Mittwoch, 1. März 2023

Fisterra Blues


Aber für zwei Weltmeere brauche man
eben, wie für einen Göttervogel,
vor allem eines: Zeit.
Irgendwann in ihrem Lauf
zeige sich schließlich selbst
das Scheueste und Verborgendste.
Irgendwann werde alles offen
.
Chistoph Ransmayr

Der Blues des Wanderns trägt die Vergänglichkeit im Gepäck. Fisterra! Weiter kann ich nicht mehr gehen. Bin ich angekommen? Ich weiß es nicht. Ich spüre, eine Unruhe, die wohl bedeutet: Ich bin noch nicht bereit. Ich bin vor ein paar Tagen in dem kleinen Ort am Atlantik, im Nordwesten von Galicien, eingetroffen. Ich habe das Gefühl, die Zeit auf dem Camino de Santiago liegt schon lange zurück. Es ist früh am Nachmittag. Mir ist angenehm warm, umweht von einer sanften Brise, die nach Meer riecht. Es ist ruhig in den Gassen. Die Einheimischen gehen anderswo ihren alltäglichen Aktivitäten nach. Nur hin und wieder schlendert ein Pilger auf seinem Weg zum Kap vorbei. Kassiopeia heißt eins der Cafés in Fisterra. Es ist nicht allein wegen des Namens ein besonderes, sondern weil es ein deutsches Café ist, geführt von deutschen Frauen. Was das bedeutet, erübrigt sich eigentlich zu sagen! Ein Hauch von Heimat liegt in der Luft. Nach zweieinhalb Monaten unterwegs sitze ich natürlich gerne hier, auch wenn der Kaffee nur halb so gut ist, wie in den spanischen Bars nebenan. Die Schildkröte Kassiopeia in Michael Endes Roman Momosymbolisiert die Qualität der Zeit, die dann am schönsten ist, wenn sie in glücklichen Momenten einen Augenblick verweilt. Dauer verlangen heißt: sie zu verärgern. Kassiopeia kann beides, vorwärts und rückwärts gehen. Paradoxerweise fließt die Zeit mit allem, was zu ihr gehört, schnell an ihr vorbei, wenn sie langsam rückwärts geht. Dabei bewältigen sich alle Widrigkeiten wie von selbst. Es ist ein Genuss, das Gefühl bewusst zu erleben, das eine entschleunigte Lebensweise mit sich bringt. Es kommt auf den richtigen Gebrauch der Zeit an.

Fisterra - weiter gehe ich nicht mehr. Tausenddreihundert Kilometer sind genug. Das sagen mein Verstand und meine Füße, die es ihm eingeflüstert haben. Zehn Wochen täglich gehen sind genug. Ich muss mir nichts beweisen, ich weiß, dass ich noch viel weiter gehen kann, wenn ich es will. Meinen Füßen geht es gut, keine Blessuren, keine Schmerzen. Es sind nicht meine Füße, sondern das diffuse Gefühl noch nicht angekommen zu sein, das Einspruch erhebt und gedankenlos verlangt, weiter zu gehen. Etwas anderes in mir spürt, dass es genug ist, dass ich jetzt nicht mehr weitergehen muss. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die nicht ankommen wollen. Wer nicht ankommen kann, dem fehlt die Zufriedenheit mit sich, und er sucht ohne Ende, was nur in ihm selbst zu finden ist. Wer nicht zurückkommen will, dem gefällt die Heimat nicht, hat vielleicht nie gespürt, was Heimat ist; ein Stück unvergängliche und unveräußerliche Kindheit. Ich bin angekommen, auch wenn mich Ambivalenzen rütteln. Das heißt nicht, ich werde nicht wieder aufbrechen. Ich gehöre nicht zu denen, die ziellos gehen. Der Weg ist das Ziel lautet eine weise Einsicht, die zum Kalenderspruch verkommen ist. Trotzdem gefällt sie mir, doch nur, wenn es mir gelingt, sie zu idealisieren. Meine Wege führen an Ziele, wenn auch nur an vorläufige, oft provisorische. Das finde ich wichtig. Jeder Schritt erreicht ein Ziel, mein Blick ist vorwärtsgerichtet, sieht das nächste Ziel, das nur wenige Schritte vor oder neben mir liegt. Wenn sich mein Blick öffnet, fällt er auf eine ungewiss schillernde Liminalität. Dort muss ich mich neu verorten, nur dort kann ich mich wiederfinden. „Komm, Freund, ins Offene!“ ruft uns der verrückte Hölderlin im Hyperion zu. Ziel ist nicht nur das entfernte Tal oder der Berg, den ich heute noch erreichen will, nicht der Fluss, den ich noch überqueren will oder das Nachtquartier in der nächsten Stadt. Alle diese Ziele liegen auf meinem Weg, einmal dieses und ein anderes Mal jenes. Mir genügt es, mich nicht auf das entfernte Ziel zu konzentrieren, sondern das unmittelbar vor mit liegende nicht zu übersehen. Das ist gar nicht so einfach. Achtsamkeit ist das eigentliche Ziel, und der Weg bietet viele Möglichkeiten zu lernen. Da ist zuerst der äußere, der physische Weg: der Sand, der Lehm, die Wurzeln, die Steine und der Asphalt, das, was die Füße als Untergrund spüren, während sie über ihn gehen. Parallel dazu verläuft ein innerer Weg, ein spiritueller, der mir allein gehört. Den physischen Weg, auf dem ich gehe, sind unzählige andere vor mir gegangen. Sie haben eine Spur in die Landschaft getreten, der ich noch immer folgen kann. Ich bin mir meiner Vorgänger bewusst. Ich bilde mir ein, ihre Anwesenheit zu spüren, und es fühlt sich erstaunlich real an. Diese Menschen haben die Landschaft und die Bauwerke am Weg jahrhundertelang geprägt. Wenn die Landschaft ein Gedächtnis hat, kann sie nicht vergessen. Die Begegnung ist intensiv. Ich weiß, meine Fantasie und meine Imagination beflügeln mich. Es ist die Euphorie, die mich spüren lässt, was lange verweht scheint. Meine Weggefährten, die den gleichen Weg gehen wie ich, sind nur eine Kurve vor oder hinter mir. Ich sehe sie nicht, trotzdem sind sie da. Es reicht mir, von ihnen zu wissen, damit sie präsent sind. Mehr ist nicht nötig, um mich mit all denen, die diesen Weg bereits gegangen sind, verbunden zu fühlen. Den spirituellen Weg gehe ich allein. Dabei begleiten mich meine vielen Identitäten, die vielen Rollen, die ich gespielt habe, die vielen Repräsentationen, die ich in einer inneren Galerie aufbewahre. Sie tauchen aus der Landschaft auf, durch die ich wandere, nicht wie Gestalten, und auch nicht als dunstige Formen. Sie zeigen sich mir als projizierte Erinnerungen. Plötzlich bemerke ich, dass ich nicht allein unterwegs bin: sortieren, beruhigen, vorüberziehen lassen und mich verabschieden, mich erinnern und mich freuen oder trauern. Die mich umgebende Landschaft bildet Kulisse und Bühne, ist Auslöser und Intendant. Ich bin gleichzeitig Regisseur und Schauspieler. Ich spüre einen Widerspruch in mir, ein anderes Gefühl, eine sanfte Melancholie, eine Unruhe, die mich auffordert, nicht aufzuhören, sondern weiterzugehen. Immer weiter! Sie durchströmt mich, ein wohliges Kribbeln in Armen und Beinen. Es dehnt mich aus, zieht an mir, wie die Fäden eines Puppenspielers, der an den richtigen Rezeptoren zupft. Es fällt schwer, so zu tun, als ob nichts ist. Melancholie, keine Traurigkeit, denn sie ist süß und schmerzt nicht. Wohin soll ich von hier aus noch gehen? Nach Muxía, einen, höchstens zwei Tage entfernt. Ich kenne den Weg und den Ort. Neues erwartet mich dort nicht. Fisterra ist kurzweiliger, wenn auch voller Pilger. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass es täglich Hunderte sind. Die meisten reisen am nächsten Tag wieder ab. Nach Muxía, nach Santiago de Compostela oder zurück nach Hause. Sie haben eine Herausforderung bewältigt und sind stolz auf sich. Warum soll ich noch einmal nach Muxía gehen? Nach Santiago zurück will ich auch nicht. In Fisterra steht ein Blues-Festival bevor. Ein Wochenende mit der richtigen Musik. Die passende Kulisse, um Abschied zu nehmen. Es fühlt sich gut an, inne zu halten, um Abstand zu gewinnen, nachzuspüren, was war und was wichtig ist. Es ist unvermeidbar den Flow zu unterbrechen. Die Qualität des Erlebten verblasst ohne Widerschein. Bewegung und Stillstand, die Stille nach der Tat. Geschwister. Unzertrennlich. Gemeinsam bilden sie die Ganzheit meines Lebens.

Später sitze ich am Hafen und trinke Bier. Eine kleine Tapa als Zugabe: Nudelsalat mit Muscheln und Krabben. Die Gastwirte sind spendabel in Galicien. Ununterbrochen ziehen Pilger an der Terrasse der Taberna vorbei, auf der Promenade zwischen Hafenbecken und Hausfassaden. Die meistens sind zu zweit. Oder Mitglied einer Gruppe. Selten ein einzelner Mann, noch viel seltener eine Frau, die allein den weiten Weg hierhergekommen ist. Über den Camino Francés, den Camino Primitivo, den del Norte oder Portugués, seltener den Camino Mozarabe, über die Vía de la Plata und den Camino Sanabres. Nicht nur nach Rom führen viele Wege. Während ich darüber nachdenke, überfällt mich ein eigenartiges Gefühl. Ich empfinde Ehrfurcht und Respekt vor Orten, die so bedeutend sind, dass sie nicht mit einem einzigen der Wege auskommen, die eine numinose Aura umgibt. Wie Flüsse gliedern sie die Landschaft, Strahlen, die sternförmig auf ein Zentrum zustreben. Auf ihnen wandern die Vielen, in jedem Alter und aus allen Ländern. Aus allen sozialen Schichten kommen sie. Arme und Reiche, Gläubige, die wissen, und Ungläubige, die suchen, Schöne und Hässliche, Angenehme und Lästige, Schlanke und Dicke, die abnehmen wollen, Einzelgänger, Individualisten und solche, die es ohne Gruppe nicht aushalten, daneben Vornehme und Proleten, Sportliche und Untrainierte, selbst Kinder sind mit dabei. Gelegentlich habe ich Reiter gesehen, stolze Spanier, hoch zu Ross mit vorgestreckter Brust und arrogantem Blick. Nur einen Hund hat niemand dabei. Schwarzafrikaner habe ich nicht getroffen; auch keine Afro-Amerikaner. Die farbigen Pilger kommen aus Südamerika: aus Brasilien, Chile, Kuba. Europäer gehören jeder Nation ihres Kontinents an. Am Beginn des Wegs waren die Europäer weiß. Nach Wochen auf der Wanderschaft ist jeder von ihnen braun gebrannt. Jedenfalls im Gesicht und auf den Unterarmen. Wenn sie Hemd oder Shirt ausziehen, sehe ich ihre wahre Haut. Sie bieten ein lustiges Bild, besonders die, die schon lange unterwegs sind. Vieles ist von ihnen abgefallen, vor allem das Falsche der Zivilisation. Alle geben sie vor Pilger zu sein. Nicht alle haben eine Muschel am Rucksack. Viele von ihnen folgen einem Trend, einer Mode. Sie wissen wenig über die Tradition des Pilgerns und des Jakobuskults. Sie wandern unbeschwert und fröhlich über die Jakobswege; manchmal herrscht Festivalatmosphäre. Dann ist plötzlich Wandertag. Einer jahrhundertealten Tradition wird heutzutage die Frömmigkeit ausgetrieben. Zum Ausgleich wird sie mit Lebenslust infiziert. Es bereitet mir Freude zu sehen, mit welchem Eifer und mit welcher Begeisterung die unterschiedlichsten Menschen angefangen haben, wieder zu Fuß zu gehen. Nicht nur um die Ecke in den Laden, zur Haltestelle oder zum Parkplatz. Zu sehen, wie sie sich unbewusst und subversiv gegen das autoritäre Diktat moderner Fortbewegung auflehnen: motorisiert zu sein. Schon allein aus diesem Grund gehört ihnen meine Sympathie. Wir sind gemeinsam unterwegs, zum Leuchtturm, der das Kap von Finisterre krönt, das sogenannte Ende der Welt. Doch das ist Caminolatein, denn es gibt das Ende der Welt auch in der Bretagne, in Cornwall und an der Algarve. Und wer weiß, wo sonst noch. Wer nicht nach Muxía geht, um dort die Virgen de la Barca zu besuchen, beendet seinen Pilgerweg am Cabo de Finisterre. Wer nicht früh am Morgen ankommt, findet keine Ruhe mehr. Dann herrscht Gedränge und Lärm am Leuchtturm. Nur am Übergang, da wo das Land ins Meer fällt, findet ich Ruhe und das Gefühl, nicht pure Masse zu sein. Das Ende des Camino de Santiago, die Kathedrale in Santiago de Compostela oder der Leuchturm am Kap von Finisterre, sind touristische Attraktionen. Die Besucher, an diesen Orten ist auch der Pilger Tourist, strömen wie die Adepten eines Gurus herbei. Reisebusse laden ihre Fracht auf dem großen Parkplatz neben dem Leuchtturm ab. Die Souvernirstände sind mittlerweile geöffnet. In dem kleinen Café auf der Klippe drängen sich die Durstigen. Sie trinken Kaffee, Limonade oder Bier auf einer windigen Terrasse über dem Meer. Versonnen schauen sie in die Ferne. Der Dudelsackspieler und der Gitarrist stehen wie vor einem Jahr noch immer am gleichen Platz, nur wenige Meter von der letzten Wegmarkierung entfernt. Sie halten respektvoll Abstand voneinander. Ihre Melodien stören sich nicht gegenseitig. Instrumententaschen liegen ausgebreitet vor ihnen. Ein paar Münzen glitzern in der Sonne. Am Null-Kilometer-Monolith stehen die Pilger für das ultimative Selfie Schlange. Was geht in ihnen vor: Ich habe es geschafft! Ich bin den Weg bis ans Ende gegangen! Ich bin angekommen! Ich bin dort gewesen! Ihre Augen leuchten. Sie lächeln zufrieden, wie befreit. Ihre Gesichter beherrschen unausgesprochene Botschaften.

Viele Kulturen waren der Überzeugung, dass das Jenseits im Westen liegt. Die elysischen Gefilde, Fiddlers Green, das Reich Saturns, des Hüters der Schwelle, liegen im Westen. Dorthin reisten die Seelen der Toten. In eine neue Heimat, die wir heutigen verloren haben. Auf einer Wildgans reitend, wie Nils Holgersson, welch fantastischer Abgang. Ich weiß nicht, vielleicht hat Selma Lagerlöf daran gedacht, als sie ihren Protagonisten auf eine Wildgans setzte. Das letzte Erlebnis meiner Existenz.
Das Spiel der Wellen in der Brandung ist aus der Vogelperspektive betrachtet am schönsten. Ein Schauspiel, aufgeführt von einer Ur-Energie, die unermüdlich neue Szenen inszeniert. Der Ozean ist ein lebendiger Organismus. Wer von der Höhe eines Felsen oder Berges über die weite Fläche schaut, kann sehen, wie er atmet. Gleichmäßig hebt sich das Wasser im Einatmen und Ausatmen. Atmet der Atlantik ein, zieht er sein Wasser vom Land zurück, atmet er aus, stößt er seinen wässrigen Atem mit Kraft an den steilen, felsigen Abhang abgebrochener Felsbrocken. Der Atem des Ozeans zeichnet vielschichtige Muster in die Brandung. Einmal rollt er sanft gegen die Steine, und die Gischt der Wellen schüttet Daunen über die Klippen aus, die sich in Zeitlupe ausbreiten und wieder zurückziehen. Nur einen Augenblick später atmet das Meer die nächsten weißen Federchen aus, die sich mit denen, die sich gerade auflösen wollen, vermischen. Und der Atlantik besitzt einen zweiten Atem, den er mit Kraft ausstößt. Dann bilden sich an den Felsen kreisende Strudel und Spiralwirbel. Die Wellen prallen heftig gegen das Land, das Wasser kocht um die Felsen, nagt und reißt an ihnen, spült über sie hinweg, bis sie für einen Augenblick verschwunden sind. Das dunkelblaue, fast indigofarbene Wasser schimmert um die Felsen türkis, denn die Macht des Ausatmens spült den Schaum der Gischt mit sich in die Tiefe. Ráns Töchter, die Wellen, sind jetzt am Werk. Wer auf einer Klippe am Kap Finisterre sitzt, den zerrenden Wind in den Haaren, spürt die Präsenz archaischer Kräfte, die ergreifenden Atmosphären, deren Numinosität die Alten mit sprechenden Namen anriefen.

Die Wellen bei Flut, früh morgens am Riff
In Zeitlupe versickern sie im Sand
Die Wellen bei Ebbe, abends am Kliff
Schaumgekrönte Pferde am Strand

Ich habe einen ganzen Tag am Ende der Welt zugebracht. An einer felsigen Steilküste, die wie eine Halbinsel vom Meer umgeben ist. Der Blick in jede Richtung: Grenzenlos! Das Cabo de Finisterre ragt wie ein felsiges Amphitheater ins Meer hinaus, ein Halbrund, an dessen Basis die Brandung ihre Symphonien aufführt. Es ist merkwürdig, an einem Ort anzukommen, wo das Land endet, wo es nicht mehr weitergeht, wo das Meer beginnt. Oder wo es endet. Genau unterscheiden lässt sich das nicht. Ich bin in die Felsen hinabgeklettert, soweit es ging, habe im Wind unter strahlendblauem Himmel gesessen. Das Gefühl angekommen zu sein, und gleichzeitig aufbrechen zu wollen, war überwältigend. Der Atlantik um mich herum. Hier beginnt und endet er gleichzeitig. Ob er es ebenso empfindet? Nichts kommt in Sicht außer der weiten, leeren Wasserfläche. Ein Fußgänger kann nur noch zurückgehen. Hoch auf dem Kap endet seine Welt. Zu seinen Füßen breitet sich ein fremdes Habitat aus. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Als ich aus den Felsen zurück zum Leuchtturm klettere, sind Stunden vergangen. Der Wind weht weiter beständig von Westen. Ich kehre um, und schaue seit Wochen zum ersten Mal wieder nach Osten. Die Sonne scheint mir warm auf den Rücken.

Fisterra! Ein guter Platz, um all den Pilgern zuzusehen, die ankommen. Soziologisch betrachtet. Für manche bildet Santiago de Compostela schon lange nicht mehr den Abschluss ihrer Pilgerfahrt. Neuerdings sind die meisten von ihnen Kerkelings, die aus Deutschland kommen. Für sie ist das Kap Finisterre genauso wenig das Ende der Welt wie das Ende des Wegs. Die Wanderer, die weiter nach Muxía gehen, nehmen zu. Wer wochenlang zu Fuß gegangen ist, dem fällt es schwer, plötzlich stehen zu bleiben. Es scheint, niemand will auf die Glücksgefühle verzichten, die das Wandern hinterlässt. Die Kunst besteht darin, das Erworbene mit nach Hause zu nehmen, sich nicht nahtlos in die alten Routinen zu integrieren, sondern sich Nischen zu schaffen, in denen neue Gefühle und Ideen wachsen können. Zu bewahren, was in Wochen ergangen und erfahren wurde.
Die Jüngsten unter ihnen sind noch in den Zwanzigern, die Ältesten schon in den Achtzigern. Sechsundachtzig war die Älteste von ihnen, zweiundzwanzig der Jüngste, die ich getroffen habe. Es mag jüngere geben, doch über neunzig Jahre alt war niemand. Leben jenseits der Neunziger, wem dass vergönnt ist, scheint anderen Bedürfnissen zu folgen. Frauen sind in der Mehrzahl, meist zu zweit oder zu dritt, selten allein. Das Alter spielt keine Rolle. Paare, er und sie, dominieren die Jakobswege. Ob schwul oder transgender, sieht man niemanden an. Häufig überreden die Frauen ihre Männer, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Es gibt auch solche unter ihnen, die ihre Frauen nicht allein gehen lassen wollen, und sie begleiten, damit sie die lange Fußreise heil überstehen. Glauben sie jedenfalls. Galante Ritter und Alltagshelden. Etwas Kontrolle ist auch dabei. Männer ohne Begleitung gibt es in jedem Alter. Die meisten sind deutlich jenseits der Fünfzig. Jede soziale Schicht ist vertreten. Sie ist international, die Pilgergemeinde, friedensbewegt und umweltbewusst. Imagine ist ihre Hymne. Jenseits aller individuellen religiösen, spirituellen und sportlichen Motive folgt die Gemeinde der Pilger diesem Ideal. Pilgern ist zu einer Metapher für ein Wandern für den Frieden geworden, grenzenlos und idealistisch, wenn das auch nicht jedem bewusst ist, widerspricht doch niemand. Gäbe es diese eine Welt, von der Lennon singt, besitzlos, ideologielos und brüderlich, was wäre gewonnen? Die Möglichkeiten liegen wie immer bei den jüngeren Generationen, wenn sie ihre Erfahrungen in der Liminalität des Pilgerns in ihr zukünftiges Alltags- und Berufsleben übertragen. Hoffentlich verspielen sie diese nicht zwischen Egoverhaftung, Konsum und Gleichgültigkeit. Ihnen allen schwebt die andere, bessere Welt vor. John Lennons Vision!

Claudine, eine wohlhabende Rentnerin aus Toulouse, geht den ganzen Tag, zehn Stunden lang, langsam, mit kleinen Schritten, aber immer an die dreißig Kilometer täglich. Ihr Gepäck trägt sie selbst. Abends gehört sie zu den entspannten, gut gelaunten Gästen in den Herbergen. Sie lässt sich die Anstrengung, die ihr Gang unterwegs verrät, nicht anmerken. Am anderen Pol wandert Werner aus Stuttgart, gerade fünfundsiebzig Jahre alt geworden, täglich die zwanzig Kilometer, die er zuhause trainiert hat. Sein Gepäck wird transportiert, seine Unterkunft hat eine Agentur gebucht, die auch seine Pilgerreise geplant hat. Eine Badewanne für die müden Knochen inklusive. Ohne die geht es nicht, verrät er mir. Nun hastet er hightech-gekleidet, mit leichtem Rucksack für Proviant und Regencape, über den Jakobsweg. Er legt großen Wert darauf, jeden Kilometer selbst gegangen zu sein. Er erinnert mich an die Adeligen früherer Jahrhunderte, die den Jakobsweg mit allem Luxus absolvierten. Manche von ihnen schickten sogar einen Stellvertreter auf die Reise. Werner nennt sich selbstkritisch, mit einem Zwinkern, Edelpilger. Sven, aus Schweden, Wikingertyp und Pfeife rauchend, mit über die Schultern fallenden Zöpfen, lebt seit Jahren ohne Geld auf den Jakobswegen. Er ist einer der Originale unter den Pilgern. Auf unerfahrene, junge Wanderer wirkt er unheimlich; sie verstecken ihr Geld vor ihm. Doch er strahlt die Gemütlichkeit eines Großvaters aus, dem ich ohne zu zögern meine Kinder anvertrauen würde. Oder Ralf, ein Hesse aus Marburg und Frührentner, mit bescheidenen finanziellen Mittel, der davon träumt, in Galicien zu bleiben, es aber wegen seines fünf Monate alten Enkels, der wie ein Sohn für ihn ist, nicht tut. Suzanne, Heiltherapeutin und Schamanin aus Oxford, wo sie eine spirituell orientierte Praxis betreibt, schöpft auf Jakobswegen jährlich Kraft. Unterwegs reinigt sie sich von den negativen Energien ihrer Patienten. Seamus, aus Dublin, berät Unternehmen, übernachtet nur in Hotels, und braucht eine Auszeit. Marius, nicht Westernhagen, das sagt er gleich, als ich ihn in Lúbian beim Essen treffe. Pilgermenu selbstverständlich. Er ist Manager in Wolfsburg, nennt sich selbst einen Camino-Sammler. Ich kenne kaum einen der vielen Jakobswege mit Namen, die er bereits gegangen ist. Inzwischen hat er begonnen, sie rückwärts zu gehen, weil kein anderer übrig geblieben ist, den er noch vorwärts gehen kann. Ich habe keinen anderen Pilger getroffen, der so leistungsorientiert ist, obwohl die meisten es ein bisschen sind. Aufgedreht wie ein Kokser, spricht er davon, süchtig zu sein. Er kann nicht mehr aufhören, obwohl seine Familie damit nicht glücklich ist. Auch Miranda aus Rumänien ist unterwegs, Eventmanagerin und Freelancerin, gerade einmal Mitte zwanzig, und bereits weit gereist. Jetzt geht sie das erste Mal im Leben zu Fuß. Auf den Jakobsweg hat sie gefunden, ohne genau zu wissen, was das für sie bedeutet. Sie ist einer Faszination erlegen, von der ihr andere erzählt haben. Nach wochenlangem Gehen auf dem Camino Francés freut sie sich auf Porto, ihr nächstes Ziel, und darauf, wieder einmal richtig zu feiern.

Wer am Anfang genau weiß, wohin ihn der Weg führt, bringt es nicht weit, warnt ein Sprichwort. Doch ans Ende der Welt, ans Kap Finisterre, ist die Entfernung weit genug, um das Ziel beim Gehen aus den Augen zu verlieren. Schnell passiert es, dass der Weg nicht länger das Ziel ist. Ich bin seit Wochen zu Fuß unterwegs. Auf der Walz, wie manch ein Handwerker noch heute. Auch der Ethnologe und Schriftsteller sucht sein Werk draußen in der Welt, denn er behandelt Kultur wie eine Wanderung oder einen Text. Es gab einmal eine Epoche, da war niemand Meister, der sich nicht unterwegs perfektioniert hat. Manche Gesellen lassen sich noch immer auf die alte Rite de Passage ein, ohne die einst niemand ein Mann und heiratsfähig war. Drei Männer und eine Frau habe ich in traditioneller Zimmermannstracht in den Gassen von Santiago de Compostela gesehen. In schwarz und weiß, mit breitkrempigem Hut, das Messer am Gürtel ihrer groben Cordhose, den knorrigen Wanderstock aus Wurzelholz in der Hand. Fröhliche Menschen mit lachenden Augen, die der touristische Rummel nicht tangiert, als lebten sie in ihrer eigenen Welt.
Ich war nur zwei Tage in der Stadt des Apostels, und schon ist sie mir zu eng geworden. Die vielen Steine, die hohen Gebäude, die den Himmel aussperren, der Beton, der Asphalt und der endlose Strom der Menschen, die durch die Gassen und Straßen gehen; eilen, schlendern, flanieren. Nirgends gibt es einen Ort der Ruhe. Selbst in den Parks herrscht reges Leben. Ich habe gesehen, was es zu sehen gibt, und frage mich: War das mein Ziel? Bin ich wegen eines Apostels und des Gedränges in der Kathedrale und in den Straßen der Stadt so weit gegangen? Und noch dazu zu Fuß! Wie verrückt! Im Zeitalter der Hypermobilität ist es subversiv, zu Fuß zu gehen, so sehe ich das. Die Benutzung des eigenen Körpers als Fortbewegungsmittel, gepaart mit der intensiven, leiblichen Berührung durch die Umgebung, in der Ferne oder im Naturraum, die Abwesenheit von gemessener Zeit, entwickelt ein hohes Maß an Sensibilität und affektivem Betroffensein. Wochenlang unterwegs, habe ich nicht an den Apostel und seine Stadt gedacht. Immer nur an den gegenwärtigen Pfad, den Weg oder die Straße. Daran, was hinter der nächsten Biegung zu finden und zu erleben ist. Daran, am Nachmittag anzukommen, etwas zu essen und ein Bett zu finden. Über dieses Ziel hinaus gingen meine Gedanken selten. Immer wieder dachte ich rückwärts, und an das, was mein Leben ausmacht. Immer weiter zu gehen, kein unmittelbares Ziel zu haben, daran erkennt man den Pilger, der ein Suchender ist.

Vielleicht gibt es die Sucht, weiter gehen zu müssen wirklich, wenn man erst einmal angefangen hat. Die Distanz zu Konsum und Technik, das wachsende Selbstvertrauen, die Entspannung, die mich jenseits der Stadt erwartet. Auf mich selbst angewiesen zu sein, die Alternativlosigkeit, wenn es erst einmal begonnen hat, wenn es keine Fragen mehr gibt. Die Zweifel schweigen angesichts der Herausforderung. Die Entscheidungen sind längst getroffen. Ich war unterwegs nach Finisterre, dorthin, wo ich die Sonne im Meer versinken sehen kann. Nun gibt es nichts anderes mehr zwischen mir und der Sonne als die Wellen des Atlantiks. Atlantis ist nicht mehr, wenn es denn jemals dort war, um mir die Sicht zu versperren. Der Westen ist frei.
Es heißt, die mittelalterlichen Pilger seien auch bis an den Atlantik gegangen. Das Ende der Welt muss sie magisch angezogen haben: finis terre. Ein Ozean war für die meisten von ihnen unbekanntes Terrain. Eine terra incognita, bevölkert von Ungeheuern und Dämonen. Am Horizont gähnte ein Abgrund. Einen Riss in der Welt vermuteten sie dort, der alles, was ihm zu nahe kam, verschlang. Amerika war noch ein Traum, geträumt von kühnen Seefahrern und berechnenden Kaufleuten und Politikern. Visionen, zerrieben von der Allianz von Profit und Macht. Was wollten die mittelalterlichen Pilger am Rand der Welt? Was will ich dort? Ich will noch einmal ans Meer, auf die endlose Weite von Wasser und Himmel hinausschauen, bevor ich zwischen die Mauern der Städte zurückkehre. Niemand weiß mit Sicherheit zu sagen, ob der Jakobsweg schon immer ans Ende der Welt führte. Geht man in die europäische Frühgeschichte zurück, dann spricht manches dafür. Nicht erst heutzutage endet der Weg auf den steil abfallenden Klippen des Kaps. Ich befinde mich noch immer auf dem Camino de Santiago, obwohl die Stadt längst hinter mir liegt. Zahlreich sind die Zeugen der Geschichte an diesem Weg: der numinose Sternenweg, von dem die Esoteriker sprechen, von dem Luis Buñuel in seinem Film Die Milchstraße von 1969 erzählt, Pilgerweg, Vía Romana oder jahrhundertealte Handelsstraße. Dolmen und Petroglyphen, merkwürdige Hinterlassenschaften aus einer Zeit, die historisch kaum fassbar ist, Brücken, die die Römer gebaut haben, die hier irgendwo auf dem Weg von Lucus Augustii nach Iria Flavia, von Lugo nach Padrón, vorbeigekommen sind. Christliche Wegkreuze, Kapellen und Kirchen stehen über keltischen Heiligtümern, Stiftungen frommer Zeitgenossen. Das Grab des Apostels fand man 814 angeblich in der Nähe von Iria Flavia, dem modernen Padrón.

Morgens treffe ich Ralf auf der Hafenpromenade. Es riecht nach Fisch und Tang. Ein salziger Geruch, den der Wind in den Ort bläst. Er ist auf dem Weg zum Frisör, denn die Zeit als Pilger habe sein Haar und seinen Bart verwildert. Sonst sehe er nicht so aus, sagt er entschuldigend. Ich verstehe nicht, was er meint, denn ungepflegt ist sein Haar nicht. Er erzählt mir begeistert von einem anderen Weg, der vom Kap zurück nach Fisterra führt. Gestern hat er ihn zufällig gefunden. Er zeigt mir Fotos von einem Hohlweg, einem schmalen Trampelpfad. Unregelmäßiges Pflaster zwischen hohen Bruchsteinmauern. Grün und feucht, von Vegetation eingehüllt, sodass die Sonne kaum die Sohle erreicht. Ich werde neugierig, spüre die prickelnde Erregung, die mir immer dann unter der Haut kriecht, wenn etwas Besonderes in der Luft liegt. Dies sei der ursprüngliche Jakobsweg, schwärmt er, hat ihm ein Bauer gesagt, den er unterwegs getroffen hat. Ich denke an den Sternenweg, den bereits die Druiden ans Kap nach Finisterre gegangen sein sollen, um ihre Novizen zu initiieren. An die Rituale, um die Sonnenwenden zu zelebrieren. In der esoterischen Wirklichkeit des mittelalterlichen Jakobpilgers repräsentiert die Milchstraße das himmlische Äquivalent des irdischen Jakobswegs. In der mittelalterlichen Überlieferung verläuft der Weg nach Santiago de Compostela über einen doppelten Sternenweg. Diese doppelte Straße befindet sich auf dem Karlsschrein in Aachen, wo Karl der Große am Ende dieses Weges einen Engel schaut. Die Jakobusreliquie wurde erst nach Karls Tod entdeckt, sodass weder Karl noch der Handwerker, der das Relief auf dem Schrein anfertigte, etwas von einem Jakobsweg gewusst haben kann. Der Schrein mit der doppelten Sternenstraße muss erst viel später angefertigt worden sein, als der Jakobsweg bereits eröffnet und das hermetische Wissen, das bis heute um ihn kreist, bereits bekannt war. Den Schöpfer des Karlsschreins muss man daher im Umfeld der Templer suchen, die im 13. Jahrhundert, als der Schrein entstand, über große finanzielle Mittel und eine einflussreiche, theologische Autorität verfügten. Buñuels Filmtitel kommt also nicht von ungefähr, sondern ist einer Tradition verpflichtet, die tief in den europäischen, kulturellen Untergrund führt. Ob sich die Milchstraße in zwei parallelen Reihen über den nächtlichen Abendhimmel zieht, ist unbelegt, aber sie endet im Sternbild des Großen Hundes. Es liegt allerdings nahe, sie mit der doppelten Sternenstraße auf Karls Schrein, an deren Ende ein Engel auf ihn wartet, zu identifizieren. Entlang dieser Straße, die sich parallel an dem Breitengrad orientiert, der von den Pyrenäen nach Galicien verläuft, liegen zahlreiche Orte mit dem Wort Stern im Namen; die meisten von ihnen in Baskisch, der ältesten Sprache Europas. Namen von Sternorten – Pic d`Estelle, Puig Tresetrelles, Les Etielles, Lizarra, Astorga, Liciella – markieren den Weg auf einer imaginären Landkarte. Bedenkt man die zahlreichen Steingräber, Menhire und Dolmen in ihrem Umkreis, besonders deren Häufung in Galicien, scheint der Weg, der inzwischen der Jakobsweg ist, bis ins Jungpaläolithikum zu reichen; möglicherweise ein von verschiedenen Kulturen genutzter Prozessionsweg zu Ritualorten oder Begräbnisstätten im Westen, zur untergehenden Sonne. Auf dem Weg der Toten. Er kann auch ein Einweihungsweg der Kelten gewesen sein, der nach ihrem Sonnengott Lug bezeichnete, mysteriöse Lugweg. Das mystische Symbol der doppelten Sternenstraße ist nach dem hermetischen Gesetz formuliert: Wie oben so unten! Wie außen so innen! Eine äußere, physische Straße, ein ins Gelände eintretener Weg, markiert mit topographischen und symbolischen Wegzeiten, kontrastiert mit einem inneren, einem emotional-mental-geistigen Weg. Bevor aus dem Symbol der Spirale, des Labyrinths, die Jakobsmuschel wurde, und aus dem Lugweg der Jakobsweg, hinterließ eine dritte Gruppe ihre Spur auf dem doppelten Sternenweg: die Baumeister der sakralen Gebäude der Romanik und Gotik, die hermetische Chiffren, Phantasmagorien, Chimären, kabbalistische Zahlenmystik und alchemistische Ikonographie in die Steine schnitten, Attraktoren einer sich auf den inneren Weg beziehenden Meditation. In Chartres soll alles begonnen haben: Die Architekten und Steinmetze der dortigen Bauhütte, und nach ihnen ihre Schüler und Nachfolger, haben die im Stein verewigten figuralen, ornamentalen und abstrakten Bildsymbole entlang des Jakobswegs verbreitet. Ihren Weg nannte man den Gansweg, nach dem Gansfuß, einem Erkennungszeichen der Gilde, der an den romanischen Kirchen bis ins Hochmittelalter als Zunftwappen und Zinkzeichen vorkommt. Der Weg der Gans verlief über die aragonische Route des Jakobwegs, von Chartres über das Felsenkloster San Juan de la Peña, das im Verdacht steht, Aufbewahrungsort des mysteriösen Grals gewesen zu sein, weiter nach Léon, letztlich über den Paso de Oca, den Ganspass, zum Pico Sacro bis nach Santiago de Compostela. Das Symbol des Vogels ist weltweit in vielen Kulturen ein uraltes Symbol der Seele: die Gans in der ägyptischen Mythologie, der Schwan bei den Kelten und der Phoenix bei den Arabern, allesamt Vögel, die mit Übergang und Wiedergeburt zu tun haben. Nichts davon ist wissenschaftlich eindeutig belegbar, dennoch sind die Indizien verblüffend, die andeuten, dass der Jakobsweg immer schon weit mehr war als nur ein christlicher Pilgerweg. Vielmehr handelt es sich bei diesem Weg um eine symbolisch aufgeladene, mentale Landkarte, um einen Weg, dem seit Jahrtausenden spirituelle Wirkungen zugetraut werden, die mit der psychischen Entwicklung des Individuums und der Förderung esoterischer und ethischer Werte zusammenhängen.

Nachmittags mache ich mich auf, um Ralfs Weg zu suchen. Ein schwieriges Unternehmen, denn vom Leuchtturm führen gleich mehrere Wege zurück nach Fisterra. Bisher kannte ich nur die breite Landstraße, auf der alle ans Kap gehen, autobusfähig und langweilig. Zurück in den Ort gibt es eine weitere asphaltierte Straße, die hinauf auf den Monto Facho führt, an dessen Fuß das kleine Städtchen liegt. Von hoch oben betrachtet wirkt der Leuchtturm und seine touristische Umgebung wie Teil einer Märklinanlage. Niemand geht die steile Straße hinauf nach oben, alle begnügen sich mit dem Blick aufs Kap; bequem und mühelos. Doch wieder verpasst der das Beste, der dem Führer vertraut und der Masse folgt. Wegweiser leiten mich zu den Pedras Santas, den Heiligen Steinen, und ich erinnere mich, dass Ralf von Höhenangst sprach. Ich klettere hoch auf die grauen Felsen, auf den höchsten Punkt des Hügels. Im heftig wehenden Wind blicke ich auf die atemberaubende Kulisse der galicischen Steilküste. Weit unter mir brandet das Meer gegen eine zerklüftete Felswand. Was es mit den Heiligen Steinen auf sich hat, weiß ich nicht, und ich weiß auch noch nicht, dass ich auf ihnen sitze. Den verwitterten Wegweiser habe ich vergessen. Ich denke auch nicht darüber nach, weil ich noch nach dem ursprünglichen Jakobsweg suche, ohne zu wissen, dass ich ihn schon gefunden habe. Jenseits der Steine endet der ohnehin nicht deutliche Weg an einer weiteren Steilküste. Etwas weiter entfernt führt ein steiles Geröllfeld hinunter auf einen abschüssigen Waldweg. Aus weit gespannter luftiger Höhe komme ich in ein trübes erdiges Dämmern, das die Sonnenstrahlen in braun-grünes Dickicht taucht. Der Weg ist abschüssig und mündet auf eine kleine Lichtung, an deren Ende sich ein grüner Tunnel wie ein Geheimweg öffnet. Ein enger, abwärts führender Korridor zwischen Felswänden und Bruchsteinmauern windet sich hinunter nach Fisterra. Zuerst weich gepolstert von den Nadeln der Kiefern, die den Pfad in ein oszillierendes Zwielicht tauchen. Die Reste einer unregelmäßigen Pflasterung aus groben Geröllen liegt halb verdeckt unter dem Bewuchs. Sicher sehr alt, ruht er halb versunken im Erdboden. Druidenfüße kennt der Weg sicher nicht, die von Pilgern schon eher. Ähnliche Pflasterungen habe ich auf den antiken Fragmenten der Vía de la Plata gesehen. Ich erinnere mich auch gut an einen gepflasterten Weg hinauf zum Zisterzienserkloster Zenarruza bei Bolibar am Camino del Norte im Baskenland. Wenn die Pflasterung wirklich mittelalterlich ist, hat sie sich gut erhalten. Aber solche Geschichten erzählen Einheimische dem Fremden, der sie erwartet und gerne hört. Sie entzünden dessen Fantasie und geben ihm das Gefühl, etwas Besonders erlebt zu haben. Ich bin in Galicien viele dieser schönen Wege gegangen. In den Bergen sind sie allgegenwärtig. Der angeblich ursprüngliche Jakobsweg von Fisterra endet abrupt vor einem der traditionellen galicischen Bruchsteinhäuser mit runden Ecken; dahinter eine moderne Wohnanlage, vor der ein SUV parkt. Weit weniger beeindruckend als die mysteriösen Pedras Santas.

Man geht für eine lange Zeit fort und kehrt als ein anderer Mensch zurück. Doch in Wirklichkeit kommt man nie ganz zurück. Eine geheimnisvoll klingende Erfahrung, die nur versteht, wer sich auf den Weg macht. Aufbruch und Rückkehr bilden die beiden Enden einer Reise. Dazwischen liegt ein Geheimnis, der Übergang, der den Reisenden unumkehrbar verändert. Das wird ihm allerdings erst nach seiner Rückkehr bewusst. Er wird nie mehr derjenige sein, der er einmal war. Sein altes Ego, mit dem er in seinen Alltag verließ, den er naiv und euphorisch zurückließ, existiert nicht mehr. Eine Reise ist eine Bewegung im Raum, die das erlebende Ich als seine neue Gegenwart erfährt. Erinnerung ist eine Bewegung in der Zeit, die für das retrospektiv erzählende Ich gestern und früher war; nun für immer vergangen. Die Kluft des Abschieds trennt die Gegenwart von der Vergangenheit. Was einst Jetzt und Heute war, bevölkert die Erinnerungen jenseits des Abgrunds, in dem die Zeit versinkt. Es benötigt Visionen und Träume, sie zurückzuholen, und man muss gut aufpassen, keine Toten aufzuwecken. Die Faszination an jedem beliebigen Gegenstand, an jeder Begegnung oder jedem Sachverhalt, beginnt mit einem Bündel von Vorurteilen, die dem jeweiligen kulturellen Hintergrund des Reisenden entspringen. Gleichgültig wohin die Reise führt: nach außen oder nach innen, immer handelt es sich um Programme, Situationen und Sachverhalte, die sich auf einander zu bewegen, um sich unentwirrbar zu vernetzen. Es geht nicht darum, den objektiven Standpunkt eines Betrachters zu seiner Wahrnehmung zu formulieren. Es geht allein darum, seinen Bezug zum Leben zu verstehen. Es geht um seine Sicht, mit der er anderen seine Welt vor Augen führt. Ein Autor darf seinen Lesern nicht verschweigen, dass er seinen eigenen Obsessionen in der Erfindung der Fremde folgt. Wirklichkeit kennt keine Sprache, in der sie beschrieben werden möchte. Jeder Text ist etwas Gemachtes. Fiktion!

Fisterra! Der Weg vom Kap in den Ort mündet an einer Wand auf die ein Anonymus in weißer Schrift auf blauem Grund ein paar galicische Zeilen gesprüht hat. Blau wie das Meer und weiß wie die Wolken, die irgendwann am Tag immer aufziehen. Sie fehlen fast nie, doch es regnet nicht immer. Die Zeilen sprechen vom Ende des äußeren Wegs und dem Aufbruch nach innen:

ergo a cabeza e ali está
a fin do mundo
onde remata
a miña viaxe de
e comezan
os meus soños
   denn da ist ein Kopf
   am Ende der Welt
   dort wo meine
   Reise endet
   fangen sie an
   meine Träume [1]

Die kleine Hafenstadt Fisterra im Nordwesten Galiciens bildet geografisch das Ende der galicischen Costa del Muerte, der Todesküste, die schon vielen Seefahrern zum Verhängnis wurde. In der Bretagne, einer anderen alten, keltischen Domäne, gibt es sie auch: die Küste der Toten. Doch das nur nebenbei. Fisterra ist der See zugewandt, ein Fischerort, mit fünftausend Einwohnern. Die Stadt umgibt den Hafen wie ein Amphitheater, und ist auf die umliegenden Hänge gewachsen. Der Name der Stadt stammt aus dem Lateinischen: finis terrae, Ende des Landes. Die Römer der Antike glaubten, dass hier das Land endet und das Meer in die Unterwelt fließt. Der Leuchtturm aus dem Jahr 1853, der westlichste in Galicien, warnt vom höchsten Punkt des Kaps, in 138 Metern Höhe, vor einer der gefährlichsten Küsten der Region. Mit Einbruch der Dunkelheit blitzt alle fünf Sekunden ein Licht auf, das 31 nautische Meilen weit sichtbar ist. Wenn dichter Nebel das Licht verschluckt, ertönt ein akustisches Signal, ein Nebelhorn, das der Volksmund Kuh nennt. Das Caminolatein, das den Pilgerweg nach Santiago de Compostela umgibt, sowie die Tourismusindustrie, fokussieren auf das Ende, da auch der Pilgerweg einst am Kap endete. Jedenfalls der physische, der dem Land eingetretene. Anders der galicische Dichter Roberto Traba Velay, der den Anfang betont. Jedes Ende braucht einen neuen Anfang, sonst geht das Leben verloren. In seinem Gedicht begrüßt er das Ende als Neubeginn. Auch der Weg des Fußreisenden ist in Finisterre noch lange nicht zu Ende. Jederzeit kann er ihn fortsetzen:

Bienvenido al principio del mar,
Donde el munde se llama Fisterra,
Donde leyenda y fe se confunden,
En un poema de palabras de piedra.
Willkommen am Anfang des Meeres,
Wo die Welt Fisterra heißt,
Wo Glaube und Legende vermischt sind,
In einem Gedicht aus Worten aus Stein.
Bienvenido al principio del mar,
Que dulce besa la arena,
Con olas que son altares,
Y flores de primavera.
Willkommen am Anfang des Meeres,
Das sanft den Sand küsst,
Mit der Flut seiner Altäre,
Und den Blumen des Frühlings.
Bienvenido al principio del mar,
Donde cantan souviendo,
Un cantar luminoso que escuchan,
Los que vienen siguiendo las estrellas.
Willkommen am Anfang des Meeres,
Wo lächelnd Sirenen singen,
Ein Lied, deutlich zu hören,
Für die, die den Sternen folgen. [1]

Wieder die Sterne. Nachts erscheinen sie über dem Kap wie Löcher im Himmel. Für viele Pilger endet der Weg am Cabo de Finisterre, für die, die mit dem Bus kommen ohnehin. Sie eilen die letzten drei Kilometer hinauf zum Kap, verweilen kurz, schauen, fotografieren das Meer, ein Selfie mit den Null-Kilometer-Monolith. Wichtig für sie ist, da gewesen zu sein. Nun wissen sie, dass ihre lange Wanderung zu Ende ist. Nur sie wissen: Hat sich der Weg gelohnt? Die letzte Trophäe ist errungen. Am nächsten Tag fahren die meisten von ihnen mit dem Bus zurück nach Santiago. Wer unersättlich ist, kann noch dreißig Kilometer weiter nach Norden gehen, nach Muxía, zur Jungfrau im Boot, wo eine weitere Jakobuslegende auf sie wartet. Dort können sie unter dem versteinerten Segel hindurchkriechen, das die Jungfrau zurückließ, als sie den desillusionierten Jakobus aufforderte, seine Missionierung trotz der Schwierigkeiten mit den heidnischen Kelten fortzusetzen. Wer über die erforderlichen Krankheiten verfügt, die dreifache Passage unter dem Segel absolviert, der wird gesund nach Hause zurückkehren.

Das Land westlich von Fisterra streckt eine schmale Zunge ins Meer, zwischen die rollenden Wogen, Lippen zum Kuss geöffnet. Auf ihr sitzen wie Geschmacksknospen mystische Orte: die Pedras Santas und die Eremitage de San Guillerme. Archäologische Funde haben inzwischen bestätigt, dass der Camino de Santiago und der Camino de Finisterre zusammengehören. Die Heiligenvita erzählt, dass die Reliquie des Jakobus die galicische Küste übers Meer nach Iria Flavia erreichte, ins heutige Padrón. Dort ist sie, von Engeln oder Jüngern begleitet, in einem Steinboot gelandet. Erst viel später gelangte sie von dort nach Santiago de Compostela, auf das Sternenfeld, wo Alfons II., genannt Castro, der Keuche, eine Kapelle über den Knochen errichtete. Damit legte er den Grundstein der modernen Kathedrale, ein Politikon, dass sich die Unterstützung Europas gegen die islamischen Mauren sicherte. Das Phänomen der Jakobuspilgerschaft war geboren. Der Fundort mag den Grund liefern, warum bereits im Mittelalter einzelne Pilger ihren Weg ans Meer fortsetzten. Es muss für Menschen, die noch nie einen Ozean gesehen haben, ein unfassbar ergreifendes Erlebnis gewesen sein, die Weite des Atlantiks zu erleben. Die modernen Pilger sind diesen Anblick gewöhnt. Jeder von ihnen hat schon einmal an einer Küste gestanden, zumindest ein Meer im TV gesehen, sodass die grenzenlose Weite des Ozeans dem nüchternen Zeitgenossen einen subtileren Natursinn abverlangt, da sonst die Ergriffenheit ausbleibt. Und natürlich der Sonnenuntergang, wenn die rotglühende Sonne im westlichen Meer versinkt, ein Naturschauspiel, das von den Launen des Wetters abhängig, oft hinter Wolken stattfindet, und dann den Pilger enttäuscht nach Hause entlässt. Wer allerdings feiner empfindet, dem offenbart sich der Klang der Sirenen im Rauschen des Windes über dem Wasser, die Pferde des Poseidon im Kräuseln der Wogen, sein Dreizack im Tosen der Brandung am Riff und die Präsenz der stets hungrigen Töchter Njördrs im Gurgeln des Wassers am Fels. Über allem die göttliche Sonne, die nicht nur von überall zu sehen ist, sondern ihren Weg in die Unterwelt hier beginnt. Phänomene, die bereits die Druiden und ihren Sonnenkult anzog. Nur wenige Pilger nehmen die Großartigkeit wahr, steigen hinunter in die Klippen und schauen ungestört hinaus aufs Meer, sehen nichts als Wasser und die wenigen Felsen zu ihren Füßen. Nur wenige sitzen und lauschen lange genug, bis sie ganz von der Wassermusik durchdrungen und bereit sind, an die Legenden und Märchen zu glauben, die die Fischer im Ort erzählen. Die mittelalterlichen Pilger verbrannten am Kap ihre Kleidung, die sie wochenlang auf ihrer Pilgerfahrt getragen haben. So wollten es Brauch und Ritual, denn ihr Armutsgelübde erlaubte ihnen nicht mehr, als das, was sie auf dem Leib trugen. Der strenge Duft einer wochenlangen Wanderung, der Geruch feuchter Wolle, von Schweiß, Drüsenpheromonen und mangelnder Hygiene, hüllte jeden Pilger in eine individuelle Duftnote, die ihn umgab und vorauseilte. Das riesige, 54 Kilogramm schwere Weihrauchgefäß, der Botafumeiro, der in der Kathedrale von Santiago einen fünfundsechzig Meter weiten Bogen beschreibt, wird während der Pilgermesse immer noch über die Köpfe der Gläubigen geschwenkt. Einst diente er dazu, den Gestank der Pilgermassen zu mildern. Mittlerweile ist er zu einer Attraktion verkommen, dessen Bahn durch das Kirchenschiff die hoch erhobenen Smartphones verfolgen. Das Ritual der Verbrennung auf den Klippen erwähnt jeder Pilgerführer. Eine sinnlos gewordene, romantische Attitüde fungiert als empfehlenswerter Abschluss des Pilgerwegs. In den Felsen des Kaps findet man die Brandstellen mit halbverbrannten Schuhen und Kleiderresten, aber auch zerschlissene Schuhe, die jemand zwischen die Felsvorsprünge deponiert hat. Verrückt genug dazu scheint immer wieder jemand zu sein, der trotz der Bitte der Stadtverwaltung seinen Müll am heiligen Ort entsorgt.

Das Cabo de Finisterre, an dessen westlichem Ende der Gebäudekomplex des Leuchtturms und der Null-Kilometer-Monolith stehen, ist ein Naturraum (European Natural Label 2007), der mehr umfasst, als die steil ins Meer stürzenden Felsen des Kaps. In der Umgebung von Fisterra und Cabo de Finisterre befinden sich drei interessante kulturelle Objekte: der Mount Facho mit den Pedras Santas, den Heiligen Steinen, die Kirche der Santa Maria de las Arenas, der Heiligen Maria von den Sanden, sowie die Eremitage San Guillerme, historische Orte, wobei die Überlieferung um die Pedras Santas nach volkstümlicher Folklore klingt. Doch auch die Fragmente der Ruinen der Eremitage verwirren mit legendarischen Splittern, die ihre kulturelle Bedeutung verschleiern. Der einzigartige Sonnenuntergang über dem Kap suggeriert einen frühgeschichtlichen Altar der Sonnenverehrung, einen sakralen Ort, wo das Meer die Sonne am Ende des Tages verschlingt; Solistizien und Äquinoktien kündigen die kritischen Wechsel der Jahreszeiten an. Einen Ara Solis der chaldäischen und phönizischen Seefahrer, die hier unmittelbar mit der Unterweltfahrt ihres Gottes konfrontiert waren, soll es einst am Kap gegeben haben. Jakobus war es, so die Überlieferung, der in gut christlicher Manier diesen heidnischen Altar zerstört hat. Man erzählt aber auch, dass dieser Altar während der christlichen Missionierung in die Einsiedelei des San Guillerme umgewandelt worden sei. Der Weg hinauf zu der Ruine ist steil und staubig und am frühen Nachmittag schweißtreibend. Oben angekommen verblasst jede Anstrengung vor dem Blick hinunter auf Fisterra, die sanft geschwungene Playa Langosteira und über den Atlantik. Der Eremit, der in der archäologischen Stätte gelebt hat, war der Heilige Guillerme, ein Herzog von Aquitanien. Das sogenannte Steinbett des Heiligen liegt unter freiem Himmel in der Ruine. Die Legende überliefert, dass kinderlose Paare, die sich in dieses Bett legen, ein Kind bekommen werden. Der letzte Hauch einer schwachen Erinnerung an die einstigen Fruchtbarkeitsrituale, die das Werden und Vergehen der Jahreszeiten begleiteten. Die Klause des Heiligen liegt nicht nur am äußersten Ende des uralten Sternenwegs, sondern auch an einem der höchsten Punkte der Landschaft, wo sich der Blick über die gesamte Landzunge auf das westliche Meer öffnet. Selbst die geringere Körpergröße der mittelalterlichen Menschen vorausgesetzt, glaube ich nicht, dass der Heilige Guillerme, der hier lebte, täglich in diesem Bett geschlafen hat. Dazu ist der lange, rechteckige Steinblock viel zu kurz. Er misst gerade 1,60 Meter. Als Schlafstatt ist er schlecht geeignet. Allerdings will ich auch nicht abstreiten, dass sich die harte Unterlage gut zur mönchischen Askese eignet, die das Fleisch, das Böse in christlicher Sicht, abtötet. Doch die in den Block gegrabene Mulde repräsentiert einen Initiationssarg nordischer Machart, in dem die Initianden archaischer Einweihungen symbolisch starben, um verändert in einem neuen Status wiedergeboren zu werden. Während des Initiationsschlafs blieb der Sarg offen. Über dem Initianden wölbte sich der Himmel, und er war mehrere Tage lang Sonne, Sternen, Wind und Regen ausgesetzt. Wer dies spekulativ empfindet, der möge sich in der Abenddämmerung auf die Bruchsteinmauern der Eremitage setzen, entspannt die Beine baumeln lassen und seinen Imaginationen folgen, während er aufs Meer hinausschaut. Sein Blick kann dem Spiel der Wogen folgen, und er kann dem Summen von Mediationsformeln lauschen, die noch immer in der Luft liegen. Die Ausgräber fanden eine Bronzeglocke und ein Bronzekreuz, antike Münzen und eine Gagat-Skulptur des Jakobus sowie weitere Gegenstände, die die Verbindung von Finisterre mit dem Jakobsweg belegen.
Auch um die Heiligen Steine auf dem Mount Facho, hoch über der Bucht des westlichen Mare de Fora, rankt eine Legende, wie sie in der keltischen Folklore von Feen und drei Wünschen häufig erzählt wird. Auf einer Felskuppe des Gipfels des Facho liegen zwei rundliche Felsbrocken nebeneinander, nicht fest mit ihrer Unterlage verbunden, sondern lose, auf einem Punkt, auf dem sie sich bewegen lassen. Wer auf einem der großen Steine steht, die Füße schulterbreit auf die felsige Oberfläche gedrückt, kann sachte hin- und herschaukeln. Wer sich dann etwas wünscht, dessen Wunsch wird sich angeblich erfüllen. Der eine Stein lässt sich mit gespreizten Beinen hin- und herschaukeln. Um den anderen Stein in Schwingung zu versetzen, braucht es einen vorwärts ausgreifenden Schritt. Ich habe im kräftig blasenden Wind auf beiden Steinen gestanden und geschaukelt. Die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, konnte ich mich nur mit Mühe aufrecht halten, immer bemüht, die Balance nicht zu verlieren. Beide Felsblöcke schaukelten so heftig, dass ihr Klopfen auf dem Boden widerhallte. Ich hoffe, die Feen haben es auch gehört. Einen Moment schwankend im Wind stehend verloren meine Beinmuskeln ihre Spannung und meine Knie wurden weich. Ich hatte einen Augenblick lang das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und frei in der Luft zu schweben. Was ich mir gewünscht habe, das bleibt geheim, sonst geht es am Ende nicht in Erfüllung.
Das Cabo de Finisterre ist eine geografisch überschaubare Landschaft. Graues Felsgestein, zyklopische Formen, wie von Riesen ungestüm umhergeworfen, ungestaltet aufgehäuft, oder durch die karge Heide brechend. Im Frühling in grün-gelbe Blüten getaucht, kulturell vielfältig, mit Wurzeln, die ins kelto-iberische Erbe reichen. Es ist die Landschaft, die mich an einen gemeinsamen Ursprung erinnert: irisch, britannisch, bretonisch, galicisch. Mich wundert, wie sehr eine bestimmte Landschaft ihre Bewohner prägt. Manchmal kommt es mir vor, als ob die Formori, die autochthone Bevölkerung Irlands, auf ihrem Weg auf die Grüne Insel auch durch Galicien gekommen sind. In der irischen Überlieferung sind sie ein Volk von gewalttätigen, dämonischen Riesen, die all diesen Landschaften den Stempel ihrer Anwesenheit aufgedrückt haben.
Abends bin ich ein letztes Mal an dem fast menschenleeren Strand des Mare de Fora. Ich nehme Abschied vom Meer, dass die einsetzende Flut in hohen Wellen an den Strand schleudert. Dichte Kumuluswolken ziehen am Horizont auf. Die Sonne versinkt an einem grau verschleierten Horizont in einem nassen Sack. Kein Sonnenuntergang in Fisterra.

Abends beginnt das Fisterra Blues Festival. Ralf und Sven sind schon gekommen; auch Miranda ist da. Mit einem Glas Bier in der Hand stehen sie auf der Praza da Constitución. Die erste Band, Wax & Boogie, spielt einen hybriden Blues, der sich weit von den Ursprüngen entfernt hat. Ein besonderes Hörerlebnis bietet der Schlagzeuger der Chris Krämer Beatbox´N´Blues Band aus Dortmund, der das Schlagzeug nur mit seinem Mund spielt. Grandios! Auch der US-amerikanische Blues- und Reggae-Gitarrist, Sänger und Songschreiber, Correy Harris ist da. Er trägt einen hellblauen Turban, und wirkt so exotisch, dass ich für einen Moment vergesse, in Europa zu sein. Bilder der Sahelzone, Tuareg auf Kamelen und Zelte unter Dattelpalmen.
Ich bin entschieden, nicht mehr weiterzugehen. Ich treibe mich ziellos in den Gassen von Fisterra herum, versuche mich in Müßiggang und Entspannung. Ich flaniere durch die Gassen, um täglich das Gleiche zu sehen. Trotzdem ist es nicht das Gleiche, denn mir fallen immer mehr Details auf. Der Vorteil zu bleiben liegt darin, unter die Oberfläche zu schauen. Jeder Flaneur, der ziellos umherstreift, weiß das. Melancholie ist das vorherrschende Gefühl, der Blues auf der Praza im Zentrum des Orts, passt gut zu meiner Stimmung. Plötzlich still zu stehen, inne zu halten, kein weiterer Schritt. Nicht noch ein Schritt und noch einen Schritt. Weiter zu gehen fällt plötzlich schwer. An die nächste Wanderung zu denken hilft. Vorfreude ist die schönste Form des Wartens. Weiter nach Westen geht es nicht. Ich bin meinen Weg bis ans Ende gegangen. Jetzt drehe ich mich um, und schaue zum ersten Mal seit Wochen wieder nach Osten. Zu Eos, zur Morgenröte, zum Sonnenaufgang. Dorthin, wo alles beginnt: das Licht, der Tag, das Leben. Im Westen ist die Nacht; im Osten die Geburt. Wiedergeburt. Ich habe das Ritual des Übergangs vollzogen. Die Passage ist vollbracht, und die Energie, die ich in mir spüre, signalisiert Kraft, Selbstvertrauen und Gelassenheit. Ich habe einen neuen Umgang mit dem Gebrauch meiner Zeit gefunden. Mein neuer Status, mein Drittes Alter, hat beginnen. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingt, und neugierig, was es bereithält. Fisterra! Das Kap am Ende der Welt ist ein magischer Ort, das Ende eines Wegs.
Gestern den ganzen Tag nur Traumwetter. Ich habe Sonne getankt bis zum Überlaufen. Am frühen Abend zog eine Wolkenfront mit Regen über die Küste; wieder kein Sonnenuntergang am Kap. Nun ist es vollbracht, abgeschlossen, ein gutes Gefühl. Blues bietet den perfekten Abschied. Ein unvergleichliches Erlebnis, eine schöne Zeit auf einem wochenlangen Trail durch Spanien. Ich kann mir vorstellen, hier zu leben und bleibe doch nur wenige Tage.


Übersetzungen aus dem Galicischen und Spanischen von mir.


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