Sonntag, 29. Januar 2023

Tage in der Römerstadt


One day,
you'll look to see I've gone.
For tomorrow may rain,
so I'll follow the sun
.
The Beatles

Ein Drittel der Vía de la Plata liegt mit unterschiedlichen Begegnungen und Erlebnissen hinter mir. Der Weg führt nach Norden, immer weiter nordwärts, und meistens zieht die Sonne ihre Bahn über mir. Oft wünsche ich mir, zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich glaube, wenn ich mich in Raum und Zeit bewege, anstatt irgendwo zu warten, ist das einfacher. Vielleicht nur eine Illusion, doch sie fühlt sich gut an. Beim Wandern entsteht die richtige Balance zwischen Geschwindigkeit, dem Verlauf der Zeit, der Stabilität des Bodens unter meinen Sohlen und der Beharrlichkeit des Raums.
Die Landschaft wird wieder schöner, das Wetter leider nicht. Erneut ist es kalt geworden, und ich muss meine Daunenjacke auspacken, die ich vor ein paar Tagen, allzu optimistisch, tief im Rucksack verstaut habe. Die Etappen werden länger und es ist schwierig geworden, sie zu verkürzen. Es gibt nicht so viele Herbergen wie auf den nordspanischen Jakobswegen. Mehr als einnmal liegen dreißig bis vierzig Kilometer zwischen den Unterkünften; wildcampen ist in Spanien offiziell nicht erlaubt, außerdem benötigt es zusätzliche Ausrüstung. Ich wandere lieber leichtfüßig über die Wege als mit zu viel Gepäck auf dem Rücken.

Übermorgen liegt eine weitere römische Ruine am Weg, nach dem Arco de Trajano in Mérida, das vierbogige Tor der untergegangenen Römerstadt Cáparra, eine Besonderheit, den Arco de Cáparra, auf den ich sehr gespannt bin. Zwanzig Kilometer sind meine favorisierte Distanz, doch immer wieder werden es mehr. Der Gedanke an eine Reise hat etwas Entlastendes: römische Legionäre, mittelalterliche Gaukler, moderne Pilger, sie alle hofften von einer Reise oft mehr, als diese halten kann. Es gibt auch glücklich Reisende, die für lange Zeit fortgehen, und als jemand anderes wieder zurückkommen. Eine Metamorphose? Der anhaltende Wunsch, wenn nicht gleich ein neues Ich, wenigstens eine Bereicherung zu erleben. Die Einsamkeit einer Initiation, in der sich diese vielleicht vollzieht, hält nicht nur Verstörendes, sondern auch Bereicherndes, oft Spirituelles bereit. Jeder Reisende vertraut auf die Bedeutung des Anderswo. An Günter Eich denkt man dabei, wenn überhaupt, nur selten. Das liegt nicht nur daran, dass er nicht mehr lebt, denn auch die, die sich an ihn erinnern, bleiben nicht mehr lange. Seine Themen sind unbequem, seine Forderungen oft schwer auszuhalten und nicht leicht zu beherzigen. Seine Hörspiele sind großenteils dystopisch. 1951, ich war gerade in diese Welt gekommen, schrieb er sein Hörspiel Träume. Kaum etwas, das er beklagt, hat sich seitdem geändert. Vieles steht noch zur Verbesserung an. Es gibt noch immer mehr Ungerechtigkeit, als zu ertragen ist. Im Epilog seines Hörspiels kommt er ungeschminkt zum kompromisslosen Kern seiner zeitlosen Botschaft:

Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf
;
[...]
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling,
für den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsere.
Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere,
und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten
.

Das betrifft unmittelbar. Wen nicht, dem fehlt das Mitgefühl für seine Mitmenschen und seine Umwelt. Doch wie schnell ist die Betroffenheit im Strudel des Alltags, den Konsum und Ablendkung beherrschen, wieder verschüttet. Nur eine Metapher, die Eich benutzt, ein Missstand von vielen, den er anprangert? Inzwischen haben wir es soweit gebracht, dass es nicht erst unsere Enkel betrifft, sondern dass sich unsere Kinder bereits um ihre Zukunft sorgen. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, die sich beinahe überschlägt. Wenn auch in Deutschland keine Neugeborenen mehr in Zeitungspapier gewickelt werden müssen, was ich hoffe, ist es nun unvermeidbar, dass wir unseren Nachkommen eine beschädigte Welt hinterlassen werden. Wissenschaftler sprechen vom Anthropozän, und meinen damit: Ein neues geologisches Zeitalter hat das Holozän nach mehr als zehntausend Jahren abgelöst, das durch die irreversiblen Spuren charakterisiert ist, die die menschliche Spezies auf dem Planeten verursacht. Anna Tsing und andere sprechen im Vorwort von Arts of Living on a Damaged Planet von den ghosts of the Anthropcene und kritisieren, dass unsere era of human destruction has trained our eyes only on the immediate promises of power and profits. Ths refusal of the past, and even the present, will condemn us to continue to fouling our nests. Es sieht so aus, als sei nicht nur die Biene die nächste Spezies, die ausstirbt. Auch die Vögel sind auf dem Rückzug. Es ist still geworden in der Natur; selbst in der abgelegensten Ecke der Extremadura. Ich wünsche mir eine Wiederentdeckung der Landschaft, damit diese neu gewürdigt werden kann, um ihre Geschichten zu erzählen. Günter Eich neu zu lesen, ist in unserer Zeit wieder lohnend. Mit klaren Worten rückt er uns den Kopf zurecht. Nur oberflächlich betrachtet, scheint es so, als haben Eichs Prophezeiungen mit meiner Fußreise auf der Vía de la Plata nicht viel zu tun. In Das Jahr Lazertis, einem anderen seiner Hörspiele von 1953, warnt er vor einer Flucht, die dem Vergessen dient, das Unaushaltbare nicht länger mit ansehen und ertragen zu müssen. Er glaubt daran, dass jede Flucht misslingt, da sie keine Lösung bringt. Ein gewisser Dr. Oliveira nennt Eichs Protagonisten Paul ironisch einen Narren, und rät ihm, zu reisen, wenn er meine, dass er damit weiterkomme. Doch kurz zuvor hat er ihm bereits die Wahrheit eröffnet: Dies ist der Ort, den Sie erreichen konnten. Es gibt für jeden nur den einen Ort und die eine Zeit, das viel beschworene Hier und Jetzt, die Gegenwart, die Schwelle, auf der sich alles entscheidet, und für die jeder in seiner Lebenswelt verantwortlich ist. Günter Eich verwendet für seinen Appell standzuhalten die Metapher der Reise, die eskapistisch ist, solange sie reiner Selbstbespiegelung dient. Er kritisiert den Rückzug nach innen, wenn er eine Weigerung ist, hinzusehen. Eine eukatastrophische Perspektive kennt Günter Eich nicht. Die Möglichkeit einer Performance wie John Lennons und Yoko Onos humorvolles Bed-In for Peace im März 1969 in New York war 1951, in meinem Geburtsjahr, als Eich seine bedrückenden Träume beschrieb, noch nicht denkbar. Was ein Happy End ist, erfunden von Hollywood, wusste er nicht, hat es vielleicht nie erlebt, denn es gab die beiden Kriege in seinem Leben, von deren Unmenschlichkeit wir uns kein Bild machen können. Die verstörenden Erlebnisse, die John R.R. Tolkien im Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs verarbeiten musste, führten zu seinem Legendarium der Verschollenen Geschichten. In seinem Essay Über Märchen erfindet er Jahre später die Allegorie vom Gefangenen, dem es nicht zu verdenken ist, wenn er, eingesperrt, von einer Welt jenseits der Kerkermauern träumt. Autoren wie G. Eich und J.R.R. Tolkien erinnern sich, jeder auf seine Weise, für uns. Mir liegt daran, darauf aufmerksam zu machen, wie privilegiert unser Leben geworden ist, und wie wenig wir daran denken, dass unsere Epoche eine bisher nie dagewesene Ausnahme in der Geschichte der Menschheit darstellt. Reise und Selbsterfahrung. Dieser Zusammenhang führt Menschen aus aller Welt auf eine Pilgerreise, fördert Gegenseitigkeit, Toleranz und Frieden. Inzwischen immer mehr auf eine Flucht auf Leben und Tod über das Mittelmeer. Nach Europa, ins gelobte Land. Pilgern ist nicht eskapistisch, war es nie, sondern reflexiv. Erst die unaufschiebbare Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Motiven und Bedürfnissen, die uns oft unerwartet und ungewollt erreichen, birgt die Möglichkeit, und die Gefahr, dass sich etwas ändern kann. Es braucht keine Konfessionen, keine Dogmen und keine Ideologien, es braucht die Offenheit vor sich selbst. Verantwortung muss übernommen werden. Gerade an dieser kommt der Pilger nicht vorbei, ob er sie sucht oder nicht. Auf seinem Weg findet er sich seinen eigenen Clowns und Dämonen ausgeliefert, wie Victor Turner es einmal formuliert hat. Er kann ihnen nur entkommen, wenn er sie als die seinen annimmt und sich mit ihnen anfreundet, sonst wird der Sack der Verdrängung, den jeder hinter sich herschleppt, immer schwerer. Wer das verstanden hat, braucht eine Antwort auf die Frage: Was mache ich eigentlich hier? Die Antwort: Reisen und Finden sind ein und dasselbe.

Der Weg ins Zentrum von Mérida führt über den Guadiana und die längste, erhaltene römische Brücke, die Puente Romano, gebaut 25 v.Chr. Die erste große Stadt seit Sevilla, und eine, die einst noch weitaus bedeutender war: das römische Emerita Augusta. Seit zwei Tagen bin ich in der Römerstadt, seit ich in Torremejía im Regen aufgebrochen bin. Morgen gehe ich weiter nach Aljucén, ins nächste abgelegene Dorf der Extremadura. Das stolze Mérida wird hinter mir in der Landschaft versinken, und mich an die Natur zurückgeben. Seit zehn Tagen wandere ich über die Vía de la Plata, etwas mehr als zweihundert Kilometer inzwischen, doch höchstens ein Fünftel der Strecke bis nach Santiago de Compostela. In diesen Tagen war ich öfter nass als trocken.
Im Regen kam ich vorgestern nach Mérida, in die Stadt, die einst bewundernd das Rom Spaniens genannt wurde, so prächtig und bedeutend muss sie gewesen sein. Es nieselt wieder. Ich ziehe meinen Poncho über Kopf und Rucksack. Sylvain, Patrick und Martine, meine Lieblingsfranzosen, habe ich mittlerweile eingeholt. Gemeinsam gehen wir über das nasse Kopfsteinpflaster der alten, achthundert Meter langen Brücke in die Stadt. Plötzlich stimmt Martine das Lied an, das wohl jeden an den Französischunterricht seiner Schulzeit erinnert: Sur le pont d`Avignon, on y danse, on y danse. Niemand singt mit, und niemand tanzt, doch auf dieser ehrwürdigen Brücke zu gehen, nur Fußgänger sein, ohne Motoren zu hören und Abgase zu atmen, kommt dem Gefühl innerlich zu tanzen sehr nahe. Der Wind nimmt die Strophen mit, wohin auch immer, und wir gehen schweigend weiter. Wer die Antike und das Mittelalter nicht mag, der kann auch über die 1991 eröffnete Puente de Lusitania gehen, die stählerne Bogenbrücke in die Stadt. Er muss sie sich allerdings mit dem motorisierten Verkehr teilen. Beide Brücken erinnern auf ihre Weise an die Zeit und den Lebensstil, als sie gebaut wurden. An der alten Festung aus maurischer Zeit, die einst über Brücke und Stadt wachte, trennen wir uns. Es wird Wochen dauern, bis wir uns überraschend wiedersehen.
In der Mittagszeit geht es in den Gassen rund um die Plaza España lebhaft zu. Ich setze mich in eine Bar, nicht weit entfernt von der Puente Romano, mit einer prominent platzierten Stele, auf der ein Wolf Romulus und Remus säugt. Die Mutter der Zwillinge war die Vestalin Rhea Silvia, eine Priesterin der altitalischen Vesta aus Alba Longa in Latium. Sie war die Hüterin des heiligen Feuers der Göttin von Heim und Herd, was ebenso wie das kriegerisch erobernde Temperament des Vaters der Zwillinge, des Kriegsgottes Mars, gut zu einer Stadtgründung passt. Darunter eine Inschrift auf einer Plakette: La Ciudad de Roma a la ciudad de Merida ayer Augusta Emirata, die Stadt Rom in der Stadt Mérida, ehemals Augusta Emirata. Mérida fühlt sich den legendären Gründern Roms noch immer verbunden, und begrüßt den Besucher am Eingang in die Altstadt mit diesem Bekenntnis.
Durchgefroren trinke ich den ersten heißen Kaffee des Tages, als Connor eintrifft und sich zu mir auf den letzten freien Barhocker setzt. Er lebt in Dublin und arbeitet als Manager im Marketingsektor, will aber über diese Seite seines Lebens nicht reden. Zurückzublicken, auch nur für einen kurzen Augenblick, sagt er, und lächelt dabei, behindert das Loslassen. Hier zu sein, und heißen Kaffee zu trinken, fährt er fort, ist für den Moment genug. Die Bar ist klein, nur ein enger Gang entlang des Tresens. In der Mittagszeit ist sie von Männern bevölkert, die sich so lautstark unterhalten, das der Ton des TV im Stimmengewirr untergeht. Wir sind froh im Trockenen zu sitzen, und sehen dem Treiben auf der großen Plaza zu. Es ist Wochenende und viele Touristen sind in der Stadt. In farbige Capes gehüllt oder unter großen Schirmen flanieren sie über einen beeindruckend schön gestalteten Platz, bemüht, mit trockenem Objektiv die imposanten Gebäude als Hintergrund für ein Selfie zu fotografieren. Familien, die ihre Kinder mühsam zusammenhalten, die sich um den Springbrunnen mitten auf dem Platz tummeln, der seine Fontänen dem Regen entgegen schickt. Dazwischen sich schützend eng umschlungene Paare sowie Guides, die ihre Gruppe durch eine Stadtführung lotsen, ihren Schirm mit einem bunten Band umwickelt, damit niemand verloren geht.
Vor den weltberühmten Ruinen eines riesigen Amphitheaters sowie des römischen Theaters nebenan steht eine lange Schlange. Viele Besucher flüchten sich vor dem Regen ins benachbarte, architektonisch passend gestaltete Museo Nacional de Arte Romano, in dem die römische Vergangenheit der Stadt auf mehreren Ebenen präsentiert wird. Ich gehe vorbei, will mich nicht einreihen, und später im Gedränge die regennassen Ruinen besichtigen. Es heißt, wo Menschen Schlange stehen, gibt es nichts mehr zu entdecken. Oft mag das zutreffen, doch besser ist es, den Satz zu relativieren, um sich selbst zu überzeugen. Zumindest in der Causa Mérida bin ich mir sicher. Ich bleibe etwas länger in der Stadt, in der es viel zu viel zu sehen gibt, freue mich auf das bei Andres gemietete Zimmer, ein Stück zurückeroberte Privatsphäre nach Tagen eingeengt in voll belegten und muffigen Herbergen. Ein Gefühl von Illoyalität schleicht sich ein, wenn ich bedenke, meine Pilgerreise zu unterbrechen, mir den Luxus eines Einzelzimmers zu gönnen, während meine Pilgerfreude die Kargheit der Pilgerherberge teilen. Das Konzept der Schuld des Katholizismus hat lange Finger. Mérida, die erste größere Stadt seit Sevilla, Hauptstadt der Extremadura mit sechzigtausend Einwohnern und einem historischen Zentrum, in dem die römische Vergangenheit so greifbar ist, wie nirgendwo sonst in Spanien. Touristen aus aller Welt kommen nur aus diesem einen Grund hierher.

Es ist Sonntag in Mérida. Ich bin früh unterwegs und in den Gassen und Straßen ist nicht viel los. Der Himmel ist bedeckt, doch noch regnet es nicht. Ich hoffe, es bleibt so, habe aber vorausschauend den Poncho dabei. Vor den beiden aufwändig restaurierten, schon von außen fantastisch wirkenden Theaterruinen ist es noch leer. Ich weiß, die meisten Touristen kommen später. Sie sind im Urlaub, und erst nachdem sie sich ausführlich mit den opulenten Buffets ihrer Hotels beschäftigt haben, machen sie sich auf den Weg.
Das Rom Spaniens wurde im Jahre 25 v.Chr. von Publius Carisius, wahrscheinlich im Auftrag des Kaisers Augustus, als eine Kolonie für Veteranen der römischen Legionen gegründet; ähnlich wie schon Italica. Die zahlreich erhaltenen, repräsentativen antiken Bauwerke sind so grandios, dass der Zahn der Zeit mit ihnen nicht fertig wurde, bevor die moderne Archäologie und Restaurierung sie für alle Zeiten konserviert hat. Die Hybris des historischen Bewusstseins und Willens des römischen Imperiums für die Ewigkeit zu bauen, fehlt der Architektur unserer Tage. Inzwischen sind die Ruinen eine touristische Attraktion, die der Stadt viel Geld einbringt. Die Touristen, und das Geschäft mit der Geschichte, rettet die Bauten vor dem Untergang und beschert ihnen ihren Status als Weltkulturerbe. Die Fragmente eines aufwändig restaurierten Theaters, eines Amphitheaters, zwei beeindruckende Aquädukte sowie des größten römischen Zirkus seiner Zeit, die Fassade eines Dianatempels sowie die vielen kleineren römischen Bauten verleihen der Stadt den Reiz vergangener Größe und berechtigen zu der Ankündigung auf der Stele an der Puente Romano. Und dann das Museum mit den zahlreichen originalen Exponaten, die die antiken Bauwerke in ihren historischen Kontext rücken. Nie reicht die Zeit des Wanderers aus, alles zu sehen, denn der Weg hält ihn gefangen und duldet es nur, kurz zu verweilen, bevor er ihn erneut ins Freie lockt.
Bis zum Untergang des römischen Reiches blieb Mérida ein bedeutendes wirtschaftliches, militärisches und kulturelles Zentrum. Die germanischen Vandalen kamen und zogen weiter. Die Westgoten, von der damaligen Pracht der Stadt beeindruckt, machten Mérida zur Hauptstadt ihres Königreichs. Im sechsten Jahrhundert verbreitete sich das Christentum, und die Heilige Eulalia, Schutzpatronin der Stadt, erlitt ihr Martyrium. 713 kam Musa Ibn Nusair mit seinen maurischen Truppen, eroberte und verwüstete Mérida, das erst 1230, während der Reconquista, von den christlichen Truppen unter Alfons IX. von León zurückerobert wurde. Im spanischen Bürgerkrieg versuchten republikanische Kräfte den Vormarsch der Nationalisten in der Schlacht vor Mérida vergeblich aufzuhalten. Nach der Demokratisierung Spaniens in den 1970er Jahren wurde die Stadt wegen ihrer historischen Bedeutung und ihrer zentralen Lage zur Hauptstadt der Autonomen Region Extremadura.
Über eine Stunde habe ich die Ruinen des Teatro Romano und des Anfiteatro Romano fast für mich allein. Das römische Theater liegt mir im morgendlichen Nieselregen steinig, grau und verlassen zu Füßen. Ich stehe im oberen Rang und schaue über das Halbrund der steil abfallenden Sitzreihen auf den Halbkreis der Bühne hinab, in denen die Regentropfen sich ausbreitende Kreise zeichnen. Das Freilufttheater wurde durch den Konsul Marcus Vipsanius Agrippa in Auftrag gegeben und vermutlich zwischen 16–15 v.Chr. eingeweiht. Nach einem Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf ist die Bühne seit 1933 wieder Spielstätte für ein Festival des klassischen Theaters geworden, einst mit einer Kapazität von sechstausend Zuschauern. Ein spektakuläres Bauwerk, ein Fragment aus Tribüne, korinthischen Säulen, der Fassade eines Bühnengebäudes, gekrönt von kopflosen Statuen, eine Kulisse der Spiele, einem Tempel gleich, ein angemessenes Bauwerk für die darstellende Kunst des Theaters. Drei Tore des Bühnengebäudes führen in einem Garten mit Brunnen und bepflanzter Pergola, im Hintergrund die Reste einer römischen Mauer aus Lehmziegeln, der Rückwand einer Aula Sacra, eines kleinen Tempels des Augustus. Weiße Marmorrepliken, von drei in ihre charakteristische Toga gekleideten, vornehmen Römern, stehen in Nischen in der Rückwand, und schauen mit blinden Augen auf den Besucher hinunter: Augustus, Tiberius und Drusus. Vater, Adoptivsohn und Stiefsohn, drei der Mitglieder der römischen herrschenden Klasse des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Augustus starb im Jahr 14. Sein Nachfolger und Adoptivsohn erklärte ihn zum Gott und gründete einen Kult für seine Verehrung. Der Tempel im Garten hinter dem Theater ist, wie der Tempel der Diana im Zentrum Méridas, einer der dynastischen Tempel des Augustus.
Das benachbarte, römische Amphitheater war bei großen Teilen der römischen Gesellschaft beliebter als das Theater. Es besteht aus einer runden Arena, mit stufenweise ansteigenden Sitzreihen, ist umgeben von einer Straße, die in einem Tor mündet, breit genug für zwei Fahrzeuge, die weiter zum Zirkus (Hipodronum Romano) und in die Stadt Metellinum (Medellin) führt; drei große Tore für die Durchführenden der Spiele, dreizehn für das Publikum. Wie das Theater sind die Sitzreihen in drei Ränge gegliedert, aber nur der unterste Rang blieb erhalten, während die beiden oberen als Steinbruch genutzt und abgetragen wurden. Das Amphitheater wurde 8 v.Chr. eingeweiht und bot Sitze für fünfzehntausend Zuschauer, die sich an den blutigen Tier- und Gladiatorenkämpfen ergötzten. Der Auftritt des Venators, des Jägers, eines Proto-Toreros, war eine wichtige Attraktion der Spiele, wenn er auch nicht wirklich ein Gladiator war. Bewaffnet mit Bogen, Wurfspeer oder Jagdspieß, dem venabulum, wurde er mit Wildschweinen, Hirschen oder Stieren konfrontiert, die er unter den anfeuernden Rufen des Publikums in der Arena erlegte. Die Römer unterschieden zwei Gruppen von Duellanten der Arena: den schwer bewaffneten, schwerfälligen Gladiator sowie den nur mit leichten Waffen, und daher viel wendigeren Kämpfer. Die Zweikämpfe zwischen Retiarius, dem Netzkämpfer, ausgerüstet mit Netz und Dreizack, und dem Secutor, dem Verfolger, bewaffnet mit langem Schwert und großem, rechteckigen Schild, prägten das Bild römischer Gladiatorenkämpfe ganzer Generationen. In Stanley Kubricks Film Spartacus oder Ridley Scotts Gladiator, Jahrzehnte später gedreht, die gleichen Klischee tradierend, stehen sich diese beiden Kämpfer gegenüber, in Szenen, die bis heute die Fantasie der Nachgeborenen bebildert. Die Restauration der beiden Gebäude ist gut gelungen, sodass es ein Leichtes ist, sich in die römische Antike zu versetzen. Mein Wissen über diese Zeit zaubert mir die passenden Bilder und Szenarien hinzu. Die vielen arm- und kopflosen Statuen von Göttern und Imperatoren im angrenzenden Museum sind dagegen langweilig präsentiert, sodass ich schnell das Weite suche. Die erhaltenen Mosaiken dagegen prächtig. Der Raum zwischen den Fragmenten von Fassaden und Säulen der antiken Freiluftbühnen hat sich mittlerweile mit Menschen gefüllt. Es geht geschäftiger zwischen den alten Steinen zu als am frühen Morgen. Am späten Vormittag ist das archäologische Denkmal mit Besuchern geflutet. Mehrere Gruppenführungen überschneiden sich, es ist schwierig geworden, zwischen den vielen Besuchern hindurchzukommen. Mitten im Gedränge treffe ich Camille, zum letzten Mal. Wie Wolfgang und ich hat sie sich entschieden zu bleiben, um Mérida zu besichtigen. Die meisten meiner Mitpilger wandern zielorientiert, sind auf die nächste Etappe fixiert, und versäumen dabei manches.
Stundenlang streune ich durch die Gassen der Stadt, suche nichts Bestimmtes und finde neben Römischem spanische Sonntagsstimmung. Elegant gekleidet flanieren die Eltern durch die Gassen der Altstadt oder sitzen in den Cafés, während ihre Kinder in den Gassen und Plätzen spielen. Keiner der Erwachsenen behindert ihr freies Spiel. Am Ufer des Guadiana traben Jogger über die Promenade und durch den Park, während über die Puente Romana immer wieder neue Pilger nach Mérida strömen. Sie sind meistens zu zweit, Paare jeden Alters, die am Ende der Brücke kurz zögern und dann zur Herberge abbiegen. Der Altstadt widmen sie keinen Blick, höchsten der maurischen Alcazaba, die den Brückenkopf bildet, ein Selfie. Einige von ihnen finden sich zu Bier und Kaffee auf der Plaza España ein. Das Woher und Wohin, der übliche Austausch. Kurze Regenschauer wechseln sich derweilen mit warmen Sonnenstrahlen ab. Ich genieße den Müßiggang in der Stadt, die Gassen, Plätze und Cafés; immer wieder Historisches.
Am Dianatempel treffe ich meinen Guardian Angel wieder, der allein bei einer Tasse Kaffee unter einer Markise sitzt. Wieder eine sprachliche Herausforderung. Ich weiß nicht, wie viel er von dem verstanden hat, was ich ihm erzähle. Von dem, was er erzählt, habe ich nicht viel mitbekommen, außer, dass es mit ihm Spaß, macht zu plaudern. Wolfgang kommt vorbei und setzt sich zu uns an den Tisch. Sicher, er ist sympathisch, doch wenn er anfängt, zu reden, findet er kein Ende. Er stellt sich gern selbst dar, erzählt immer wieder, was er hat und wie gut er in allem ist. Sein Weg nach Santiago kostet, das erzählt er mir bereits zum zweiten Mal, so viel wie ein Kleinwagen. Für mich unvorstellbar. Er erinnert mich an die Päpste und Kirchenoberen, gegen die Franziskus von Assisi geistig zu Felde zog, und ihnen Armut predigte, während sie in Reichtum und Doppelmoral lebten, dem Volk mit feisten Backen Armut und Demut predigten. Dem mittelalterlichen Establishment gefielen Franziskus Worte nicht, und sie hätten ihn am liebsten verbrannt. Reichtum zur Schau zu stellen, stößt mich immer ab. Trotzdem mag ich ihn und übe mich in Toleranz. Im Grunde geht es mich nichts an, wie er nach Santiago geht, aber er erinnert mich an meine Patienten, die mich, wie er, mit ihren Gefühlen und Gedanken überschütteten. Er will zu einem der Aquädukte und lädt mich ein, mitzukommen. Aber ich will nicht, fühle mich mit Angel und unserem komischen Small Talk viel zu wohl, und lasse ihn seines Wegs ziehen. Im Gedränge der Plaza España geht James an uns vorbei. Er ist angekommen. Spontan denke ich: Ob er Camille schon getroffen hat oder sich fragt, wie es ihr geht? Ich muss mich zuerst von Wolfgangs Monolog erholen, gehe ihm nicht nach, und rufe ihm nicht hinterher. Ich sehe ihn ohnehin morgen auf dem Camino wieder, spätestens in der Herberge in Aljucén. Den restlichen Nachmittag und Abend faulenze ich, entspanne meine müden Füße und Beine; morgen gehe ich weiter, siebzehn Kilometer, ins nächste Dorf, wo ich übernachten kann.
Seit ein paar Stunden sitze ich im Café Joplin, Janis natürlich, trinke Bier, esse zwischendurch ein paar Tapas, und schreibe. Das Café liegt passend in der Calle John Lennon. Mit der Erinnerung an zwei Helden meiner Jugend fühle ich mich gut aufgehoben. Zurück in mein Zimmer mag ich noch nicht. Nach Tagen der Schlafsaal-Gemeinschaft komme ich mir in dem Zweibettzimmer verloren vor. Zwei Musiker sind eingetroffen, Piano und Gitarre. Sie eröffnen mit Pink Floyds Wish You Were Here. Ich denke an Freunde zu Hause und wünsche mir, teilen zu können. Die reichen Erfahrungen und Erlebnisse der vergangenen Tage überwältigen mich manchmal. Die meisten Pilgerbekanntschaften sind neu und oberflächlich, oft sprachlich begrenzt und noch zu selten intensiv.

Gestern bin nicht aufgebrochen. Ich habe mich entschieden, noch einen Tag zu bleiben. Nachmittags bin ich in die Pilgerherberge am Fluss umgezogen, weil mir die Gemeinschaft fehlt, die vielen Nuancen der Sympathie und Antipathie. Als ich morgens voller Tatendrang aus dem Fenster schaue, aufs Wandern eingestimmt bin, regnet es in Strömen. Meine Kleidung ist endlich trocken, selbst meine Schuhe. Mit El País-Papier ausgestopft und frisch gewachst stehen sie aufbruchbereit neben der Tür. Wieder hinaus, und im Regen zu wandern, ist das letzte, was ich mir vorstellen kann. Bilder einer überschwemmten und aufgeweichten Vía de la Plata tauchen vor meinem inneren Auge auf. Mehr ist nicht notwendig, um mich anders zu entscheiden. Schnell liege ich wieder im warmen Schlafsack und warte ab, bis es heller ist. Doch es regnet immer noch. Erst nach neun Uhr klart es auf. Der Regen kehrt Mérida den Rücken.
Ein kurzes Frühstück bei El Pimentón um die Ecke; knusprige Tostadas mit Butter und Marmelade, Weißmehl, Zucker und Fett, nicht die nahrhafte Mischung aus Obst und Getreide, die ich bevorzuge, dazu der unvermeidliche Milchkaffee, der so viel besser schmeckt als in Berlin. Vom niedrigeren Preis ganz zu schweigen. In Andalusien, überall in Spanien, gehört Kaffee zu den Grundnahrungsmitteln, ist kein unnötiger Luxus. Die Bars öffnen täglich um sieben Uhr, und sind schnell gut besucht. Die Kaffeemaschine ist heiß, und während der aromatische Trank in die Tasse fließt, schäumt der Wirt zischend die Milch auf. Die Tasse stellt er vor den Gast auf den Tresen, und gießt langsam die schaumig weiße Milch ins Schwarze; eine braune Melange, die köstlich duftet. Schnell eine Tasse Kaffee, ein Small Talk, dann beginnt der Tag. Es ist bereits elf Uhr als ich mit dem Rucksack auf dem Rücken in der Stadt unterwegs bin, unschlüssig, wohin ich gehen soll. Mir fällt der Aquädukt ein, von dem Wolfgang gestern schwärmte. Ich mache mich auf den Weg zum Acueducto de Rabo de Buey im Viertel San Lazáro, der einst das Wasser aus den nördlichen Bächen in die Stadt leitete. Werner hat mir erzählt, er ist der größere und imposantere der beiden, viel lohnender als der nahe gelegene Acueducto de los Milagros. Die Wasserleitung von San Lazáro ist nicht einfach zu finden; auch fragen hilft nicht weiter. Ich verliere im Gewirr einer Schnellstraßenkreuzung mit mehreren abzweigenden Nebenstraßen und Gassen die Richtung. Ein hilfsbereiter Passant bemerkt mein Dilemma, fragt nach, und fast mich am Arm, als er hört, wohin ich unterwegs bin. Er hat den gleichen Weg, sagt er, es freut ihn, mich zu begleiten. Er kennt sich in der römischen Stadtgeschichte aus, redet ohne Pause auf mich ein, ohne zu bemerken, dass ich nur mühsam folgen kann. Eloquent verliert er sich in der Rolle eines Stadtführers, während ich mich bemühe, etwas von seinem Vortrag zu verstehen. Vor seiner Pensionierung war er Mitarbeiter im Museo Nacional de Arte Romano. Während er zügig ausschreitet, referiert er ununterbrochen Historisches. Ich versuche, inzwischen nass geschwitzt, mit Gepäck auf dem Rücken, mitzuhalten. Mein Spanisch ist völlig überfordert, reicht es doch gerade für das Nötigste: zu grüßen, mein Woher und Wohin mitzuteilen, einzukaufen, nach dem Weg zu fragen, das eine oder andere kurze Gespräch, Fragmentarisches aufzuschnappen. Sein Vortrag klingt interessant, doch ich verstehe viel zu wenig von dem, was er mir erzählt, bis schließlich meine Konzentration aufgibt und mich Wortfetzen wie eine einschläfernde Melodie umschwirren. Dass wir Mérida in einem Bogen umrundet haben, wieder zurück in der Stadt sind, schwant mir erst, als er mir stolz den beeindruckenden Acueducto de los Milagros, den Aquädukt der Wunder, präsentiert. Er ist besser erhalten und sehenswerter als der von Lazáro, tröstet er mich. Der in Lazáro wurde im 16. Jahrhundert durch einen wenig eleganten Neubau ersetzt. Wolfgang muss sich geirrt haben. Er hat geschwärmt von diesem anderen Aquädukt, gleich neben dem Circo, dem Hipodromo Romano, aus dem ersten Jahrhundert, wo in der Antike die Wagenrennen stattfanden. Doch vielleicht war sein Tipp nicht so gut, wie er mir versicherte. Tiberius soll den Zirkus in Auftrag gegeben haben, mit mehr als 400 Metern Länge und 100 Metern Breite der größte Veranstaltungsort der Stadt; wie das Amphitheater ein Besuchermagnet. In drei Ränge für Adel, Bürger und Arbeiter gegliedert, gab es Platz für dreißgtausend Zuschauer. Bilder aus dem Film Ben Hur, ein US-amerikanischer Monumental- und Historienfilm von William Wyler aus dem Jahr 1959, den ich mit vierzehn Jahren mit meiner Mutter im Primus Palast gesehen habe, der erste Kinofilm in meinem Leben, tauchen am Rand meines Bewusstseins auf. Ich weiß es nicht. Vielleicht war Wolfgangs Tipp gut, vielleicht auch nicht. Mein Begleiter ist überzeugt: Der Aquädukt der Wunder ist einen Besuch wert und ich glaube ihm.
Die antiken Ruinen queren einen weitläufigen Park, der an die Wasser des Guadiana reicht. Rundbogen an Rundbogen aus rotbraunen Lehmziegeln stützten einst die aus gegossenen Granitsteinen bestehende Mauerschale. Wo das Wasser einst in die Stadt floss, nistet in luftiger Höhe eine Storchenkolonie. Aquädukt der Wunder, der Name sagt alles. Ein vergleichbares Bauwerk habe ich noch nie gesehen. Die fünfundzwanzig Meter hohe und fast einen Kilometer lange Wasserleitung, auf hohen Pfeilern und zwischengespannten Bögen, brachte das Wasser aus dem Proserpina-Stausee, fünf Kilometer vor der Stadt gelegen, nach Mérida. Unter Augustus um die Zeitenwende errichtet, verlief die Wasserleitung ober- und unterirdisch. Die Wasserrinne hat die Jahrhunderte nicht überstanden, sodass der Kamm des Aquädukts den Störchen zahlreiche Nistplätze bietet. Ich wusste nicht, dass diese majestätischen Vögel Kolonien bilden. Ich kannte ihre Nistplätze bisher nur aus meinen norddeutschen Landschaften, durch die ich so oft gewandert bin. Dort findet man sie auf stillgelegten Schornsteinen oder Masten. Ob junge Störche in den Nestern sind, kann ich nicht erkennen. Aber ich sehe die großen Vögel über den Park in die nahegelegene feuchte Flussaue schweben, wo sie nach Nahrung suchen. Der Aquädukt der Störche: So werde ich mich an ihn erinnern.
Nachmittags checke ich in die öffentliche Pilgerherberge ein, malerisch in einem anderen großen Park am Guadiana gelegen, jenseits der Puente de Lusitania. Niemand fragt danach, wo ich die letzten beiden Tage verbracht habe, denn in meinem Pilgerpass fehlen zwei Stempel. Ich wasche meine verschwitzte Kleidung, liege auf der Wiese in der Sonne, oder sitze in einem der zahlreichen Cafés der Plaza España. Eine gute Entscheidung, noch einen Tag durch Mérida zu flanieren.

Abends ist die Pilgerherberge ausgebucht. Niemand den ich kenne ist noch in Mérida geblieben. Neue Menschen, neue Nationalitäten. Pilger aus Dänemark, Portugal, Neuseeland, Australien, Wales, Österreich, Niederlande. Zwei Berliner. Mir scheint, sie gleichen sich alle auf eine bestimmte Weise. Der Weg und das Ziel hat sie zusammengebracht, der Altersdurchschnitt ist verlässlich, Motiv, Auftreten und Gesprächsthemen sind austauschbar. Auch die Atmosphäre in der Herberge ist unverändert. Austauschbar. Die Protagonisten noch ungewohnt, ich bin in die nächste Pilger-Gemeinschaft geraten, die ein paar Tage später in Sevilla aufgebrochen ist. Wir sitzen vor der Herberge in der Abendsonne und essen gemeinsam. Ein buntes Mahl, denn jeder packt seinen eigenen Proviant auf den Tisch; einfach und bescheiden, niemand hat etwas gekocht. Es gibt weißes Brot, Tomaten, Käse und Wurst, Früchte, eine Flasche Wein und ein paar Dosen Bier. Einige der Anwesenden kennen sich bereits, haben in den letzten Tagen abends schon öfter zusammengesessen und erzählt. Die Unterhaltung kreist wieder und wieder um die gleichen Themen: Caminolatein. Der junge Däne, ein Möchtegern, der in Berlin lebt, macht den Wortführer, laut und prahlerisch, will von jedem wissen, wie viele Male er bereits nach Santiago gepilgert ist. Ich verweigere mich dem Leistungsanspruch, brauche nichts, um mein Ego zu polieren. Er mimt den Erfahrenen, während seine Begleiterin schüchtern neben ihm sitzt. Oskar aus Klagenfurt, in seinen Siebzigern, radebrecht mit strahlenden Augen und den geröteten Wangen des passionierten Weintrinkers in Englisch den gleichen Senf dazwischen. Glaubt er wirklich, er verkündet letzte Wahrheiten? Er wandert auf dem Jakobsweg, um abzunehmen. Seine Enkel haben ihn gefragt, gibt er zum Besten, während er seinen Bauch tätschelt: Opa, bist du schwanger? Der spanische Wein und die Pilgerinnen, die meisten in die Jahre gekommen, bringen so manchen deutschen Mann auf den Camino de Santiago. Ich langweile mich, all das Prahlen, Hörensagen und unbestätigte Vermuten, welche Herberge morgen bereits ausgebucht ist. Immer aufs Neue das Top-Thema. Sehr viel weiter kommt die Unterhaltung nicht. Ist das Caminolatein für einen Moment zu Ende gesponnen, tritt Schweigen ein, persönlicher wird es selten, meistens unterwegs, wenn ich jemanden öfter treffe und wir allein in der Landschaft sind. Andere bleiben ganz für sich, haben keine Lust auf Stammtisch. Niemand spricht von religiösen Motiven, gar von Spirituellen, das ihn auf den Weg gebracht hat. Ich frage mich erneut: Sind Touristen auch Pilger? María ist neu, erst heute auf der Vía de la Plata angekommen, direkt aus Lisboa nach Mérida. Sie ist zurückhaltend, noch unintegriert, Punk-Outfit und IT-Arbeiterin. Unter den Pilgern und Wanderern, deren Kleidung sportlich gleichgeschaltet ist, sich kaum voneinander unterscheidet, wirkt sie exotisch, ein Paradiesvogel, der sich in eine Schar Spatzen verirrt hat. Morgen ist ihr erster Tag. Ich wünsche ihr einen Aufbruch ohne Regen. Wieder kommt mir eine Busfahrt in den Sinn. Ich will morgen nicht schon wieder nass werden, und vermisse meine Gemeinschaft, die ich vor drei Tagen so leichtsinnig aufgegeben habe. Ich spüre eine Abneigung, mich in die neue Gruppe zu integrieren. Vielleicht hole ich einige meiner verlorenen Mitpilger bis Alcuéscar doch noch ein. Wenn ich morgen eine doppelte Etappe schaffe? Fast vierzig Kilometer. Eigentlich glaube ich nicht daran.

Gehen bedeutet gleichzeitig wahrzunehmen, zu denken, zu reflektieren, sich durch die Landschaft zu spüren, bis die Zeit elastisch wird, und die Gefühle und Gedanken sich verselbständigen. Dazu muss ich nicht viel tun. Irgendwann ist das Wandern allgegenwärtig. Gehen fördert die Intuition. Während ich abwechselnd in mir oder der Landschaft versinke, achtet etwas anderes in mir darauf, dass ich nicht verloren gehe; meistens kann ich mich darauf verlassen. Mittlerweile habe ich das Gespür für die gelben Pfeile und Muscheln auf blauem Grund, die den Weg markieren, wiedergefunden. Ich sehe sie, ohne bewusst auf sie zu achten. Immer gerade noch rechtzeitig, springen sie in mein Gesichtsfeld. Tagelanges Gehen fördert das Loslassen. Von allem, was mir begegnet, muss ich mich gleich wieder verabschieden; die Menschen, die Landschaften, meine Vorlieben, die sich auch unterwegs bilden. Alles bleibt schneller hinter mir zurück, als mir lieb ist. Es heißt, wandern ist eine Metapher für das Leben; vielleicht nur das meine, was ich aber nicht glaube. Das Leben fließt dahin, leichtfüßig oder schwerfällig. Ein lustig sprudelnder Bach, ein ruhig fließender Strom, ein bequemer, ausgetretener Weg, den viele vor mir gegangen sind, dann wieder über Stock und Stein, aufwärts, abwärts, monoton geradeaus, ein Weg über viele Hindernisse, ein anderer tödlich langweilig. Wege hinterlassen Spuren auf lehmigen, nassen und steinigen Böden und in den Herzen der Menschen. Manchmal sind sie oberflächlich und schnell, von Regen und Wind verwischt, manchmal sind sie tiefer eingetreten, Rinnen im Weg, durch die das Wasser abfließt, und über die der Fußgänger stolpert. Manchmal haben Sonne, Wind, Regen und Frost, die Meister der Erosion, sie von den Rändern her abgetragen und zugeschüttet, sodass keine Spur zurückgeblieben ist. Es hilft nicht, sich Dauer zu wünschen, die schönste unserer Illusionen, verspricht sie uns doch Bleiben und Ewigkeit. Den Wunsch, angekommen zu sein, erfüllt nur der Tod, über den wir verschämt schweigen. Das menschliche Leben mit einer Reise zu vergleichen, mit einer Pilgerschaft, ist nicht allein ein religiöses Thema. Vermutlich ist es so alt, wie die Menschheit selbst, und unterschiedet uns von unseren Mitgeschöpfen, den Tieren, die instinktgesteuert keine freie Entscheidung treffen müssen. Das nichts bleibt, wie es ist, ist eine zutiefst menschliche Erfahrung, die nicht abzustreiten, sondern nur zu verdrängen ist, akzeptiert man sie nicht. In der Ilias vergleicht Homer, als er an die Grenzen des Menschseins denkt, die blühenden Geschlechter edler und edelmütiger Menschen, die Ephemeroi, die dem Tag ausgelieferten, mit Blättern, die verwelkt vom Winde verweht werden. Goethe spricht vom Stirb und Werde, ohne das man nur ein trüber Gast auf einer dunklen Erde ist, eine Sentenz, die an Angelus Silesius erinnert: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt. Das Alte muss sterben, damit Zukunft entstehen kann. Wahrscheinlich die Essenz der wichtigsten Erfahrung, die der Reisende machen kann, den die Neugier auf Neues, auf neue Erfahrungen und die Hoffnung auf ein verändertes Bewusstsein vorantreibt. Ich denke dabei auch an den rollenden Stein, der in vielen Liedern besungen wird, und auch daran, dass der irgendwann doch irgendwo liegen bleibt, und Moos ansetzt. Es geht mir darum zu sein, nicht so sehr zu haben, wie die kapitalistische Doktrin des Konsums verspricht, letztlich ein unbefriedigender Ersatz. Es geht mir um inneren Frieden, mit mir selbst einverstanden zu sein, nicht nur um das Hier und um das Jetzt, auch um das Dort und um das Da. Ganz besonders um das Du, um meine Begegnungen unterwegs. Wandern ist eine gute Möglichkeit loslassen zu lernen, mitten in der Schönheit der Natur, die mich dabei umgibt. Die zweite Lektion des Wanderns beschäftigt sich mit der Gewissheit, dass mit jedem Schritt etwas Neues auftaucht. Niemand weiß, wer oder was sich hinter der nächsten Wegbiegung verbirgt. Ich liebe es, draußen in der Natur in Bewegung zu sein.


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