Mittwoch, 8. Februar 2023

Der portugiesische Weg


Never measure the height of a mountain
until you have reached the top.
Then you will see how low it was

Dag Hammarskjold

Ich will nach draußen gehen;
alter Kummer soll heute vergessen sein,
denn die Luft ist kühl und ruhig, und die Hügel
sind hoch und erstrecken sich bis zum Himmel
.
Sylvain Tesson

Zum zweiten Mal im Leben bin ich in Porto. Zum ersten Mal war ich in den frühen 1980ern hier, während meiner ersten Nordspanien-Rundfahrt. Gäbe es keine Grenze, niemand würde den Unterschied bemerken. Galicien und Nordportugal bilden eine gemeinsame Landschaft. An Porto erinnere ich als an eine Stadt, die zu beiden Seiten aus dem engen Tal des Douro die Hänge hinaufgewachsen ist. Eher ein kleines Städtchen, romantisch verklärt, eine malerische Kulisse, der Gegenentwurf zu einer deutschen Normalität von Routine, Ordentlichkeit und Disziplin. Nichts davon ist wahr oder nichts davon ist geblieben. Porto ist ein Moloch von Stadt, vielleicht erst geworden. Ich weiß es nicht. Sicher, die engen und steilen, kopfsteingepflasterten Gassen, die vom Fluss zur Kathedrale hinaufführen, die sich hoch oben auf einem Hügel über Porto erhebt, haben ihren Charme. Doch auch sie sind nicht wahr. Sie sind ein Relikt, das für die Touristen, die massenhaft durch sie auf- und abwärts strömen, konserviert werden. Baulicher Verfall allenthalben. Das ist nicht Porto, dass ist ein Museum, und dazu noch ein schlecht gepflegtes. Ich bin heute stundenlang durch durch breite Straßen und enge Gassen gegangen und habe mich gefragt, wer von all diesen Menschen, denen ich begegnet bin, wohnt in den Häusern, die ich auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren kann.



Das richtige Porto, die moderne Großstadt, mit ihren repräsentativen, historischen Gebäuden aus mehreren Jahrhunderten, die überall in der Stadt ihre Türme und Türmchen in die Luft recken, und ihre Fassaden zwischen ihre neuzeitlichen Nachbarn quetschen, ist eine Stadt der Boulevards, der Avenidas, überfüllter Straßen, voll gepackt mit Menschen, die auch heute durch den Regen drängen, darunter viele Touristen, uniform in Regencapes gehüllt, die Portugiesen nicht tragen. Gedränge, den ganzen Tag, eine einzige Rush Hour. Ein Konsumparadies, das sich in all den Geschäften und Restaurants entlang der Straßen manifestiert.
Wäre ich zu Hause, würde ich heute meinen 67. Geburtstag feiern. Am Nachmittag haben sich die Wolken fast aufgelöst und es wird sonnig und warm. Ich bedanke mich für mein Geschenk, sitze am Douro und schaue den Touristen und den wenigen Pilgern zu, denen die Jakobsmuschel am Rucksack baumelt, und die Porto am Fluss entlang verlassen. Nach dem Hexenschuss von gestern fühle ich mich in der Stadt gefangen. Hat mir mein Körper eine Grenze gesetzt? denke ich, während ich traurig den vorüberziehenden Pilgern hinterherschaue, während ich bleiben muss. Ich fühle mich allein mit meinen Schmerzen und kämpfe dagegen an, meine Entscheidung für den Caminho Português nicht zu bereuen.
Auch heute regnet es wieder. Ein Blick aus dem Fenster überzeugt mich, dass sich daran den ganzen Tag nichts ändern wird. Als es nur noch tröpfelt, breche ich in die Stadt auf, versuche, den kürzesten Weg zu finden, komme aber doch wieder unten am Douro aus. Inzwischen gießt es, und bevor ich ganz nass bin, suche ich Zuflucht im Café S. Nicolão, und trinke zu viel Kaffee zu einem viel zu süßen und trockenen Croissant. Eine Regenpause, und ich breche wieder auf, nur um in den nächsten Dauerregen zu geraten. Gehen entspannt meinem Rücken, oder sind es die Schmerzmittel, die ich seit gestern schlucke. Die Schmerzen haben nachgelassen. Abends klart es auf. Der noch immer von dicken Wolken bedeckte Himmel hat Struktur bekommen - wechselt von Stratus zu Stratokumulus.

Es sollte ein neuer Anfang auf dem Caminho Português werden. Aber es ist kein neuer Anfang. Vielleicht kommt das erst noch, wenn ich wieder unterwegs bin. Es ist wie vor sieben Wochen, als ich in Sevilla im dünnen Hemd aus dem Flugzeug stieg und schon nass in der Ankunftshalle ankam. Als ich in Porto aus dem Bus steige, regnet es auch. Über den möglichen Symbolcharakter dieser beiden Ankünfte mache ich mir besser keine Gedanken. Meine Stimmung ist bereits trübe genug. Jetzt regnet es schon seit gestern, der Himmel ein durchgehend einheitliches Grau. Über der Stadt hängt ein Grauschleier, ein Gespinst aus Dunst, wie in einer Waschküche, das alle Farben schluckt. Seit gestern regnet es ununterbrochen. Der Regen, der erbarmungslos über Porto niedergeht, unterscheidet sich nur in der Dichte. Alles ist dabei: vom heftigen Platzregen, über anhaltendes Nieseln, bis zum unentschlossenen Tröpfeln. Nur Pause macht der Regen nicht. Vielleicht habe ich Heimweh, eine Sehnsucht nach Unkompliziertheit. Heute bin ich noch hier, morgen schulterte ich mein portables Hab und Gut und gehe weiter. Ich fühle mich gefangen in Porto. Vielleicht fehlt mir nur die Abwechslungen, die vielen Begegnungen auf dem Camino. Porto ist ein Touristenghetto. Ich frage mich, auf wie vielen hunderten Fotos ich in alle Welt verbreitet werde. Touristen sind Egomanen und Ignoranten. Das klingt arrogant, ist es sicher auch, aber ich habe in den letzten Jahren viel zu viel mit ihnen erlebt. Sie kommen, bleiben eine Weile, geben ihre Dollars und Euros aus, konsumieren und glauben, ihnen gehört die Welt, von der sie glauben, dass sie sie kennengeernt haben, und die sie in ihrer Blase überall hin mitnehmen. Die Einheimischen halten sie für ihre Bedientesten. Sicher, gelegentlich gibt es Ausnahmen, wenn sie nicht in Masse auftreten. Die wenigsten von ihnen sind Reisende. Mir bleibt der Aufbruch. Ob ich weit komme? Der Hexenschuss setzt mir zu, und Schmerzmittel helfen nicht viel. Trotzalledem geht es mir gut. Etwas eingeschränkt bin ich schon, aber das wird sich ändern, wenn ich erst wieder in Bewegung bin.

Heute morgen ist die Straße wieder nass. Nachts hat es heftig geregnet und der Himmel gefällt sich in düsterem Grau. Die ersten zehn Kilometer fahre ich mit den Bus, bis Foz do Douro oder Matosinhos, vorsichtshalber. Dann endet die Bebauung endlich und Porto liegt hinter mir. Bis Labruge führt der Caminho Português zehn oder fünfzehn Kilometer am Rand des Atlantiks entlang. Vielleicht schiebt der Wind mich vorwärts, der kräftig bläst, und den Regen durch die Luft wirbelt. Ich nehme mir vor, den harten Linken, der mir noch im Rücken sitzt, wieder zurückzugeben, als ich gegenüber einem Gewirr von Hafen- und Fabrikanlagen aus dem Bus steige. Inzwischen hat sich der Himmel über dem Atlantik zugezogen und droht mit noch mehr Regen. Alles ist in eine klebrige Nässe eingehüllt. Vom Meer zieht der Geruch von Tang herüber, der Wind ist warm und schmeckt salzig. Ein langer, sandiger Streifen Strand, durchsetzt mit kantigen Felsen. Die Dünen sind dicht mit niedrigen Bewuchs bedeckt, aus dem sich gelbe und weiße Blüten neugierig ins Freie drängen. Eine breite Promenade, auf einer Seite mehrgeschossige Appartementblocks, mündet in einen komfortablen Dünenweg. Holzplanken mit einem Plastikseil als Geländer. Kaum jemand ist unterwegs, einige Spaziergänger führen mürrisch ihre Hunde aus. Ein paar Jogger in sportlich chicem Dress, farbige Flecken im feuchten, monochronen Dunst. Pilger unterwegs nach Fatima kommen mir entgegen.



Plötzlich hat meine Welt keine Stäbe mehr. Die Euphorie des Wanderns ist zurück. Irgendwann regnet es weniger, hört auf, und beginnt aufs Neue. Irgendwann treffe ich den Pfälzer, Wolfgang aus Kaiserlautern, der mir im Dunst wieder verloren geht. Auch einer von denen, die der Wandervirus befallen hat, einer von denen, der wie ich, noch vor dem Ende einer Wanderung bereits an die nächste denkt. Man muss nur lange genug gehen, dann will man nicht mehr aufhören, dann ist man dem Flow und der Euphorie verfallen, und der Gedanke ans Ankommen, ans Stehen bleiben, gleicht der Angst des Süchtigen vor dem Entzug. Ein kleiner Tod. Meine in Porto verlorenen Tage haben das sehr deutlich gemacht.
Es muss nur lange genug regnen, dann macht der Regen mir nichts mehr aus. Kurzweiliges Wandern durch feuchte Luft mit Meergeruch, Schlurfen auf rutschigen Bohlen, immer nach Norden, vorbei an schlafenden Appartements, die ihren Sommergästen entgegendösen. Immer wieder Caminolatein, der Austausch des Wohers und Wohins. Wanderer begegnen sich einen Moment, bleiben kurz stehen, berühren die Oberfläche, und nur manchmal geht die Begegnung unter die Haut, setzt sich fest, und der Abschied schmerzt ein wenig mehr. Man lernt loszulassen auf dem Camino, sich absichtslos zu freuen, den Augenblick wie ein Geschenk anzunehmen, und ihn vorübergehen zu lassen, mit allen Gefühlen, die er mit sich bringt. Anhaften ist leidvoll, loslassen befriedigend. Es ist eine Lust, geschehen zu lassen. Irgendwann bin in Labruge, bin wieder allein im Regen, und nass bis auf die Haut. Es ist an der Zeit für einen heißen Kaffee und ein Nachtquartier zu sorgen. Ich weiß nie genau, wie weit ich gehe und wo ich raste. Ich weiß es auch heute erst wie weit ich gehe, als ich an einer Bar mit einer großen Piratenfigur ankomme, die mich an Geschichten meiner Jugend erinnert, an Silver, seinen Papagei und Flints Schatzkarte.

In der Herberge in Labruge geht es distanziert zu. Eine junge, unsichere Frau, allein, zurückhaltend und auf sich selbst bezogen. Die anderen sind zu zweit und sich selbst genug. Irgendwo auf dem Weg nach Vila do Conde enden die Holzplanken durch die Dünen. Zunehmend Asphalt, mit dem Meer zur Linken. Die Orientierung fällt mir leicht. Keine Karte, keine gelben Pfeile, keine Fragen sind nötig. Mein Blick kann schweifen, wohin er will, ohne dass ich den Weg verliere. Sand, Bambus und grüner Dünenbewuchs. Esposende beherrschen jugendliche Urlauber. Stranddress, Surfbretter, Lachen und eine leichte Atmosphäre in den Gassen und den Bars. Der Strand liegt nahe an der Stadt, und lockt mich nach langem Asphalttreten zurück ans Meer. Die Holzplanken enden im Sand, durch den ich barfuß nach Marinhas stampfe. Zwei Polen aus Stettin begleiten mich. Er, siebzig Jahre alt, sie um Jahre jünger. Sie war vor zehn Jahren schon einmal in Esposende, als sie für drei krebskranke Verwandte nach Santiago pilgerte. Ob es geholfen hat? will ich wissen. Zwei sind gestorben, sagt sie mit matter Stimme. Ihn plagt ein Fersensporn und ein grippaler Infekt, und sie kommen nur langsam vorwärts. Wollt ihr aufgeben? frage ich sie. Auf keinen Fall, sagt sie. Ich bin skeptisch, ob ihr Mann das auch so sieht. Der Regen hält sich schüchtern zurück, die Wolken sind dünn und die Sonne warm. Die Wellen fallen müde auf den Strand.



In einem für mich namenlosen Ort treffe ich Beritt aus Karlsruhe, die vom Weg abgekommen ist, und mich fragt: "Geht's hier nach Santiago?" Dabei will sie gar nicht so weit, wie sie mir später erzählt. Sie will ausprobieren, wie es so ist, auf dem Camino de Santiago. Ein Knie macht ihr Probleme. Sie hat sich am ersten Tag übernommen, weil sie nicht einschätzen konnte, welche Distanz die ihre ist. Meine Bandage ist hilfreich, und gut gelaunt erreichen wir Viana do Castelo. Bei Viegas kommen wir an einer Santiago-Kapelle vorbei, dann eine Bar mit heißen Getränken, und dann, dann beginnt es in einem Eukalyptus-Mischwald wieder zu regnen. Wald, ein schmaler Pfad schlängelt sich Steigungen hinauf, große Steine brechen durch die Erdoberfläche und bilden Stufen, über die wir gemächlich klettern. Chafé, Vils Nova Anha, Darque. Mein Hexenschuss scheint geheilt und ich versöhne mich mit Portugal. Plötzlich spüre ich es deutlich, das richtige Wandergefühl. Der Río Neiva führt Niedrigwasser, das plätschend um flache Trittsteine spült, die einzige Passage ans andere Ufer. Als wir am Fluss ankommen, hüpfen Dagmar und Felipe leichtfüßig ans andere Ufer.
Heute ist Fronleichnam. In Viana do Castelo herrscht Feierlaune, und es ist schwierig einen Platz in einer der vielen Bars zu finden. Wenn Dagmar zu erzählen beginnt, findet sie so schnell kein Ende. Sie ist in den Dreißigern, caminoerfahren, mit einem sarkastischen Humor, der nichts Bitteres hat, unruhig, ständig unter Strom, und kaum einmal ruhig. Sie ist in Sibirien geboren, und hat dort sieben Jahre gelebt, bis sie mit ihren Eltern ins Rheinland gezogen ist. Hintereinander sind ihre Mutter, Großmutter und Schwester an Krebs gestorben, was sie in eine tiefe Krise stürzte. Ihr sei alles egal gewesen, ob sie lebe oder sterbe. Der Camino hat ihr geholfen, wieder stabil zu werden, und zu sich zu finden. Vier Monate wanderte sie über verschiedene Caminos, über Lisboa, bis hinunter an die Algarve, und dann über die Vía de la Plata wieder zurück nach Santiago und Fisterra. Als sie zurück in Deutschland war, war sie nicht mehr die selbe. Heute arbeitet sie bei einem Outdoor-Ausrüster und verbindet Berufliches mit Privatem. Jährlich kehrt sie auf den Camino zurück, um sich innerlich zu reinigen. Ich weiß, wie das ist: Immer wieder erzählen müssen, um krisenhaftes zu verarbeiten. Immer und immer wieder, bis es nicht mehr schmerzt. Nach einer Antwort sucht sie nicht. Sie braucht das Wandern, um ihrem psychischen Schnerz zu stillen. Der Camino de Santiago bietet dazu viele Gelegenheiten und das geeignete Publikum. Mit Reliogion oder Konfession hat das nichts zu tun. Ein Camino-Mythos? Ich glaube das nicht mehr. Ich bin zu vielen Menschen mit einem ähnlichen Schicksal begegnet. Und ich selbst: Ich muss mir die vielen Geschichten aus der Seele laufen, die ich als Therapeut gehört und in mir aufgenommen habe, muss. Ich will herausfinden, was von mir selbst übriggeblieben ist, nach so vielen Jahren. Kann es gelingen, einen Teil der eigenen Geschichte abzulegen wie ein Kostüm, so als hätte es nichts mehr mit mir zu tun.
Der nächste frühe Aufbruch im Nieselregen. Abschied von Dagmar und Felipe, die über den Camino Portugués Interior weiterwandern. Der letzte Tag mit Beritt. Zusammen mit Eemi aus Estland, einer kleinen, robust wirkenden Frau mit einem Dauerlächeln, frühstücken wir in einer Bar am Weg. Tostadas und Milchkaffee. Die Welt versinkt im grauen, feuchten Dunst. Gefühlt endloses Gehen auf Kopfsteinpflaster, einmal gleichmäßige, eng liegende Pflastersteine, später antike, unregelmäßige Bruchsteine, deren Kanten kreuz und quer stehen. Siedlungen, die kein Ende nehmen, übergangslos ineinander übergehen. Der Weg verlässt die Küste ein weiteres Mal, landeinwärts und in moderaten Steigungen, zwischen hohen Bruchsteinmauern, ein mäandernder Korridor, dessen Mauern so hoch sind, dass ich nicht auf die andere Seite schauen kann. Pfade über Waldwege, Mischwald mit zunehmend mehr Eukalyptus. Steinige Ziegenpfade. Am Wegrand ein rauschender Bach, mitten im Wald der Convento de São João de Cabanas, ein verlassenes Kloster aus dem 6. Jahrhundert.
Der Wald endet viel zu schnell auf einem Hang, mit Mimosen übersät. In der Ferne liegt Âncora an einem ausgedehnten Strand. Wir sind zurück am Atlantik. Eemi ist enttäuscht, dass wir in der Stadt bleiben. Ein entspannter Nachmittag, intensive Gespräche über uns und die Welt und natürlich: über den Camino. Ich übe mich in Caminolatein um Beritt zu begeistern, weiter mit zu wandern. Ein Hostel mit Strandblick, die warme Nachmittagssonne, feiner Sand und hohe Wellen, die um meine Hüften branden und auch meine Hose nicht verschonen.



Heute Abend bin ich endlich in Spanien zurück, in Galicien. Obwohl mir Portugal in den letzten Tagen besser gefallen hat, richtig warm geworden bin ich nicht mit dem Land. Vielleicht liegt das am Hexenschuss und am beharrlichen Regen, der jede Wanderung ungemütlich macht. Vieleicht konnte ist meiner Liebe zu Spanien nicht untreu werden. Der Himmel ist morgens wieder blau, als wir in Âncora aufbrechen, die vermisste Sonne im Nacken. Die felsige Küste des Atlantiks auf der linken Seite. In Moleda beginnt der Wald, und die Küste gerät außer Sicht. Durch das Gezwitscher der Vögel ist die Brandung gerade noch hörbar. Die Strandbar Barracuda. Wir sind zurück am Meer und auf der Strandpromenade nach Caminha an der Mündung des Río Miña, Grenzfluss zwischen Portugal und Spanien. Auf der anderen Seite wartet Galicien auf mich.
Die letzten Kilometer mit Beritt, die zurück nach Porto will. Es ist Samstag Mittag. Die Innenstadt von Caminha bereitet sich auf eine Fiesta vor. Wir sitzen am Fähranleger, ich schaue hinüber nach Galicien, während ich auf das kleine Motorboot warte, dass mich über die breite Mündung des Miña bringen soll. Immer nur fünf Passagiere auf einmal. Abschied und ein letztes Mal die gute Stimmung zwischen uns. Unsere vielen gemeinsamen Erfahrungen der letzten sechzig Jahre, und in den Kleinigkeiten, die das Leben ausmachen, doch so verschieden. Mir haben die Gespräche über unser Hier und Jetzt gefallen, die sich authentisch anfühlten. Viel zu viel von unser Vergangenheit in einer viel zu kurzen Begegnung. Werde ich mein Therapeuten-Image jemals wieder los?
Dann bin ich auf der anderen Seite. Kaum zehn Minuten dauert die Überfahrt. Dann bin ich wieder allein auf dem Weg und verlaufe mich, noch ganz in Gedanken an unsere Begegnung versunken, bis mich eine freundliche Frau davor bewahrt, ganz in die Irre zu gehen. Ich verstehe sie gut, ich bin wieder in Spanien, in vertrauter Umgebung. In der Herberge in A Guarda werde ich mit Handschlag begrüßt.

Wildnes is the universal songline, sung in green gold, which we recognize, the monent we hear it . . . Wildness is insatiable for life . . . and sucks up the now . . . Humanity's highest purpose is to be fluent. Das Gefühl, das eintritt, wenn ich tagelang durch die Natur wandere. Irgendwann erreiche ich immer den Moment, wo Zivilisatorisches abfällt, wenn Natur omnipräsent ist, nicht nur außen, sondern auch innen, der Moment, wenn das Gefühl aufkommt, nichts anderes mehr zu wollen, als ewig weiterzugehen, immer in diesem Zustand des Augenblicks zu leben, der alles enthält was ich brauche. Alles Anschauung, alles gespürte Gegenwart. Ich lese noch immer Jay Griffits Elemental Journey. Sie erzählt von ihrer Reise durch Amazonien, davon was sie dort gesehen und erlebt hat - geografisch, ökologisch, politisch, ökonomisch, mit einem Wort: kulturell. Obwohl ich vieles weiß, bin ich von ihrem Bericht tief betroffen. Es fällt mir schwer, nicht zu weinen, und schaffe es nur, weil ich in einem überfüllten Café sitze. Es ist laut und hektisch, und wahrscheinlich hätte niemand meine Tränen bemerkt. Was für eine monsteröse und destruktive Kultur haben Monotheismus und Kapitalismus geschaffen. Woher kommt der Hass auf das Leben, der alles zerstört, die unstillbare Gier, die den Tod mehr ehrt als das Leben, und der nicht eher ruht, bis er alles Gute, Wahre und Schöne, dass uns die Erde bietet, besudelt hat. Eine Religion, die auf ein Jenseits statt auf das Hier und Jetzt ausgerichtet ist, die ein freiheitliches Leben mit Leiden gleichsetzt oder als Sünde brandmarkt, die einen Visionär und Sozialrevolutionär anbetet, den sie täglich neu am toten Holz ermordet und behauptet, darin ihm zu folgen, liege der Sinn des Lebens. Eine solche Religion verehrt die Zerstörung und betet den Tod an, gestaltet auf diese Weise seit Jahrhunderten unsere Kultur. Das allein wäre vielleicht nicht so sehr das Problem, behauptete sie nicht außerdem, ihre Lehre sei die einzige, die ein richtiges Leben ermöglicht. Ich nenne diese Lehre einen Anschlag auf die Natur und die Menschlichkeit, ein Dschijad gegen das Leben, der eine soziale, emotionale, spirituelle und epistemologische Wüste hinterlässt.
Morgens breche ich einmal mehr im Nieselregen auf. Das sonnige Intermezzo von gestern, das meinen Abschied verzierte, ist bereits Geschichte. Doch der Weg, dann der Pfad aus A Guarda, immer eng an der Küste entlang, sandig, mit dicken Felsen durchsetzt, die dem leichten Auf und Ab des Wegs als Stufen dienen, ist ein Genuss, trotz der alles beherrschenden, trüben Grauheit. Grau der Himmel, blaugrau der Atlantik, der als Kontrast weiße, schaumgekrönte Wellen an die felsige Küste wirft. Hellgrau meine Stimmung, wenn ich an den sonnigen Tag denke, der gestern die Hoffnung auf mehr geweckt hat. Das Frühstück mit Beritt auf der Terrasse der Strandbar, das sonnenbeschienene Caminha gegenüber, das Sonnenbad am Hafen, während ich auf das Schnellboot wartete, die kurze Wanderung nach A Guarda unter blauem, sonnigen Himmel, nichts davon ist übriggeblieben, als hätte ich es nicht erlebt. Das Wetter am Atlantik ist launisch.



Der malerische Weg durch den Regen mündet viel zu schnell auf die Landstraße nach Vivo. Erst ein paar Kilometer vor Oia schlägt er sich auf einem Pfad für ein paar hundert Meter in die Büsche. Ich mühe mich durch hohes, nasses Gras und werde nun auch noch von unten nass. Als ich wieder auf die Landstaße treffe, sind meine Hosenbeine und Schuhe nass. Es muss an meiner Neugier liegen, dass ich immer wieder vom Weg abkomme, unübliche Wege gehe, die mir spannend vorkommen. Andere Pilger wandern stur über die Landstraße, unter ihre Kapuzen zurückgezogen, ohne einen Blick über den Regen hinaus. Ich kann den Sog der Landstraße nicht verstehen, wenn gelbe Pfeile auf landschaftlich schöne Wegen führen. Oft bieten sie eine Überraschung, obwohl die nicht immer angenehm ist. Mein schmaler Pfad hat eine Anhöhe erklommen, die einen Blick auf die dunstige Weite des Atlantiks zulässt. Wüsste ich nicht, dass unter den Dunstschleiern Land liegt, wo sich meine Mitpilger über den nassen Asphalt mühen, ich könnte glauben, dass das nasse Element nirgendwo endet. Wie müssen sich Menschen in früheren Jahrhunderten gefühlt haben, als sie sich in ihren Booten auf dieses Meer hinauswagten, nur um zu sehen, was hinter dem Horizont liegt, und dort nichts weiter fanden, als noch mehr Wasser und einen Horizont, der immer weiter in die Ferne rückt.
Oia ist ein Dorf mit einer imposanten Kirche hinter einer hohen Festungsmauer, die sich über die Küste erhebt. Neuerdings gibt es einige Pensionen, die dem wachsenden Pilgerstrom Rechnung tragen, für mich eine glückliche Fügung und der richtige Augenblick für einen Milchkaffee in einem kleinen Eckcafé, das, wen wundert es, mit Pilgern überfüllt ist. Als ich das Café verlasse, ist von der alles beherrschenden Grauheit nichts geblieben. Der Atlantik hat sich beruhigt und rollt seine Wellen sanfter an den Strand, der Himmel ist wieder blau mit dicken Paketen Kumuluswolken. Noch fehlt die Sonne und ich friere in meinem dünnen, ärmellosen Hemd.

In der Nacht hat sich nicht viel geändert. Heute morgen ziehen tief ziehende Wolken über den Atlanik, die auch den Weg an der Küste einhüllen. Über die Landschaft ziehen Schleier aus Dunst. Mougás ist in einen Grauschleier gehüllt, der kaum noch zu durchschauen ist. Erbost tost das Meer gegen die felsige Küste und der Himmel schaut mitleidlos zu. Und natürlich regnet es, in dünnen Fäden, wie durch ein Sieb gepresst, läuft er an mir herunter. Eine halbe Stunde flüchte ich in das Restaurant eines Campingplatzes, nur ein paar Kilometer hinter Mougás. Ich sitze trocken und warm in einem Speisesaal, großstädtisch mordern und überdimensioniert, wie ich ihn hier nicht erwartet habe. Es muss eine Saison geben, mit Sonne und Strand, und allem wa dazu gehört, um Urlauber anzulocken. Nur jetzt, jetzt ist anscheinend die falsche Zeit. Zum ersten Mal seit Tagen bekomme ich ein richtiges Frühstück. Ausreichend Milchkaffee, Tostadas, Tomaten und Käse. Ich warte und schaue dem Regen zu. Regentropfen malen Kreise auf das Wasser, die ineinander verschwimmen. Ich war einen Moment abgelenkt, und als ich wieder aus dem Fenster schaue, reißt der Himmel über dem Atlantik auf, und die Sonne wirft ihre Strahlen wie gebündelte Scheinwerfer durch die sich öffnenden Wolken. Flecken hoffungsvollen Blaus künden von der Rückkehr der Sonne. Das Wetter an der Atlantikküste ist nicht nur launisch, es ist kapriziös, wie ein Teenager in der Pubertät. Fast unbemerkt hat sich die zusammenhängende, graue Stratusbewölkung in bauschiges Kumulusweiß verwandelt, mit einem letzten Hauch von Grau an den Rändern.
Der Weg mäandert eine Zeitlang dicht an der Küste entlang. Seit Tagen gehe ich das erste Mal wieder auf Sand. Kümmerliches Grün, noch nass und rutschig, und vom Wetter glatt geschliffene Felsen, verwandelnd den Weg in eine Kletterpartie. Als ich auf eine Klippe klettere, um zwei Fischer zu beobachten, die in der Brandung angeln, stolpere ich und rutsche auf den nassen Stein ab. Irgendwann hat mich der Asphalt zurück, die Romantik stirbt, und auch die Monotonie nach Vivo kehrt zurück. In der Ferne As Mariñas, wo oben auf einem Hügel, der in der Atlantik ragt, ein einsamer Leuchtturm seine Spitze in die Wolken bohrt. Lange bevor ich den Leuchturm erreiche, zweigt der Caminho Português von der Landstraße ab und schlängelt sich grünen steinigen Serpentinen den Hügel hinauf, bis ich schließlich über den Leuchtturm auf den Atlantik hinschaue. Ein idyllischer Passweg, kaum hundert Meter hoch. Ereut regnet es, und ich verschwinde ein weiteres Mal unter meinem Poncho. Ärger kommt auf, und ich bedauere erneut, den Camino Sanbrés so leichtfertig verlassen zu haben. Um mich zu trösten, rede ich mir ein, dass das Wetter im Inland auch nicht anders ist. Wie kann es im Juni nur so oft und ausdauernd regnen? Jenseits des Hügels liegt Baiona, ein Städtchen mit galicischen Flair im historischen Zentrum, umgeben von einer modernen Stadt. Strandtourismus mit mannigfachen Angebot für den touristischen Bedarf. Bis A Ramallosa ist es nicht mehr weit, und es bleibt urban. Nach einer kurzen Pause, regnet es zum dritten Mal. In Ramallosa ist Markt, und während ich mich zwischen den Ständen umschaue, hört der Regen auf. Marktstände, die alles Essen und alle Kleidung, die man braucht, anbieten, säumen die Straße, die auf einer großen, mittelalterlichen Bogenbrücke über den Río Tella endet. Über eine moderne Brücke, die parallel zu den antiken, nur für Fußgänger passierbaren Brücke verläuft, fließt dichter Verkehr, während der Regen erneut einsetzt, und die Tropfen Kreise auf den Tella malen. Wenige Meter vor mir kämpft sich Connor, mein irischer Pilgerbruder, ganz in wasserdichtes, rotes Platik gehüllt, durch den Regen. Ein leuchtend roter Fleck im allgegenwärtigen Grau, dass uns in A Ramallosa empfängt. Erst wenn der Abscheu vor Feuchtigkeit und Nässe überwunden ist, das weiß ich inzwischen, kehrt die Freude am Wandern zurück. Auf der antiken Brücke über den Tellu, die eine passable Kulisse abgeben würde, frage ich mich: Wann ist es dieses Mal endlich soweit? Wie heute morgen, im dunstigen Schleier von Mougás, fühle ich mich plötzlich wieder in eine andere Welt versetzt, eine Welt, die etwas Fiktionales hat, eine Stimmung, wie in einem Schauerroman des britischen Gothic, das London von Charles Dickens oder Robert Louis Stevenson, die düstere Welt des Edgar Allen Poe. Wild romantisch wie die See toste, der Wind mir den Regen ins Gesicht fegte, und die Möwen kreischten. Jeden Moment könnten Elementargeister in der starken Dünung ein Schiff gegen die Felsküste treiben, was sicher schon oft geschehen ist. Wie zu erwarten, scheint, zwischen einzelnen Schauern, am späten Nachmittag die Sonne.


Es überrascht mich nicht mehr. Als ich heute morgen die Pilgerherberge verlasse, regnet wieder. Nicht stark, aber ein leichter Nieselregen, der so harmlos daherkommt, und in kurzer Zeit alles durchnässt. Es kommt mir so vor, als wandere ich seit Tagen unter einer Dusche, die immer dann wieder aufdreht wird, wenn ich einigermaßen trocken bin. Ich will nicht nach Vigo wandern, durch eine urbane Zone, die schon kurz hinter A Ramallosa beginnt. Und auf keinen Fall im Regen, der mich langsam zermürbt. Ich habe mir so viel von der Wanderung entlang der Atlantikküste versprochen. Ich bin enttäuscht, und meine Stimmung schwankt bedrohlich. Ich nehme den Bus nach Vigo, wo ich vor zwei Wochen nach Porto aufgebrochen bin. Der Milchkaffee im Bahnhofsrestaurant ist seitdem nicht besser geworden und der Wirt sagt noch immer zu allem nur "Si!"
In Vigo regnet es nicht, es gießt, das trifft es besser. Ich zögere, bestelle noch einen Milchkaffee - "Si!" - hoffe auf eine Regenpause und schlüpfe schließlich doch wieder unter meinen blauen Poncho, der kaum getrocknet ist. Es dauert einige Stunden, bis ich den Weg im Regen aus der Stadt gefunden habe. Es ist fast Mittag, aber in Vigo habe ich den Eindruck, es wird Abend. Die Straßenlaternen leuchten in warmen Geld, die Schaufenster sind beleuchtet, und trotz des Regens geht es im Zentrum von Vigo lebhaft zu. Was ich zwischen A Ramallosa und Vigo vermeiden wollte, holt mich zwischen Vigo und Redondelo ein: das Ballungsgebiet einer Großstadt, die sich weit in die Umgebung ausdehnt. Ein urbaner Moloch drängt sich um die ausgedehnte Rìa de Vigo und breitet sich über die umliegenden Hängen aus. Er verschlingt die Natur, die die Stadt nur in wenigen, streng kontrollierten Parzellen duldet. Zuerst ist da die Stadt, und alles was Stadt bedeutet: Gedränge, Lärm, Gestank, Hektik, heute unter einem bunten Meer von Regenschirmen. Es ist kein Tag für das Schöne einer Stadt. Die Fußgängerzone säumen exquisite Läden, mit Produkten, ohne die ein Wohlstandsbürger glaubt, nicht leben zu können, und deren Preise sich viele kaum leisten können. Zwischen den Läden immer wieder Bars, Cafeterien, Restaurants, spanisch, europäisch, exotisch. Die gelben Pfeile sind von parkenden Autos, Anlieferern und vorbeihastenden Menschentrauben verdeckt. Manchmal sehe ich einen von ihnen, doch mehrmals gehe ich in die falsche Richtung, bis mich ein Passant wieder auf die richtige Spur bringt. Ich versuche mich zwischen die Menge zu drängen, ohne dass mir ein Schirm die Brille von der Nase reisst. Immer öfter frage immer vergeblich nach dem Weg, bekomme immer die gleiche Antwort: Einen Caminho, den gibt es hier nicht. Doch ich weiß, dass er durch die Innenstadt von Vigo führt. Nur wo? Ein fetter Mann, der aus einer Flasche Kakao trinkt, hält mich Arm fest, und zieht mich unter eine Markise. Enthusiastisch erzählt er, er sei aus Havanna. Ob ich Kuba kenne, fragt er, während mir der Regen aus den Haaren rinnt. Small Talk ist das Letzte, was mir jetzt vorschwebt. Ich erzähle ihm vom Jakobsweg, doch er schaut mich nur fragend an. Ich will nur noch aus der Stadt ins Freie. Auf der anderen Straßenseite kommen zwei Mitpilger vorbei, und biegen einige Meter später in eine Nebenstraße ein. Ich lasse den Mann stehen, der mich verdutzt anschaut, denn er war mit seiner Rede noch lange nicht fertig. Als ich um die Ecke biege, sind die beiden Pilger - Waren sie vielleicht keine? - klammheimlich im Gedränge und im Regen verschwunden.
Wandertag im Regen! Nach Redondela, wo die beiden Varianten des Caminho Português, der Interior und der de la Costa, aufeinandertreffen. Heute regnet es den ganzen Tag. Der Himmel über mir ist in bleiernes, konturloses Grau gehüllt, eine Stratusbewölkung, die wie eine undurchdringliche Decke über der Erde hängt. Die Aussicht auf einen trockenen Nachmittag habe ich aufgegeben. Zum Schutz vor dem Regen vorgebeugt, den Blick auf den Boden geheftet, schleppe ich mich nass und frierend weiter. Das Versprechen der Outdoorindustrie, dass es wasserdichte und gleichzeitig atmungsaktive Regenkleidung gibt, verfluchend, frage ich mich, ob es nur am Preis liegt, trocken durch stundenlangen Regen zu gehen. Auf nassem Asphalt, auf dem das Wasser zentimeterhoch steht, gehe ich durch eine dicht besiedelte Gegend, ohne zu wissen, ob ich noch in Vigo bin. Ich hoffe wenigsten, auf dem richtigen Weg zu sein. Allmählich steigt der Weg leicht an. Er folgt einer gelben Schlangenlinie auf grünem Grund, dem Sende de Auge, einem kurzen Wanderweg, der die Leute aus Vivo zu einem Spaziergang verlocken soll. Es dauert, bis ich auf dem Wanderweg die Rìa de Vigo umwandert habe, die sich hundert Meter tiefer präsentiert. Im Dunst des Regens ist sie in feuchten Nebel gekleidet und genau so grau wie der Himmel. Immer wieder tauchen landeinwärts Berge auf, ihre Gipfel in den Wolken versteckt. Am nördlichen Ende der Rìa de Vigo liegt Redondelo. Irgendwann lasse ich die Bucht und die Siedlungen hinter mir zurück. Der Asphalt mündet auf einem sandigen Waldweg, der so mit Wasser vollgesogen ist, dass er bei jedem Schritt schmatzt. Kaum im Wald, als ob der Regen glaubt, das Blätterdach schützt mich nun, schütten noch die Wolken mehr von ihrer wässrigen Fracht über mir aus. Jetzt, wo Vigo hinter mir liegt, und damit jede Möglichkeit, mich unterzustellen, nimmt der Regen richtig Fahrt auf. Er hat mich in den letzten Stunden bereits durchnässt, doch nun, als das Wasser bis auf die Haut durchgedringt, bin ich ihm hilflos ausgeliefert. Ich mag nicht an Zufall glauben, und nehme lieber an, ein Elementargeist treibt seinen Schabernack mit mir. Über eine matschige Kreuzung breitet eine große Birke ihrer Äste wie einen Schirm über den Weg. Dankbar fliehe ich in ihren Schutz, und sie gibt ihr Besten, den Regen von mir abzuhalten, was nur leidlich gelingt. Kurioserweise kommen in diesem Augenblick zwei Beamte der Guardia Civil auf Pferden vorbei, die nur einen misstrauischen Blick für mich übrig haben. Den Reitern ist nicht anzusehen, was sie von dem Regen halten, aber ihre Pferde scheuen vor jeder Pfütze. Sie rufen mir noch etwas zu, das ich nicht verstehe, und schon stehe ich wieder allein im Regen; der einzige Wanderer auf dem Caminho Português.
Es sind nur einige Kilometer bis Redondela als ich an einem Cafè vorbeikomme aus deren Fenstern warmes Licht in die Düsternis nach draußen scheint. Rustikal eingerichtet, ohne Espressomaschine, doch der Ort, nach dem ich mich seit ich heute Morgen aufgebrochen bin gesehnt habe. Ein willkommenes Haus, ein gastlicher Ort, um mich im Trockenen aufzuwärmen. Und da sitzen sie, meine Mitwanderer der letzten Tage, trocken und wie vom Wetter unberührt. Nur mir tropft das Wasser vom Poncho herab, aus Hemd und Hose, und schnell stehe ich in der guten Stube in einer Pfütze. Doch es gibt heißen Kaffee, und in dem Moment, als ich eintrete, kommt eine Kellnerin mit einer frisch aus dem Ofen kommenden, dampfenden Tortilla aus der Küche, aus der das Eigelb zwischen den Kartoffeln auf den Teller läuft. Mein bisschen Spanisch gefällt der Frau, die mich mehr lobt als ich es verdiene. Dabei lächelt sie die ganze Zeit, als ob sie genau weiß, was ich mir gerade mehr als alles andere wünsche. So gut verstanden habe ich mich nicht mehr, seit ich mich in Caminho von Berrit getrennt habe.
Was sind das für Pilger, die in einer Gruppe unterwegs sind, und den Eindruck eines fröhlichen Betriebsausflugs machen. Eine Jugendgruppe, die billig Urlaub macht? Die vielen Paare, die, isoliert, sich selbst genügen. Der Caminho Português ist voll von ihnen. Sie ziehen den Caminho entlang, unterhalten sich lautstark miteinander, sodass ich sie schon hören kann, bevor sie mich überholen. Sie schauen nicht rechts und nicht links. Vielleicht tun sie das immer dann, wenn ich nicht hinsehe. Eiligen Schrittes streben sie der nächsten Herberge zu als ob sie fürchten, zu spät für ein Bett einzutreffen. Einzelpilger sind die Minderheit. Ich komme noch immer schlecht mit der Atmosphäre zurecht, die auf dem Caminho Português üblich zu sein scheint. Auf anderen Pilgerwegen habe ich das so nicht erlebt. Die Menge Pilger erschwert mir die Kontemplation. Ich fühle mich auf einem Catwalk der Eitelkeiten.
In Redondela ist die Zahl der Pilger dramatisch angestiegen. Das mag daran liegen, dass in dem hübschen Städtchen, das natürlich über eine Altstadt mit mittelalterlichem Flair verfügt, die beiden portugiesischen Wege aufeinandertreffen. Die fünfzig Betten der Herberge sind schnell belegt. Es sind nur noch wenige Betten übrig als ich eintreffe. Die Hospitalera lotst mich durch mehrere Schlafsäle, in denen der Bär tanzt. Über nasse Rucksäcke und Schuhe stolpernd, durch Pfützen platschend, die von den Regencapes und Regenjacken auf den Boden tropfen, die an den Betten aufgehängt sind, reserviere ich mein Bett, lehne den Rucksack an einen der letzten freien Plätze an der Wand. Meinen Poncho hänge ich zum Abtropfen in die Pfütze zu den anderen. In Redondelo herrscht Jugendherbergsatmosphäre. Ich fühle wie ich in der Masse untergehe. Mein Bettnachbar im unteren Bett schaut mich kurz an, und bevor ich grüßen kann, schnell wieder weg. Masse macht anonym und stumm. Ich schaue mich um, und fliehe ins Freie auf der Suche nach einem Café oder Restaurant. Eine unruhige Nacht steht mir bevor.

Das Wichtigste zuerst: Heute morgen regnet es nicht. Die Sonne hat sich zwar hinter eine dicke Wolkendecke zurückgezogen, und die Luft ist feucht genug, um nass zu sein. Bei einem frühen Milchkaffee und einem Croissant zeigt die Wetterkarte, dass der Regen nach Zentral- und Westspanien weitergezogen ist. Von mir aus kann er dort bleiben solange er will. Der Caminho hat reizvolle Abschnitte, auch wenn ihn immer wieder Landstraßen mit harter Asphaltdecke unterbrechen. Auf schmalen Pfaden, über Passagen, die über den anstehenden Fels führen, den die Elemente in tausenden Jahreszeiten abgeschliffen haben, komme ich gut voran. Arcade, ein Städtchen am Weg, besitzt eine dieser mittelalterlichen Brücken, die einen Blick in die Vergangenheit bewahren, die Vorstellung, wie es hier einst gewesen ist. Die Brücke führt über die breite Mündung des Río Verdugo, und als ich zurückschaue, zieht eine bunte Pilgerschar ans andere Ufer. Der Ort ist klein, und sofort geht der Weg über steile Gassen hinaus in den Wald, weiter und weiter aufwärts. Die Landschaft ist galicisch, ähnelt den deutschen Mittelgebirgen, auch wenn dort zwischen den Eichen kein Eukalyptus wächst. Das war auch in Galicien nicht immer so. Der Eukalyptus ist ein Migrant in dieser Landschaft, eine invasive Art, wie man heute sagt, und nicht mehr willkommen. Er ist ökologisch höchst problematisch, und nicht nur für die verheerenden Waldbrände verantwortlich. Vielleicht gefällt mir Galicien deshalb so gut, weil die Landschaft mich an zu Hause erinnert, besonders jetzt am Ende meiner Reise. Vielleicht aber auch, weil sie mich an Vertrautes erinnert, das ich vor Wochen zurückgelassen habe. Es ist wohl langsam an der Zeit, ans Heimkehren zu denken.



Ich bin kein frommer, gläubiger Pilger, manchmal fühle ich mich mehr wie ein Ketzer auf dem Jakobsweg. Trotzdem verteidige ich innerlich den Pilgergedanken. Auf der Vía de la Plata, dem Camino Sanabrés oder auf der Küstenvariante des Caminho Português ist nicht jeder ein Pilger, trotzdem hat die Stimmung oft etwas Mystisches. Spirituelles liegt in der Luft, genährt von naturräumlichen Atmosphären, dem Gefühl einer Einsamkeit, die die Illusion fördert, der einzige Mensch in dieser großartigen Natur zu sein. Doch spätestens seit Redondela hat sich etwas verändert. Eine Atmosphäre wie ich sie auf dem französischen Weg zwischen Melide und Santiago erlebt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich von einem Pilgerstrom reden soll, einem Schwarm, angelehnt an Wandervögel, oder gleich an ein Rudel, das über den Weg herfällt. In der Masse geht das Besondere, jede Individualität unter. Ich könnte auch auf einem Campingplatz sein, einem Strand voller Urlauber, in irgendeiner historischen Altstadt, wenn ein Kreuzfahrtschiff anglegt. Was unterscheidet den Camiño Xacobeo Portugués, wie man ihn auf großen Tafeln nennt? Viele der Menschen, die auf diesem Weg zu Fuß unterwegs sind, erlebe ich als Freizeitpilger und Sonntagswanderer. Manche lassen ihr Gepäck transportieren, um sportlich chic aufgetakelt gen Santiago zu spazieren. Sie kommen mir vor, wie auf einem Sonntagnachmittagspaziergang vor ihrer Haustür. Andere dagegen tun sich schwer zu Fuß, sind schwer bepackt, weil sie auf nichts verzichten wollen. Dann sind da die, die lautstark und lärmend unterwegs sind, und eine Festivalstimmung und sich verbreiten, die mir irgendwie unangebracht erscheint. Der Caminho Português, von Porto aus, ist ein Beginner-Camino, ein Schnupperkurs im Wandern, das sich als Pilgern tarnt. Viele quälen sich über die Strecke, schlüpfen am Nachmittag in ihre mitgeschleppte Freizeitkleidung, inklusive einem zweiten Paar Schuhe, und verschwinden im Restaurant zum preiswerten Pilgermenu, oder setzen keinen Fuß mehr vor die Herberge, wenn sie nicht gleich ins Bett fallen. Um neun Uhr ist Bettruhe, damit das gleiche Spiel am nächsten Tag weitergehen kann. Ich frage mich, ob sie Wochen später noch wissen, wo sie gewesen sind, und wenn man sie fragt, was sie von den Orten, in denen sie die Nacht verbrachten, gesehen haben. Ich habe heute auch gespielt. Nachdem in Arcade beim Kaffeetrinken in wenigen Minuten mindestens zwanzig dieser Pilger eingetroffen sind, habe ich auf dem weiteren Weg Pilgerfangen gespielt. In kurzer Zeit habe ich einundvierzig von ihnen überholt, dann aber aufgehört zu zählen, weil das Spiel mich langweilte und es auf dieser Pilgerautobahn noch so viele mehr gab. Was ist Jakobus für mich? Zu ihm bin ich schließlich unterwegs. Wie ich es auch betrachte. Er ist ein Symbol der Permanenz, seit nunmehr fast 1200 Jahren präsent, seit seine körperlichen Hinterlassenschaften, in einem von Engeln begleiteten Boot, in der Römerstadt Iria Flavia, dem heutigen Padrón, die iberische Halbinsel erreichten. Eine mysteriöse Gestalt, an die sich alle möglichen Fantasien knüpfen lassen; ein Symbol des Wanderns, der Bewegung durch den antiken Weltkreis, ein Reisender, der vom See Genezareth, wo er ein einfacher Fischer war, den Jesus erweckte, bis ins ferne Spanien reiste, wo er erfolglos missionierte. Er ist eine dubiose, schillernde Figur, die goldüberzogen seit Jahrhunderten bewegungslos der Umarmung der Pilger harrt, deren Vita nichts Historisches besitzt. Er ist das Ergebnis einer Heiligenlegende. Kaum etwas hat sich so zugetragen, wie es erzählt wird.
Es ist Mittag und die Sonne scheint noch immer vom blauen Himmel. Ich habe heiß geduscht und rieche nicht mehr feucht-muffig wie in den letzten Tagen. Meine Kleidung ist notdürftig gewaschen und mein Quartier für die Nacht bereit. So endet ein guter Tag auf dem Camino de Santiago. Obwohl auf den Jakobswegen viel Betrieb herrscht, scheint der Gedanke der Santiago-Pilgerfahrt so gut wie tot zu sein. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

Als ich heute Morgen die Herberge verlasse, beginnt es wieder zu regnen. Gestern endete der Tag blau und sonnig. Doch die Wolkenfront im Nordwesten hat bereits gestern Abend angekündigt, dass dies nur ein vorübergehendes Intermezzo ist. Regen, Regen, Regen. Die Wolken sind aus Spaniens zentralem Hinterland zurück. Oder ist es ein neuer Regen, der vom Atlantik heraufzieht. Ich finde, dass ist schwer zu sagen, denn alles ist grau in grau, und was von wo nach wo zieht, ist nicht mehr ersichtlich. Ich habe genug vom Regen.
In der Herberge in Ponteverda zwei volle Schlafsäle. Am späten Nachmittag sind alle Betten vergeben. Ich teile mir mit achtunddreißig Schläfern den Schlafsaal, dieses Mal ohne Etagenbetten. Gemeinsam atmen wir so viel Feuchtigkeit aus, das sich meine Sachen morgens klamm anfühlen. Auch davon habe ich genug: überfüllte Herbergen, die einen Massenbetrieb bewältigen müssen, Schlafsäle, in denen die Luft feucht und muffig ist, eine Pilgerautobahn, in denen Menschen aneinander vorbeieilen. Ich nehme den Bus nach Padrón, in der Hoffnung, dem Regen zu entkommen und eine kleine Herberge zu finden.
Padrón im Regen. Die Herberge Barca de Piera ist geschlossen. Die etwas abseits liegende Albergue Flavia hat Zimmer mit sechs Betten, eine Waschmaschine und einen Trockner. Zum ersten Mal seit Ourense kann ich meine Kleidung waschen, die längst penetrant riecht, weil sie seit Tagen nicht mehr richtig getrocknet ist. Ein vertrödelter Tag in Unterwäsche in dem Sechs-Bett-Zimmer, das ich für mich allein habe. Nachmmittags ziehen drei Frauen ein, die sich absondern, sodass ich mich plötzlich wie ein unerwünschter Gast fühle, und aus dem Zimmer ins die nasse Altstadt von Padrón an den Sar fliehe.
Es ist schon kurios, dass Padrón, wo die Jakobusreliquie die iberische Halbinsel erreichte, wo sie entdeckt wurde, und wo sich die meisten Eposioden seiner Legende ereigneten, nicht zur Jakobusstadt wurde. Dennoch ist Padrón, das antike Iria Flavia, ein besonderer Ort am Jakobsweg. Es ist der Ort, an dem alles begann. Die Siedlung wurde im ersten Jahrhundert von den Römern kolonisiert und entwickelte sich bereits im frühen Altertum zu einem militärischen und wirtschaftlichen Zentrum. Der Name der Stadt geht auf einen römischen Meilenstein (pedrón) am Ufer des Ría Sar zurück, an dem der Legende nach das Schiff anlegte, das die Reliquie des Apostels Jakobus auf die iberische Halbinsel brachte. Der phallische Stein ist erhalten, und befindet sich zusammen mit alten Steininschriften der Heiligenlegende in der Iglesia Santiago Apóstel. Zwei polychrome Reliefs auf Kastanienholz erinnern an zentrale Ereignisse der Jakobuslegende: die Translation des Apostels von Haffa nach Iria Flavia und die Taufe der Königin Lupa durch die Jünger des Jakobus. Diego Gelmírez, der Autor der ersten compostelanischen Bistumsgeschichte, der Historia Compostellana, wurde in Padrón geboren. Über die Geschichte des Reliquienfunds und dessen Konsequenzen, über den vielgstaltigen Jakobus, wie Cees Nooteboom ihn nennt, habe ich bereits in meinem Blogbeitrag Die Causa Jakobus erzählt.
Am späten Nachmittag hört es noch einmal auf zu regnen, doch der Himmel bleibt grau. Auf dem Mittelstreifen der breiten Hauptstraße, die die Stadt teilt, empfängt mich eine Pilgerskulptur, die mit strammen Schritt vorwärts strebt; nach Santiago nehme ich, weil ich noch nicht weiß, in welche Richtung mich der Caminho morgen aus der Stadt hinausführt. In den engen Gassen von Padrón ist es dämmrig, es fehlt das Licht, so bleibt es grau und nass. Ich flaniere durch die historische Altstadt ans Ufer des Ría Sar, durch einen Park, in dem Menschen die Regenpause nutzen und ihre Hunde ausführen, und über eine antike Brücke mit dichtem Vekehr, so eng, dass nur ein Fahrzeug gleichzeitig den Fluss überqueren kann. Am gegenüberliegenden Ufer, unmittelbar neben der Café Bar Camino, an Fuß eines Hügels, steht die Fuente del Carmen, der Karmelitenbrunnen aus dem Jahr 1577, ein Relikt, verloren zwischen moderner Architektur. Über ihr, von Wald umgeben, thront majestätisch der Convento do Carme des ehemaligen Ordens der Karmelitinnen von Galicien. Heute bewohnen Dominikaner das Kloster. Das moderne Padrón ist eine charakteristische spanische Kleinstadt, nicht so interessant, wie ich sie mir in meiner von der Jakobuslegende angeregten Fantasie vorgestellt habe. Wieder einmal versinkt alles im Regen.



Die fünfundzwanzig Kilometer nach Santiago de Compostela sind schnell gegangen. Fast mühelos. Die Freude endlich anzukommen bringt mein Blut in Wallung und mein Gehirn schüttet Endorphine aus. Endlich dem Regen des Caminho Português zu entkommen und auf einen neuen Weg ans Cabo de Finisterre aufzubrechen. Ich fühle mich beflügelt, als ich morgens gut gefrühstückt und bei Sonnenschein Padrón verlasse. Blauer Himmel und strahlender Sonnenschein, der gelungene Auftakt für die Begegnung mit dem Apostel. Doch wieder einmal sollte es anders kommen, als es den Anschein hat. Als ich auf der Praza de Obradoiro ankomme, läuten die Glocken der Kathedrale. Ein angemessener Empfang nach über eintausend Kilometern zu Fuß.
Der letzte Tag ist für den Pilger angebrochen. Fast schon hat er sein Ziel erreicht, und kann dem Apostel die Ehre geben. Doch nicht für den Wanderer, denn der geht weiter, sucht die Orte und Landschaften jenseits der Jakobusstadt auf, und geht bis ans Ende der Welt, und schon gar nicht für den Fußreisenden. Für ihn ist jede Fernwanderung nur eine weitere Etappe, wie ein weiterer Tag in seinem Leben. Er richtet sich nach der fünften Übung des Zens des Gehens: dem bewussten Gehen durch den Raum, die Konzentration der Sinne auf die Bewegung des Körpers gerichtet, während sich sein Leib in die Umgebung ausdehnt: Weiter fest auftreten, die Augen auf das richten, was zwischen drei und fünf Metern vor uns liegt, die Augen ohne Anspannung über das Gesehene schleifen lassen, und langsam das Sehen mit dem Schrittrhythmus verbinden. Ich hatte alle Phasen des Gehens, die ich mir vorstellen konnte. Leichte und herausfordernde Passagen auf Pfaden und Wegen zwischen Sonne und Regen. An einem Tag verkaterte Muskeln und schmerzende Füße, am nächsten Tag ging ich unbeschwert und leichtfüßig. Durch Landschaften in Einklang mit der Natur, meistens weit entfernt vom Getriebe der Städten. Auf Pfaden im Wald und durch dünn besiedelte Gegenden, durch abgelegen wirkende Dörfer, über moderate Steigungen ohne Aussicht und hinauf auf Pässe und auf Gipfel, die Welt zu meinen Füßen. Auf der letzten Etappe nach Santiago de Compostela war ich die meiste Zeit allein unterwegs, obwohl ich das Gegenteil erwartet habe. Gelegentlich waren plötzlich ein Dutzend Wanderer um mich herum. Einen Moment später waren sie genau so schnell wieder verschwunden. Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Gefühl, das sich einstellt, wenn man sein Leben selbstbestimmt lebt. Je geringer die Entfremdung, desto größer die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und zum Glück. Eine Fußreise, wenn das Hier und Jetzt überwiegt, Denken und Fühlen im Einklang sind, eröffnet ungeahnte Freiräume.
Stundenlanges, noch besser tagelanges Gehen durch Landschaften, die die Zivilisation vergessen machen, erzeugt einen Flow, der Zeit, Raum und Leib in eine Balance bringt, die in der Stadt nicht möglich ist. Die Zeit wird zur Dauer, ist nicht mehr messbar, nur noch spürbar. Der Leib weitet sich in den Raum, und das Denken wird assoziativ. Ich habe schon einmal geschrieben: Ich gehe, also bin ich! Für mich ist das stimmig. Das Transistorische, das Liminoide, wird zur Normalität. Transformation hat mit der Erfahrung der eigenen Macht zu tun. Es ist eine Kunst, daheim und in der Welt zu leben, auf der Schwelle und im Haus. Das Eine und das Andere. Die meisten Menschen fürchten den Zwischenbereich, da er nicht mehr ritualisiert und begleitet ist. Sie klammern sich an Sicherheiten, an Illusionen, und übersehen dabei, dass Sicherheiten trügerisch sind, dass in dieser Welt nichts sicher ist. Anders ausgedrückt: Veränderung ist der normale Zustand des Lebendigen. Es ist die Illusion des Konsums, die Sicherheit suggeriert. Meine unfrisierten Gedanken, spontan notiert, und erst einmal aufgeschrieben, wollen sie bleiben. Erst im Nachhinein zeigt sich, was Bestand hat. Ich werde mir irgendwann etwas Zeit nehmen müssen, sie zu frisieren.

Es ist früh am Nachmittag, als ich in Santago de Compostela ankomme. Die Sonne scheint und es ist endlich wieder warm, als ich auf einem breiten, leicht ansteigenden Boulevard in die Stadt hinaufgehe. Santiago ist eine moderene Großstadt, Hauptstadt der Comunidad Autónoma de Galicia (der Autonomen Gemeinschaft Galicien), belebt und umtriebig, als ich an diesem Nachmittag eintreffe. Von Pilgern oder Ritualorten keine Spur, aber vielleicht verlieren sie sich nur in der Menge. Ich checke wieder in der Albergue Estrella de Santiago ein, klein, eng, aber von einer freundlichen Hospitalera geführt, die trotz der Enge eine familiäre Atmosphäre schafft. Sie erinnert sich sogleich an mich, bei all den Pilgern, die hier täglich ankommen, was mich freut, denn es ist ein Jahr her, als ich zuletzt hier eingekehrt bin. Ich bleibe nicht lange, denn der touristische Trubel in der Stadt schreckt mich ab. Ich werde weiter gehen, nach Fisterra, wo das Land endet, und das Meer beginnt. Oder ist es umgekehrt. Ich muss es wiedersehen, um es zu wissen.



Jetzt regnet es wieder, kräftig und in Strömen. Plötzlich und unerwartet brüllt der Donner über den Platz. Alle zucken zusammen. Der Sonnenschein heute hat so gerade ausgereicht, um trocken angekommen. Ich sitze in einer kleinen Eckkneipe, fern genug vom Pilger- und Touristenstrom, fülle meinen Wasserverlust mit Bier auf und schaue den Regentropfen zu, die an den Fensterscheiben nach unten laufen. Estrella Galicia, Stern von Galicien, mein spanisches Lieblingsbier in meiner spanischen Lieblingslandschaft. Santiago de Compostela, die Stadt auf dem Sternenfeld, fühlt sich nach den vielen Unsicherheiten, dem Fremden, das mich täglich umgab, den Unwägberkeiten des Wegs und den vielen, vielen Kilometern, die ich in den letzten Wochen gegangen, vertraut an. Plötzlich kenne ich mich aus, als ob ich nach Hause gekommen bin. Da ich nichts Besseres zu tun habe, stelle ich mich im Pilgerbüro für meine zweite Compostela an. Es ist ein überwältigendes Gefühl, nach so vielen Tagen angekommen zu sein, auch wenn die Füße es besser wissen wollen.


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