Kreuz - unter diesem Zeichen wird der Fromme beschützt – ist eine Anspielung auf den Sieg Konstantins den Großen, der unter dem Zeichen des Kreuzes seinen heidnischen Gegner Maxentius besiegt hat, und zeugt vom Geschichtsbewusstsein der asturischen Könige. Für Alfons II. ist der Zusammenhang mit der maurischen Eroberung Spaniens und dem Beginn der christlichen Reconquista unübersehbar. Eine Legende aus dem 12. Jahrhundert erzählt, dass die Goldschmiede, die das Kreuz schufen, Engel waren. Es ist faszinierend, indoeuropäische Reste, ob keltisch oder germanisch, in einer heiligen, christlichen Stätte zu finden: die Produktion magischer Kultgegenstände durch übernatürliche Persönlichkeiten, Zwerge oder Engel. Ein Schutzzauber umgibt das Engelskreuz, der droht, dass derjenige, der das Kreuz von seinem Ort entfernt, vom göttlichen Blitz getroffen wird. Das zweite Kreuz in der Càmara Santa ist das Cruz de la Victoria, oder Cruz de Pelayo, ein lateinisches Eichenkreuz, mit dem Pelayo in den Kampf gegen die maurischen Besatzer gezogen sein soll. Sein Sohn Fafila gründete die Iglesia de la Santa Cruz in Cangas de Onís, um dieses Artefakt aufzubewahren. Alfons III., der Große, stiftete hundert Jahre nach der Stiftung des Engelskreuzes der Kathedrale von Oviedo ein reich verziertes, im Kern hölzernes Kreuz. Im Schnittpunkt der beiden Kreuzarme befindet sich eine Aushöhlung, die für die Unterbringung einer Reliquie vorgesehen ist. Auf der Rückseite droht die gleiche Schutzformel dem Dieb den Tod durch einen göttlichen Blitzschlag an. Der Legende nach soll es sich um das Eichenkreuz des Pelayo handeln, dass nun als identitätsstiftendes Symbol, goldenes Kreuz auf blauem Grund, die Flagge Asturiens schmückt.
Wer sich die Zeit nimmt, sich in Oviedo und Umgebung umzusehen, sich die historische Bedeutung der Region sowie die beiden Kreuze in der Càmara Santa bewusst macht, dem fällt es schwer, seinen Fokus weiter auf Santiago de Compostela als finitem Ziel einer Jakobuspilgerfahrt zu richten.
Eine deutliche Wegmarkierung des Pilgerwegs sucht man in der Stadt des ersten Pilgers vergeblich. Weder auf dem Platz vor der Kathedrale noch an den Wänden der Häuser findet man Muscheln oder gelbe Pfeile. Wer es weiß, senkt sein Haupt, und schaut auf den Boden, wo die eine oder andere Jakobsmuschel aus Messing zwischen den Kacheln steckt. Wie in Irún scheint das historische Ambiente der Stadt zu wertvoll zu sein, um mit gelben Markierungen beschmutzt zu werden. Schwer vorzustellen, aber die Muscheln sind rar, obwohl der Jakobsweg untrennbar mit der Geschichte der Stadt verbunden ist. Anders als in Deba ist der Pilgerweg verschämt versteckt. Ihn mit goldenen, ins Straßenpflaster eingefügten, sich schüchtern gebärdenden Messingmuscheln zu versöhnen, klingt nach schlechtem Gewissen. Dem Pilger bleibt nur übrig, sich GPS-gestützt durch das Labyrinth der Gassen zu manövrieren.

Auf einem Abendspaziergang durch Oviedo fallen mir überall die schwarzen Skulpturen auf. Sie stellen Personen dar, von Personen getragene Szenen, die eine Geschichte erzählen, die ich nicht kenne. Daneben nackte Körper oder Körperteile, wie aus einer Hand geschaffen, obwohl sie von verschiedenen Bildhauern stammen, wie dem Kolumbianer Fernando Botero Angul oder den Asturiern Eduardo Urculo und Mauro Álvarez Férnandez. Merkwürdig der Kontrast zwischen Konsum und Kunst, den Oviedos Innenstadt präsentiert.
Später finde ich eine Bar, um einige Pinchos zu essen, wie die appetitlichen Happen in Asturien heißen. Das Fernsehgerät ist wie immer laut eingeschaltet, und die Gäste sind bemüht, den Sender an Lautstärke zu übertreffen. Zum Glück flimmern die Bilder dieses Mal nur über einen Bildschirm, denn öfter sind es gleich mehrere. Für mich sind die Musikclips und die summende Geräuschkulisse der Unterhaltungen die ideale Kulisse, um zu schreiben.


Weiterlesen: Im Gefolge des ersten Pilgers



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