Sonntag, 22. Januar 2023

Ultreya! Die letzte Etappe


Durch die Porta de Santiago verlasse ich Lugos Altstadt. Durch leere Geschaftsstraßen geht´s hinunter an den Rio Miño. Die Läden sind so früh noch geschlossen und Pinchos gibt es in keiner Bar. Wieder einmal fällt mein Frühstück aus. Vorbei am Schwimmbad, das bis in den Fluss reicht, steigt der Camino Primitivo zurück in die Berge. Am anderen Ende der Stadt, an der neuen Fußgängerbrücke über den Fluss, verabschiedet ein silberner Legionär in voller Rüstung mit Schild und Speer die Pilger auf die letzten hundert Kilometer. Er ist zu müde, um Wegzoll zu fordern. Seine Rüstung hat an diesem regenschweren Morgen ihren Glanz verloren. Wer durch Lugo spaziert, bewegt sich unübersehbar auf historischem Boden. Tritt in die Spuren von Legionären, von Verwaltungsbeamten und Senatoren, römischen Plebejern, die Lugos Straßen einst bevölkerten, Versprengte auf interkulturellem Parkett. Gestern auf der Plaza Mayor, noch bevor ich vor der Kathedrale stehe, blicken ein Legionär und ein Senator auf mich herab. In Bronze gegossen strahlen sie unwidersprochen die Autorität von Besatzer aus.

Kilometer um Kilometer mäandert der Camino Primitivo über monotone Landstraßen, zuletzt auf einem parallel verlaufenden Pfad so lange durch kniehohes Gras bis Schuhe und Hosenbeine durchnässt sind vom Tau. Aus der Ferne grollt drohend Donner herüber und erinnert mich daran, dass es wieder regnen wird. Kein Zweifel mehr. Ich beschleunige meine Schritte in der trügerischen Hoffnung, dem Regen davonlaufen zu können.
Morgens ist der Blick zum Himmel enttäuschend. Die beiden Tage in Lugo waren sonnig und warm. Jetzt drohen mit Regen gefüllte Wolken, die sich im Südwesten auftürmen. Eine nasse Etappe. Ich würde nichts lieber tun als den Regen zurückzulassen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Frühlingswetter in Spanien anders ist als in Deutschland. Jedenfalls nicht in den Bergen. Nach der Schweiz besitzt Spanien die höchsten Berge Europas. Über dem Weg nach Santiago lösen sich die regenschweren, schwarzgrauen Kumuluswolken in einer bleigrauen Decke auf. Alles riecht nach Regen, der sich anschickt über die schutzlosen Pilger herzufallen. Absolut Stratus: niedere Schichtwolken, ein völlig strukturloser Hochnebel, unaufhörlicher Niederschlag, Sprühregen, Nieseln, die Luft voll feiner Wassertropfen, die dauerhaft genauso durchnässen wie ein starker Regen. Nur etwas langsamer. Unwirsch verlasse Lugo im Regen, als ob es nicht bereits genug geregnet hat. San Vincente de Burgo ist der einzige Ort der zwanzig Kilometer langen Strecke nach San Ramón. Wieder einmal wandere ich durch eine graue Landschaft, das trübe Licht, das die Stratusbewölkung erlaubt, dämpft meine Stimmung ins Melancholische, bringt meine Motivation ins Straucheln, bis sich das Wandern schwer und mühsam anfühlt. Physisch wie psychisch. Mit kommt der Gedanke, dass die Pilger absichtlich durch Gegenden geschickt werden, die für ihre Regensicherheit bekannt sind. Pilger müssen leiden. Wie oft habe ich diesen absurden Satz schon gehört, und will, nass wie ich bin, trotzdem nicht seine Botschaft glauben. Als ich die Dorfstraße von San Vincente entlanggehe, bin ich bereits so nass, dass mir das Wasser aus den Haaren tropft. Im Dorfzentrum hat die Gemeinde einen Unterstand eingerichtet. Um einen Getränkeautomaten im Inneren drängen sich Pilger, die versuchen sich regenfester zu machen. Einigen steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, und sie beklagen sich lautstark über etwas, das nicht zu ändern ist, einen Plastikbecher mit Kaffee in der Hand. Gar nicht so schlecht denke ich, unter dem Dach ist es trocken und der Kaffee sicher heiß. Ich ziehe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und gehe weiter. Einige Kurven später besitzt der Eigentümer eines Bauernhofs ein Monopol. Die einzige Bar im Ort, ein regensicherer Unterschlupf. Als ich eintrete, riecht es feucht nach der nassen Kleidung, von der es auf den Boden tropft. Am Tresen und an den Tischen geht es lebhaft zu. Wer hier untergekommen ist, hofft, in kurzweiliger Unterhaltung den Regen auszusitzen. Zwei Frauen drängen sich mit Tabletts voller Gläser und mit Tellern, auf denen das Essen dampft, zwischen den Gästen hindurch. Hinter dem Tresen versorgt derweil ein Junge von höchstens fünfzehn Jahren zwei Reihen nasser Pilger, die nach den gereichten, dampfenden Tassen greifen. Die Einrichtung, einfach und effektiv, kein gesichtsloser Automat, sondern ein Herz für frierende und hungrige Pilger. Ich habe meine Tortilla noch nicht aufgegessen, mein viel zu spätes Frühstück, als der Donner hält, was er versprach. Es wird so dunkel, dass in der Gaststube das Licht eingeschaltet wird. Schließlich regnet in Strömen. Bindfäden oder Cats And Dogs, je nachdem, wer in welcher Sprache einen Kommentar in die Runde wirft. Immer mehr Pilger drängen herein, und in wenigen Minuten ist der Gastraum überfüllt. Noch in der Illusion gefangen, warten wir alle auf das Ende des Regens. Doch die Wetter-Apps der Smartphones sind sich einig: Die Niederschlagsmenge, und die Dauer der Niederschläge, ändert sich erst am späten Nachmittag. Die Regenwahrscheinlichkeit sinkt nur allmählich. Aussitzen zwecklos.
Als es nach einer Stunde noch immer unvermindert regnet, breche ich auf, und lasse alle anderen wartend hinter mir zurück. Zuerst noch regensicher verpackt, gehe ich die nächsten zehn Kilometer durch einen ergiebigen Landregen. Nach drei Stunden hat das Wasser meine Regenjacke und meine Schuhe überwältigt. Ich bin nur noch nass, Regen läuft an mir herunter, meine Brille vermisst einen Scheibenwischer, die Regenjacke hat aufgegeben und in meinen Schuhen schmatzt jeder Schritt. Dann erreicht der Regen mein Hemd und das Wasser läuft mir den Rücken hinab. Meine Hose hält etwas länger durch, doch bevor ich San Ramón erreiche, hat sie vergessen, was der Hersteller unter wasserdicht versteht. Nichts Neues. So erging es mir auf dem Weg nach Santander, nach Villaviciosa und nach Tineo. Was habe ich anderes erwartet. In den letzten Wochen habe ich meine Scheu vor dem Regen verloren. Soweit jedenfalls hat mich der Jakobsweg schon verändert. Ich gehe stoisch weiter und weiter, bis mich der Tunnelblick in die vor mir treibenden Tropfen erlöst. Mein Mantra: Klick-Klick, Schritt-Schritt, laut rezitierend und alle Gedanken an die äußeren Umstände ignorierend. Auf diese Weise komme ich schnell und rhythmisch durch den Regen, den ich irgendwann kaum noch wahrnehme. Allerdings erinnere ich mich auch nicht mehr an den Weg und die Umgebung. Viele Waldwege sind dabei, und der Wald schwebt, im nassen Grün sauber geregnet, an mir vorbei. Unter meinen Füßen fließt das Wasser ab. Dörfer, vereinzelt Häuser, schon möglich, ich erinnere mich nicht mehr. Im Regen auftauchende Ortsschilder mit komplizierten Namen. Wahrscheinlich. Die Landschaft, grün und nass, Galicien, España Verde. Nachmittags erreiche ich triefend nass die Herberge in San Ramón. Im Schlafsaal bilden sich allmählich Lachen auf dem Boden, und Pilger laufen mit Lappen umher. Mein zweiter Satz Kleidung ist trocken geblieben und fühlt sich auf der kalten Haut gut an. Nachmittags hört es auf zu regnen und die Sonne hat ihren großen Auftritt. Auf dem Rasen vor der Herberge versammeln sich die Pilger, während drinnen die Hospitaleros das Pilgermenu zubereiten.
Die Nacht in der Albergue O Candido vergeht langsam. Es ist feucht, eng und laut. Schnarcher sorgen für eine nervige Untermalung. Unausgeschlafen steige ich in Hemd und Hose, die noch nicht trocken sind. Der Tag beginnt klar und schön und die Sonne scheint. Alles wirkt wie frisch gewaschen. Als ich aufbreche, ist es warm. Feucht in der Sonne zu wandern, ist etwas völlig anderes als fröstelnd im Regen.

Warum beginnt jeder Morgen auf dem Camino Primitivo mit einer Steigung? Hat das etwas damit zu tun, dem Pilger ein Kalvarienberg-Gefühl zu geben? Wie es sich anfühlt, täglich sein Kreuz, ich meine seinen Rucksack, einen Berg hinaufzutragen. Ist das eine der Voraussetzungen für den Sündenablass, mit dem der Apostel lockt? Nichts als unfrisierte Gedanken von irgendwo her, denn ich gehöre nicht zu den Pilgern, die an so etwas glauben. Nach der langen Zeit fühle ich mich noch immer nicht als Pilger. Jedenfalls keiner, der religiösen Dogmen hinterherläuft. Ich werde heute nicht nach Melide gehen. Nichts zieht mich auf den Camino Francés, in den der Camino Primitivo mündet. Von einer Pilgerautobahn ist die Rede. Doch auch der Primitivo ist seit Lugo imer voller geworden. Die letzten hundert Kilometer bis nach Santiago de Compostela sind angebrochen. Inzwischen sind nur noch hundert Kilometer für die Compostela, das Pilgerzertifikat, erforderlich. Pilger, die aus gesundheitlichen Gründen den ganzen Weg nicht gehen können, ein Geschenk, das viele, die es nicht nötig haben, sich ebenfalls gönnen. Kranke und Gebrechliche konnten ihre Pilgerfahrt nach Santiago einst in Form von Gebetszyklen sprechend vollziehen.
Nach As Seixas verläuft der Camino Primtivo größtenteils über kleine, kaum befahrene Landstraßen. Nur gelegentlich ein Auto. Von Weiler zu Weiler, von Kirche zu Kirche, durch Wäldchen und vorbei an kreuzbewehrten Friedhöfen. Steinerne Wegkreuze an Kreuzungen und Scheidewegen. Sie wirken magisch, ein Zauber, zur Abwehr des Bösen. Überbleibsel aus keltischer Zeit? Die Landschaft in Galicien erinnert mich an die Bretagne, an Schottland oder Irland, an das keltische Europa. Die Bruchsteinmauern, die die Landschaft gliedern, sind mit Moos und Efeu beplüscht, ein einladend weicher Sitz. Aus denselben Bruchsteinen, auf Wiesen und Feldern eingesammelt, sind Häuser und Stallungen gebaut, denen etwas Archaisches anhaftet: das vielfältige Grün der sanft hügeligen Landschaft. Soweit das Auge reicht, nichts Hartes und Felsiges mehr. Dunkelgrüne Wälder, mit Ästen an denen Flechten wie Bärte hängen, wechseln sich mit saftigen Weiden ab, auf denen Kühe, Kühe und noch mehr Kühe weiden. Das ist Galicien. Ich warte auf den ersten Dudelsack.
Eine Weile folgt der Camino Primitivo einer Via Romana, einer antiken römischen Straße. Alfons II. pilgerte einst auf Wegen nach Santiago, die die Römer durch Galicien legten. Gegenüber einem Wirtshaus in San Ramón, das gleichzeitig ein Laden für das Nötigste ist, steht ein römischer Meilenstein, den ich eine Hinterlassenschaft Roms halte. Doch er ist eine Replik, wie die eingemeißelte Inschrift auf einer verwitterten Tafel verrät. Nicht weniger eindrucksvoll. Seit Tagen bin ich auf dieser römischen Straße unterwegs, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ein weiteres Mal wandere ich in den Spuren der Römer, die tief unter den Asphalt moderner Straßen hinabgesunken sind. In Ponte Ferreira, einem Weiler am Weg, stoße ich auf weitere römische Zeugen, eine kleine, gemauerte Bogenbrücke über einen Bach. Der Weg gegenüber führt einen Hang hinauf und ist mit quaderförmigen Steinblöcken gepflastert. Ich mache es mir auf einer einladenden Bank zwischen Hecken bequem und stelle mir vor, wie einst Kaufleute, Legionäre und Pilger auf diesem Weg gegangen sind. Hundert erhaltene Meter römische Straße, einst Teil der Via Romana von Lucus Augusti nach Iria Flavia, von Lugo ins moderne Padrón, an den Caminho Português. Jenseits der Antiquität noch mehr Asphalt, gelegentlich ein schattiges Wäldchen, und die Quelle von San Jorge de Agua Santas, mit kühlem, erfrischendem Wasser. Die Skulptur stellt Santiago dar, eine Imitation seiner Darstellung als Fensterstützpfosten über dem Pórtico de la Gloria der Kathedrale von Santiago de Compostela. Wie dieser hält er in der linken Hand den Stab des Pilgers, in der rechten eine Schriftrolle mit der lateinischen Inschrift Misit me Dominus, der Herr hat mich gesandt. Zu seinen Füßen hinterlassen Pilger ihre Opfergaben; auf einer Seite die Almosenurne mit dem Santiago-Tatzenkreuz auf der Vorderseite.
Mittlerweile brennt die Sonne heiß vom Firmament, und meine Tagesration Wasser ist längst ausgetrunken. Mittags bin ich in As Seixas, in einer Bar, die in der Scheune eines Bauerhofs eingerichtet ist. Im Inneren ist es dämmrig und kühl. Nur durch einen der Torflügel fällt gleißendes Licht ein paar Meter in den Raum und macht die Dämmerung einen Ton dunkler. Es ist noch früh, trotzdem bleibe ich im Ort, denn im Schatten der Bar entspannen sich Körper und Geist und driften ins Nirgendwo. Eine Gruppe Japaner bricht lärmend in die mittägliche Stille ein; Siesta in As Seixas. Hightech-gestylt, jeder mit Hut, Sonnenbrille und einer imposanten Kamera ausgerüstet, die an einem breiten Riemen vor ihrer Brust baumelt. Ihre Füße stecken in hohen Wanderschuhen aus denen farbige Strümpfe bis an eine kurze Hose reichten, die ein wenig über ihren Knien endet. Ihr Outfit erinnert mich an eine der Jugendgruppen aus meiner Schulzeit, als Kniestrümpfe und kurze Hosen zur Wandertracht gehörten. In der Scheune wird es schnell touristisch und meine meditative Stimmung zerplatzt im lauten Rufen und Gelächter in tausend Blasen. Ist das ein Vorgeschmack auf den Camino Francés? Die letzten Kilometer nach Santiago werde ich antizyklisch wandern. Ich tauche unter den Massen hindurch. Irgendwann am Nachmittag kommen Renate und Konrad an. Gemeinsam steigen wir den Weg hinauf in die moderne öffentliche Herberge am Ortsrand.

Im Schlafsaal ist es still, als ich im Dunkeln nach Arzúa aufbreche, wenigstens dreißig Kilometer. Von Konrad und Renate, den beiden Münchenern, habe ich mich gestern Abend verabschiedet. Ich werde sie nicht mehr wiedersehen. Ich will ankommen, und das bevorstehende Ende meiner Fußreise nicht mehr weiter hinauszögern. As Seixas liegt im Nebel, als ich vor Sonnenaufgang die Herberge verlasse. Es dämmert gerade, ist nicht mehr dunkel, aber noch nicht hell. Nicht nur der Abend kennt eine blaue Stunde, wenn die Sonne den Horizont noch nicht überschritten hat, blaues Licht am Himmel dominiert und der Dunkelheit der Nacht die Herrschaft streitig macht. Die Luft ist feucht, und es weht ein kalter Wind. Von der gestrigen Hitze ist nichts geblieben, im Gegenteil, der Himmel ist bedeckt, und die Täler sind nebelsatt. Auf einer wenig befahrenen Straße und über windige Heidewege stapfe ich verschlafen durch wabernden Dunst langsam bergauf. Oben angekommen frischt der Wind weiter auf und dichter Nebel schluckt das Blau. Ich hülle mich in meine Regenjacke, will nicht noch mehr frieren, doch ohne Erfolg. Den holprigen Weg vor mir ahne ich nur noch, seinen Verlauf sehe ich ein kurzes Stück weit vor mir, dann beginnt die Nebelwand. Hospital das Seixas, ein kleiner Weiler, liegt siebenhundert Meter hoch, auf einer kargen Heide, umgeben von wenigen verkrüppelten Nadelbäumen. Sträucher strecken mir ihre harten Blätter und Dornen feindlich entgegen. Sie sind dem kalten Wind, der über die Höhe weht, ausgeliefert wie ich. Und wie ich versuchen sie sich unter das kalte Wehen wegzuducken. Oben angekommen steigt die Sonne über die Baumwipfel. Der Nebel löst sich auf und weicht hellem Sonnenschein. Immer wieder empfinde ich den Moment, in dem mir der Tag ins Gesicht schaut als ein Geschenk. Der Weg aus Hospital das Seixas führt bergab nach Südwesten, hinunter nach Melide, auf die Mutter aller Jakobswege, den Camino Francés. Wer sich nicht auskennt, denkt an den französischen Weg, wenn er zum ersten Mal vom Jakobsweg hört. Dass es noch viele andere gibt, weiß er nicht.
Als ich Jahrzehnte später, nach meinem ersten Besuch in Santiago de Compostela, wieder vom Jakobsweg hörte, wusste ich sofort, dass der französische nicht mein Weg sein kann. Pilgern als Massenbewegung, Pilgerautobahn und Festivalstimmung. Was es bedeutet, erlebe ich seit gestern. Mit der kontemplativen Einsamkeit des ursprünglichen Jakobswegs ist es schlagartig vorbei. Ich gehe schneller, um mich aufzuwärmen, aber auch, weil ich es eilig habe. Ich will mittags in Melide sein. Der Camino Primitivo hat seit Lugo viel von seinem unverbrauchten Charme und seiner Ungezähmtheit verloren. Seit ein paar Tagen dominiert weitgehend der Asphalt der Landstraße den Weg. Deshalb macht es nichts, dass ich eilig unterwegs bin. Den Zauber des Primitivo gibt es nicht mehr. In O Forte, einem Vorort von Melide, verschwindet er ganz zwischen Reihenhäusern und Firmengebäuden. Eine breite, stark befahrene Landstraße bricht in die historische Altstadt ein, spießt sie auf wie die Frucht von einem Baum. Ich bin noch immer allein unterwegs. Andere Pilger habe ich bisher keine gesehen, doch kaum bin ich im Zentrum auf den Camino Francés abgebogen, begegnen mir die verspäteten Pilger, die erst jetzt, gegen zehn Uhr aufbrechen.

Melide ist ein Städtchen, kurz gestreift und schnell durchquert. Der Pilgerweg führt an Shops und Restaurants vorbei, die sich rechts und links der Straße aufreihen und mit ihren Angeboten locken. In Melide ziehen die Pilger im Minutentakt durch die weltlichen Versuchungen; einzeln, zu zweit, in Gruppen. Die Cafés sind gut besucht. Es ist heiß geworden. Auf den Terrassen und in den Biergärten geht es hoch her. Im Café El Aleman sitzen nicht nur Deutsche. Ich gehe vorbei, denn mir ist nicht nach Bierzeltatmosphäre. In Boente, im nächsten Dorf, finde ich eine kleine Bar, in der ich merkwürdigerweise der einzige Gast bin. Wahrscheinlich gibt es angesagte Orte, deren Attraktivität mündlich tradiert wird. Scharen von Pilgern ziehen vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie wirken auf mich beziehungslos, anonym. Kein Gruß, kein Blickkontakt, schweigend. Gegenüber biegen sie ab, gehen kurz in die Kirche, wo sie ihren Stempel abholen. Ein Hundert-Kilometer-Pilger braucht täglich zwei von ihnen. Sonst können sie am Ende keine Compostela mit nach Hause nehmen. Keinen Nachweis für ihre Leistung. Nur wenige von ihnen tragen ihren Rucksack selbst, auf ihrem Rücken nur der kleine Stadtrucksack für einen Sonntagnachmittag-Spaziergang. Muscheln baumeln daran herab, und ihr Pilgerstab klopft auf den Asphalt. Bei ihnen wirken sie wie nutzlose, modische Accessoires. Gestylt, verkleidet, maskiert. Gebrechlich wirken sie nicht. Leichtfüßig flanieren sie an den Bars vorbei und aus Melide hinaus.
Am Ortsrand von Melide steht die kleine romanische Kirche Santa Maria aus dem 11. Jahrhundert. Ein Schmuckstück, der ausgemalte Chor gut erhalten. Gott-Vater thront als mittelalterlicher König, angetan mit Kaiserkrone und Purpurmantel, zu seinen Seiten Porträts von Heiligen. Kitschige Marienfiguren kontrastieren die Schlichtheit des romanischen Chors. Ich entzünde die erste Kerze auf dem langen Weg von Irún hierher, und überlasse mich dem magischen Ritus der Wunscherfüllung. Noch immer wandern Pilger in kurzen Abständen ihres Wegs. Es macht mir Spaß, den Roadrunner zu geben. Ich bin gut zu Fuß und schnell unterwegs, und will alle überholen, die vor mir sind. Welch ein sinnloses Unterfangen, es sind zu viele. Immer neue Pilger, soweit das Auge reicht. Ich gebe auf, reihe mich ein, und übe mich in Demut.

Von Melide nach Arzúa schwimme ich in einem Strom von Pilgern. Pilger, soweit das Auge sieht. Dutzende zähle ich vor und hinter mir. Plötzlich sind sie überall. Eine Prozession, die nicht abreißt. Auch auf dem Camino Primitivo waren wir viele, trotzdem es gab Ruhe und Abgeschiedenheit, und auch die Abwechslung von Begegnungen. Jetzt fühle ich mich umzingelt. Es ist laut und der Wind trägt die Gespräche weit. Ein Catwalk, auf dem sich Pilger präsentieren. Auch die japanische Reisegruppe ist unter ihnen, die geziert und umständlich versucht, umschwirrt von Kommentaren und Fotogewitter, einen Bach zu überqueren. Rucksäcke haben sie nicht dabei, dafür eine eigenartige Schutzkleidung gegen die Sonnenstrahlen, die an Quarantäne erinnert. Pilgertourismus, eine geführte Gruppenreise. Wer nicht gern mit sich allein ist, wer Rummel und Getriebe mag, wie er es von zu Hause aus der Stadt kennt, für den ist der Camino Francés der richtige Jakobsweg. Zumindest zwischen Melide und Santiago de Compostela. Ribadiso bildet einen Höhepunkt für diesen Pilgertourismus. Die wenigen Häuser im Ort sind Bars oder Herbergen. Snackautomaten für die Durchziehenden sind an den Wänden angebracht. Der Ort liegt in einer Senke, durch die ein stattlicher Bach fließt, der an einer Brücke gestaut ist. Über eine Wiese geht es hinunter an das Becken. Der Staub einer langen Reise treibt in den Fluten. Freibadatmosphäre an einem heißen Nachmittag. Entlang des Wegs reihen sich gut besuchte Cafés und Souvenirshops. Auf den Terrassen und in den Biergärten wird gefeiert. Nun ist es nicht mehr weit bis in die Jakobsstadt.
Arzúa liegt am Ende einer langen, kontinuierlich ansteigenden und schattenlosen Landstraße. Der Ort breitet sich zu beiden Seiten aus, und nimmt den Kamm eines flachen Hügels ein. Angebote für Pilger dominieren das Straßenbild. Herberge liegt neben Herberge, Bar neben Restaurant, Läden, die alles Mögliche anbieten, was ein Pilger brauchen könnte. Und wieder Souvenirs und Devotionalien. Nach dreißig Kilometern treffe ich nachmittags in einer unerwartet leeren Herberge ein. Nur drei der Etagenbetten in dem hellem, komfortabel eingerichteten Zwölf-Bett-Schlafsaal sind belegt. Der prophezeite Run auf die Betten am Camino Francés bleibt aus. Ich lasse meinen Rucksack in der Herberge und schlendere durch die Stadt, eine spanische Kleinstadt, mit elektrisierendem öffentlichen Leben.
Am nächsten Morgen gegen acht Uhr sind die Bars bereits alle geöffnet. Am Straßenrand parken mehrere Reisebusse. Rucksäcke werden verladen und überall auf der Straße sehe ich Pilger, wartend, ins Gespräch vertieft, oder nervös umhergehend, in Sorge, ihren Bus für die letzte Etappe zu verpassen. Die Bars sind gut besucht, und überall ist reichhaltig fürs Frühstück gesorgt. Ich nehme ich den Linienbus nach Lavacolla und freue mich auf eine kurze pilgerlose Etappe. Den Pilgern, die hintereinander am Straßenrand entlanggehen, schaue aus sicherem Abstand vom Busfenster aus zu. In O Pedrouzo strömen sie zu Dutzenden aus den Herbergen auf die Straße. In Lavacollo biegt ein kleiner Weg von der Landstraße zu einem Bach ab, versteckt hinter einem großen Haus. Der Bus hält für mich an, und der Fahrer bringt mich mit einem gelächelten Buen Camino! zurück auf den Weg, wo ich mich widerstandlos in den Strom der Pilger einreihe, zurück auf die Pilgerautobahn Camino Francés. Eine scheinbar endlose Prozession, die weder ihren Anfang noch ihr Ende kennt, von der man fast glauben kann, dass sie Tag und Nacht ununterbrochen vorüberzieht. In Lavacolla, wo zwei Bäche zusammenfließen, überquere ich eine Brücke in eine Parklandschaft, wo bereits früh am Morgen zahlreiche Pilger unterwegs sind. Der Ortsname bezieht sich auf das Landschaftsbild: lava, Weide oder Feld; colla, Hügel. Doch die Theorie, dass der Brauch der Waschung als Namensgebung diente, hält sich hartnäckig. Er klingt romantisch und weckt die entsprechenden Assoziationen. Wer einen Blick auf die umliegende Landschaft wirft, vertraut der naheliegenden, geographischen Bezeichnung. Die Guides in der Kathedrale von Santiago behaupten nämlich, lavacolla bedeutet Halswaschung; von lavar, waschen, und cuello, Hals. Warum sich die Pilger, bevor sie die Kathedrale betreten, an diesem Bach ausgerechnet den Hals waschen, leuchtet nicht unmittelbar ein. Doch die Guides verstehen ihr Geschäft, und bieten dem Besucher mehr als die nüchterne Realität, füttern deren Fantasie mit den Legenden, an denen der Katholizismus so reich ist. Die mittelalterlichen Pilger haben sich im Bach vom Schmutz des Camino de Santiago gereinigt. So gut es unter den primitiven Bedingungen des Jakobswegs eben ging. Ich habe gestern Abend geduscht, und brauche mich nicht in dem kalten Wasser des Bachs zu waschen. Die modernen Pilgerherbergen ersparen dem zeitgenössischen Pilger solche Mühsal. Es geht die Mär, dass die Pilger in der Messe einst so gestunken haben, dass man den Botafumeiro erfunden hat. Dieser Räucherkessel, der nun als Attraktion durch das Mittelschiff der Kathedrale in Santiago geschwungen wird, verbreitete den Wohlgeruch von Weihrauch und Myrrhe, und begrub den Geruch der Pilger unter sich. Heutzutage muss niemand mehr aus Atemnot in Ohnmacht fallen. Reinigungsrituale gibt es heute Morgen keine, und eine Stelle, an der ich näher ans Wasser komme, finde ich nicht. Die Böschung ist steil und zugewachsen. Ob eine Gedenktafel an diesen historischen Ort erinnert? Gefunden habe ich keine. Ich denke nur kurz darüber nach, meine heißen Füße in den Bach zu tauchen, nicht weil es nötig ist, sondern um die Tradition zu würdigen. Rituale sind wichtig. Sie geben unserem Leben einen Rahmen. Doch ich gehe mit verschwitzten und in den ausgetretenen Schuhen streng riechenden Füßen weiter, deren Leder von Schweiß und Regen spröde und hart gewordenen ist. Kurze Zeit später überquere ich auf einer Brücke die Stelle, an der zwei kleine Bäche zusammenfließen und setze ich meinen Weg in die Jakobusstadt fort. Noch einmal geht es steil bergauf, zurück auf einen asphaltierten Weg. Die vielen anderen Pilger kann ich heute gelassener hinnehmen. Der gestrige Schock ist überstanden. Je näher wir der Stadt kommen, desto mehr werden wir. Die letzten Kilometer bis nach Santiago wandere ich mit Pilgern aus der ganzen Welt. Die Atmosphäre auf dem Weg ist vielsprachig und bunt, Englisch die Lingua Franca. Amerikaner sind in der Mehrzahl. In der Gruppe fallen sie durch ihre Ignoranz auf, bemühen sich nicht, sich an das fremde Land anzupassen, sprechen die spanischen Namen kehlig aus und betonen sie amerikanisch. Auch Japan hat den Camino Francés entdeckt¸ Meist sind sie zu zweit, Models der Outdoor-Industrie, teuer und aufwendig gestylt. Unter ihnen sind viele junge Erwachsene in Freizeitkleidung, die an jeden Strand passen. Auch die verstaubten, abgerissenen Wanderer sind mit dabei, die, schon manchen langen Weg gegangen sind, die mehr auf Funktionalität ihrer Ausrüstung als auf ihr Aussehen achten.
Hinter San Marco erhebt sich der Berg der Freude, der Monte do Gozo. Die Reisebusse, die heute Morgen in Arzúa am Straßenrand standen, sind angekommen. Als ich auf dem Parkplatz am Fuß des Hügels ankomme, entlässt einer der Busse seine Passagiere ins Freie. Ältere Menschen auf einer Rundfahrt zu den katholischen, spanischen und portugiesischen Heiligtümern. Vom portugiesischen Fatima erzählen sie, dem bedeutendsten Wallfahrtsort des Nachbarlands. Nun fiebern sie Santiago de Compostela entgegen. Eine Reise von Maria zu Jakobus. Ob sie noch Wissen sie noch, an wen sie sich wenden sollen? Ist ein Schutzpatron so gut wie der andere? Touristen als Pilger? Vor einer kleinen polnischen Marienkapelle auf dem Monte do Gozo steht ein Tisch mit dem Stempel für den Credencial, um den sich die Buspilger drängen, und sich den Stempel fast aus der Hand reißen. Jeder will ihn haben, und es wird gestempelt, was das Zeug hält. Hinein in die Kapelle, zu Maria, geht niemand von ihnen. Jesus Mutter haben sie in Fatima zurückgelassen. Der Stempel ist etwas Materielles, etwas zum Mitnehmen, etwas zu Hause Vorzeigbares, der Beleg des Dortgewesenseins. Nicht nur die Heiligenverehrung treibt die Menschen an.
Vom Gipfel des Monte do Gozo liegt dem Pilger, motorisiert oder nicht, der Sehnsuchtsort Santiago zu Füßen. Im Jakobsbuch, einer Sammelhandschrift aus dem 12. Jahrhundert, mit Texten, die in einer mehr oder weniger deutlichen Verbindung zum heiligen Jakobus und der Wallfahrt zu seinem Heiligtum stehen, heißt er Mons Gaudii und wird als ein Ort großer emotionaler Ergriffenheit beschrieben. Die letzte Etappe hinab in die Stadt gingen die Pilger einst barhäuptig und barfuß, eine Tradition, wie die Waschung, die inzwischen vergessen ist. Es ist ein erhebendes Gefühl, unter dem von den Ankommenden umlagerten, modernen Denkmal zu stehen, und hinab auf die Stadt zu schauen, zu der ich seit sechs Wochen unterwegs bin. Das Denkmal erinnert an den Besuch von Johannes Paul II. im Jahr 1982, und soll ihn mit der Wallfahrt des heiligen Franziskus in Verbindung bringen. Trotz der dichten städtischen Bebauung kann ich den Torre de Reloj, der Uhrenturm der Kathedrale, gut zu sehen. Nun muss ich nur noch den Hügel hinabsteigen, was mir nach wochenlanger Kletterei nichts mehr ausmacht. Die Vorfreude, das Bewusstsein, angekommen zu sein, überlagert alle anderen Empfindungen. Ich reihe mich wieder in der Prozession ein, wandere den Berg hinab und in die Stadt, entlang einer breiten, stark befahrenen Straße. Santiago de Compostela gibt sich gleich am Ortseingang modern und urban. Die kleine Kirche San Lázare, deren Namen diesem Stadtteil den Namen gibt, versinkt in der Modernität ihrer Umgebung. Der Massenbetrieb und die Fun- und Freizeitstimmung auf dem Weg von Melide hierher haben mir zugesetzt. Sie bedrohen meine in den letzten Wochen entstandene Stimmung. Ich erinnere mich an die beiden Kanadier, Greg und Joanna, die mir in Salas gesagt haben: Auf den Camino Francés gehen wir nie wieder. Die Illusion, alle überholen zu können, habe ich trotz meiner höheren Geschwindigkeit aufgeben. Auf dem Camino Francés ist es unmöglich Pilger hinter sich zu lassen. Trotzdem versetzen mich die letzten Kilometer nach Santiago de Compostela in freudige Erregung. Es ist nicht länger ein Wunsch, kein Zweifel, nicht anzukommen, und am allerwenigsten ein Traum. Heute Mittag quere ich die Stadtgrenze.

Abends stehe ich auf dem Campus Stellae, dem Sternenfeld, der modernen Praza de Obrigada, in Santiago de Compostela - während meiner realen Wanderung. Doch meine Erzählungen von Wanderungen auf dem Jakobsweg richten sich nicht nach der Wirklichkeit meiner Fußreise, sondern nach meinen Erinnerungen, und die führen mich zuerst auf die Vía de la Plata, bevor ich Santiago de Compostela und das Ende der Welt erreiche.


In Kürze: Auf der Vía de la Plata - Einstimmung



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