Willkommen am Anfang des Meeres
wo man die Welt Fisterra nennt
Roberto Traba Velay
Ist Zeit das Rad, das sich dreht,
oder die Spur, die es in die Erde gräbt?
Kelstars Rätsel
Und wieder schau ich auf das weite Meer hinaus . . . Der Song ist altbekannt, doch Madagaskar nicht in Sicht. Noch einmal Mal bin ich in die Klippen am Cabo de Finisterre geklettert. Das Meer ist heute ruhig. Die Wellen flach, nicht schaumgekrönt, wie beim letzten Mal, als sie wütend gegen die Klippen brandeten. Der Horizont ist dunstverhangen. Möwen schweben über die sanfte Dünung, ein weißes Segelboot, sonst nichts. Die Weite ist vollkommen. Willkommen am Anfang des Meeres. Am Ende des Wegs. Von hier aus geht es nur noch zurück. Was einst nur wenige und unter großen Schwierigkeiten und persönlichen Opfern verwirklichen konnten, das kann heute jeder. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Doch dass das so ist, darin liegt gleichzeitig ein Problem. Selbstverwirklichung ist eine Errungenschaft unserer Zeit.
Wenn allerdings jeder die potenzielle Möglichkeit in Anspruch nimmt, und eine Pilgerfahrt unternimmt, und dazu ist jeder berechtigt, ohne Frage, dann begräbt die Masse den Pilgergedanken unter sich. Pilgern ist ein Ideal, Urlaub auf Jakobs Wegen eine Freizeitaktivität. Und so betrat der Turigrino die Bühne der Caminos de Santiago. Alle gehen ans Cabo de Finisterre. Romantisch verklärt ans »Ende der Welt«. Finis terrae! Kaum jemand erkundet die Umgebung. Das war auf meinen anderen Wanderungen auf den spanischen Jakobswegen nicht anders. Von Fisterra die Landstraße hinauf ans Kap, achtlos vorbei an Santa María das Areas, der romanischen Kirche Maria von den Sanden, das Selfie an der Pilgerskulptur, die mit wehender Pelerine vorwärts eilt, als gäbe es einen Termin einzuhalten. Das zweite Selfie am Null-Kilometer-Monolith unterhalb des Leuchtturms und zurück nach Fisterra. Viele noch mit Rucksack, im schnellen Stechschritt des wochenlangen Camino gefangen.
Die romanische Kirche Santa María das Areas ist der erste bedeutende Kultort auf dem Weg ans Ende des Camino de Finisterre. Nach einer Schenkungsurkunde von Doña Urraca Fernández, der Tochter des Grafen von Traba, wurde die Kirche 1199 gegründet: V. modios de pane et tertian vacarum mearum de montealto. Ad opus ecclesie Ste. Marie de finibus terre - »Fünf Maß Brot und ein Drittel meines Viehs aus Montealto. Bei der Arbeit der Kirche von Santa Marie vom Ende der Welt«. Eine Kirchengründung mitten in der ersten Phase des Jakobuspilgerns, als die Reconquista Fahrt aufnahm, und die Iberische Halbinsel noch Jahrhunderte unter dem Einfluss des Islams stehen sollte. Im 14. bis 16. Jahrhundert war die Zahl der Pilger so angewachsen, dass 1479 das Hospital de Peregrinos de Nuestra Señora de Rosario vor der Hauptfassade der Kirche eröffnet wurde. Ein Vorgängerbau der Kirche, eine Kapelle aus dem Jahr 695, wird Meister Domingo A. de Andrade, einem der bedeutenden Künstler des Baus der Kathedrale von Santiago, zugeschrieben.
Die frühe Gründung der Kapelle im siebten Jahrhundert nährt die Vermutung, dass sie über einem paganen, vielleicht keltischen oder megalithischen Kultort errichtet wurde. Im Zuge der Christianisierung in der Übergangszeit von Spätantike und frühen Mittelalter war es üblich, pagane Kultorte mit christlichen Verehrungsstätten zu überbauen. Das vielleicht imponierendste Beispiel für eine Inbesitznahme und christliche Umwidmung einer alten Kultstätte ist die romanische Capilla y Dolmen de Santa Cruz in Cangas de Onís. Unter dieser Kapelle befindet sich Asturiens berühmtestes megalithisches Hügelmonument: der Dolmen Santa Cruz. Pelayos Sohn Fafila und seine Gemahlin Froiliuba ließen nach dem Tode Pelayos im Jahre 737 eine Kirche auf diesem Hügelmonument errichten. Der Legende nach zur Aufbewahrung eines bedeutenden Symbols der asturischen Geschichte und Kultur von religiöser und nationaler Bedeutung eines Holzkreuzes, des »Kreuz des Sieges« (Cruz de la Victoria), mit dem Pelayo in der Schlacht von Covadonga gegen die arabischen Besatzer siegreich war. Das unmittelbare Ergebnis dieser Schlacht war die Gründung des Königreichs.
Die Legende besagt, dass der asturische König Pelayo, Gründer des Königreichs Asturien, beim Sieg über die Mauren in der Schlacht von Covadonga im Jahr 722 ein einfaches Holzkreuz getragen habe. Dieser Sieg markierte den Beginn der christlichen Rückeroberung Spaniens (Reconquista) von den muslimischen Mauren. Später, im Jahr 908, ließ König Alfonso III. von Asturien dieses einfache Holzkreuz mit Gold und Edelsteinen verzieren und so entstand das kunstvoll gestaltete Kreuz, das heute als Cruz de la Victoria bekannt ist. Es wird in der Cámara Santa in der Kathedrale von Oviedo aufbewahrt. Im gibt es Fach für Reliquien, das ursprünglich wohl ein Fragment des Kreuzes Jesu barg. Die lateinische Inschrift auf dem Querbalken lautet: Hoc signo tuetur pius, hoc signo vincitur inimicus - »Durch dieses Zeichen wird der Fromme beschützt, durch dieses Zeichen wird der Feind besiegt.« Dieses Kreuz, Blau auf Weiß, bildet das offizielle Wappenzeichen der autonomen Region Asturien und gilt als Symbol für den Widerstand gegen die muslimische Expansion und den Beginn der spanischen Nationalwerdung. Asturien mit Pelayo als dessen erstem König, die Keimzelle des modernen Spaniens.
Neben der Kirche Santa María das Areas steht eine Info-Tafel, die zwei Wanderwege über die Landzunge empfiehlt: den Ruta do Faro und den Ruta Mar de Fóra. Der für mich in diesem Zusammenhang relevante Weg ist die Ruta do Faro, die Route zum Leuchtturm. Die Karte ist genordet, auf der Abbildung zeigt der Nordpfeil senkrecht nach oben (Ruta do Faro – blau; Ruta Mar de Fóra - orange. Doch die Karte ist nicht maßstabsgerecht, und die Lage der Orte entspricht nicht der Wirklichkeit, bildet aber wahrscheinlich das relative Verhältnis der drei Kultorte zueinander ab, die ein ursprünglicher Camino de Finisterre ans Ende der Welt, auf dem Monte o Facho, alle passiert. Die Ruta do Faro beginnt am Hafen in Fisterra, in Ribeira, und von dort zur romanischen Kirche Santa María das Areas. Eine kurze Wegstrecke hinter der Kirche, weiter die Landstraße zum Kap hinauf, biegt kurz vor Punta Cabanas (s.Abb. 07) eine steile Piste hinauf, die zur Ermita de San Guillerme (s.Abb. 18) führt, und von dort zu den Piedras Santas (s.Abb. 17) mit ihrer eigenartigen Überlieferung und weiter hinab bis Punta del Cabo (s.Abb. 13). Drei Stationen eines frühgeschichtlichen Initiationswegs oder einer christlichen Pilgerfahrt, die beide an einer prominenten Stelle der Costa de Muerte enden.
In Fisterra, und besonders zum Cabo de Finisterre, ist es so, wie es im Neuen Testament kritisiert wird: Alle nehmen den breiten, komfortablen Weg, nur wenige den schmalen, steinigen Pfad. Der breite Weg ist die dreieinhalb Kilometer lange, kurvige Landstraße hinauf zu Leuchtturm. Doch es gibt einen anderen Weg ans Kap, nach Finisterre, einen Weg, den die Einheimischen als den ursprünglichen Camino de Finisterre bezeichnen, der Weg, der ein Rest des alten »Sternenwegs« oder «Lughwegs« sein könnte. Die Landstraße ans Kap führt zwar an der altehrwürdigen Iglesia de Santa María Areas am Ortsrand von Fisterra vorbei, doch am Weg über den Monte o Facho liegen weitere, interessante Kultorte, die die Landstraße auslässt.
Der angeblich ursprüngliche Camino de Finisterre beginnt oberhalb von Fisterra, an der Basis des Monte Facho, ein Hohlweg zwischen fast zwei Meter hohen, teils mit grob behauenen Bruchsteinen gemauerten Wänden, in denen Farne, roter Fingerhut und zahlreiche andere Pflanzen wurzeln. Anfangs steigt der Hohlweg auf einer alten Pflasterung, die mit der Zeit zu einer unregelmäßigen Passage zerfallen ist, steil an, wird aber schon schnell zu einem moderat ansteigenden Pfad, der in einen breiten Wirtschaftsweg mündet. An der Einmündung des Hohlwegs auf die Piste, die von der Landstraße zur Ermita de San Guillerme führt, steht ein Wegweiser. In mehreren schattenlosen Serpentinen endet die Piste an den Ruinen einer Einsiedelei.
Es ist einer meiner letzten Tage in Fisterra. Mein Bus nach Porto ist bereits gebucht. Ich bin nicht zum ersten Mal zur Ermita de San Guillerme unterwegs. Aber ich will noch einmal auf den Monte o Facho, um die Hinterlassenschaften weit vergangener Tage noch einmal zu sehen. Noch einmal von der Einsiedelei hinunter auf Fisterra und den Hafen sehen, noch einmal auf den Heiligen Steinen im Wind stehen.
Hinter Maria von den Sanden, gegenüber der Punta Cabanas, biegt eine steile Piste auf den Monte o Facho ab. Der Weg hinauf zur Ruine der Ermita San Guillerme ist steil und staubig. Es ist morgens schon warm, und es verspricht ein heißer Tag zu werden: schweißtreibende 222 Meter hoch zur ehemaligen Einsiedelei, auf einem Geländesporn hoch über Fisterra. Oben angekommen verblasst jede Anstrengung vor dem Blick hinunter auf Fisterra. Der Ort und die sanft geschwungene Praia Langosteira liegen tief unten an der tiefblauen Bucht, die sich mit der Farbe das Himmels einen Wettstreit liefert. Auf der Reede ankern zwei Containerschiffe, die vor dem Hafen, der eigentlich eine Marina ist, überdimensioniert wirken.
Von der Ruine, einst Kapelle und Eremitage, ist nicht viel übriggeblieben, sodass ich mir ihr früheres Aussehen kaum vorstellen kann. Wirklich beeindruckend ist nur ihre Lage auf diesem Felsen, der im Volksmund auch Monte de San Guillerme genannt wird, den lockeren Kiefernwald im Rücken, den Blick auf das Meer und den Horizont gerichtet. Ein idealer, energetischer Ort, ein Kraftort, um meine Tage mit Meditation und Kontemplation zu verbringen. Ein angemessener Ort, um sein Leben zu vertrödeln, die Atmosphäre, die die Zeit langsamer werden lässt, aufzunehmen und seinen Gedanken nachzuhängen. Wer dieses Gefühl nachvollziehen will, muss sich in der Abenddämmerung auf die Bruchsteinmauern der Ermita setzen, entspannt die Beine baumeln lassen und seinen Imaginationen folgen, während er auf das Meer hinausschaut und dem Spiel der Wellen zuschaut, dem Summen von Mediationsformeln lauscht, die noch immer in der Luft liegen. Die Klause des Heiligen Wilhelm liegt nicht nur am äußersten Ende des uralten »Sternenwegs«, sondern auch an einem der höchsten Punkte der Landschaft, wo sich der Blick über die gesamte Landzunge auf das westliche Meer öffnet.
Die Fragmente der Ruine der Eremitage verwirren mit legendarischen Splittern, die ihre kulturelle Bedeutung verschleiern. Anscheinend wurde der Ort im zehnten Jahrhundert christianisiert, ein ursprünglich paganer Kultort wurde in eine christliche Eremitage mit Kapelle umgewandelt. Über den Eremiten, der in der heutigen archäologischen Stätte gelebt haben soll, ist man sich uneinig. Zwei Aspiranten wetteifern um die Gunst der Interpreten: Guillermo X., Herzog von Aquitanien, der im 11. Jahrhundert, nach seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela nach Fisterra ging. Er wurde dort getauft, und nahm den Namen Don Gaiferis an, ein Name, der im Gallego auf etwas beleuchten verweist. Andere Wissenschaftler vermuten, dass der Eremit auch Guillermo I. von Toulouse gewesen sein kann, bekannt als Guillermo de Gellone. Schaut man genauer hin, erscheint die historische Person, die in der Eremitage über Fisterra als Eremit gelebt haben soll, noch mysteriöser. Wilhelm (Guillermo) X., der Heilige oder der Tolosaner (1099-1137), war der letzte Herzog von Aquitanien, bereits am Ende des Mittelalters eine von Legenden umrankte Figur, immer wieder mit Guillermo de Gellone (Kurznase; † 812) verwechselt, der ebenfalls Herzog von Aquitanien war, und ebenfalls den Beinamen der Heilige trägt, ein Herzog von Toulouse, der sich von 790 bis 806 in ein Kloster zurückzog.
Die Ruine der Ermita San Guillerme bildet zwei rechteckige Strukturen, die sich an einen großen Felsen schmiegen, über einem vor den Elementen geschützten, höhlenartige Abri, eine bauchige Aushöhlung, von der ich mich frage, ob sie natürlich entstanden ist. Lasse ich meiner Fantasie freien Lauf, dann ist dieser Schoß der Erde ein Ort, an dem man sich einen paganen Initiationsort, aber auch die ursprüngliche Klause eines Eremiten denken kann. Die baulichen Strukturen, von denen die Ruine die Reste sind, wären dann als Nachfolgebauten zu betrachten. Die Stätte scheint archäologisch gut dokumentiert, und ob es weitere Grabungen geben wird, wer kann das sagen. Bisher ist jedenfalls von einer ehemaligen Bewohnung des Abris keine Rede. Allerdings sind die Informationen auf der Info-Tafel nicht ausführlich und wenig differenziert. All das bleibt deshalb Spekulation, bis die Archäologie weitere Belege vorlegen kann.
Für die Umwidmung eines paganen Kultorts in eine christliche Verehrungsstätte spricht das sogenannte »Steinbett« des Heiligen Guillermo. Es befindet sich in der von Archäologen als Kapelle identifizierten Struktur, gleich neben einem gemauerten Steinblock, der als Altar bezeichnet wird. Auch das angebliche »Steinbett« wartet mit einer Legende auf: Wenn sich bislang kinderlose Paare in dieses Bett legen, so erzählt man mir in Fisterra, werden fruchtbar und bekommen ein Kind. Was das mit dem Eremiten Guillermo zu tun hat, kann ich nicht sagen, und soweit ich weiß, gibt es kein diesbezüglich von ihm gewirktes Wunder. Wahrscheinlicher erscheint mir, dass sich in dieser Legende der letzte Hauch einer schwachen Erinnerung an einstige Fruchtbarkeitsrituale spiegelt, die das Werden und Vergehen der Jahreszeiten begleiteten. Selbst die geringere Körpergröße der mittelalterlichen Menschen vorausgesetzt, glaube ich nicht, dass der Heilige Guillermo täglich in diesem Bett geschlafen hat. Dazu ist der lange, rechteckige Steinblock viel zu kurz. Er misst gerade 1,60 Meter. Als regelmäßige genutzte Schlafstatt ist er schlecht geeignet. Allerdings will ich auch nicht abstreiten, dass sich die harte Unterlage gut zur mönchischen Askese eignet, die in gut christlicher Manier das Böse im Fleisch abtötet.
Die in den Steinblock gegrabene Mulde diente einst einem anderen Zweck. Vermutlich handelt es sich um einen Initiationssarg, nach nordischem Vorbild, in dem die Initianden archaischer Einweihungen symbolisch starben, um verändert in einem neuen Status wiedergeboren zu werden. Während des Initiationsschlafs wölbte sich über den Initianden, die in dem offenen Sarg lagen, der Himmel, und sie waren Sonne, Sternen, Wind und Regen ausgesetzt.
Den Zusammenhang der Ermita San Guillerme mit dem Camino de Santiago bestätiget die archäologische Fundsituation: eine Bronzeglocke und ein Bronzekreuz, antike Münzen und besonders eine Gagat-Skulptur des Jakobus in seiner Rolle als Pilger. Gagat, oder Jet, als Rohmaterial für die Herstellung von Schmuck oder von Devotionalien, wie Pilgerzeichen in Form von Muscheln oder dem Santiago-Fica (Feigenhand), als Abwehr gegen den bösen Blick, brachte der Zunft der Gagatschnitzer von Santiago de Compostela immer ein gesichertes Auskommen. An die einstige Konzentration der Gagatschnitzer an der Kathedrale von Santiago erinnert bis heute der Name eines Platzes: Plaza de Azabache (Gagatplatz).
Die breite Piste, die ursprünglich von der Landstraße zum Cabo de Finisterre den Berg hinauf zur Ermita San Guillerme abbiegt, endet auf einer asphaltierten Straße, die den Leuchtturm mit einer aufgegebenen Telefgrafenstation verbindet, und steil auf den Monte de Facho führt, zu den Piedras Santas, die hoch über dieser Piste liegen. Wie mit der Ermita San Guillerme hat es auch mit den Piedras Santas eine besondere Bewandtnis. Eine von Rinnen zerfurchte, vom Regen ausgewaschene Piste endet an einem abschüssigen Hang, den man kaum einen Weg nennen kann. In der Kurve mit dem Wegweiser San Guillerme beginnt ein versteckter, ungewöhnlicher Weg, ein Hohlweg, hinab nach Fisterra, den die Einheimischen als den ursprünglichen Jakobsweg bezeichnen. Am meerwärtigen Ende dieses Wegs, wo die ersten Häuser Fisterras stehen, gibt es auf einer Hauswand ein interessantes Grafitti, das ein Anonymus in weißer Schrift auf blauem Grund gesprüht hat. Blau wie das Meer und weiß wie die Wolken, die irgendwann am Tag immer aufziehen. Sie fehlen fast nie, doch es regnet nicht immer. Die Zeilen sprechen vom Ende des äußeren Wegs und dem Aufbruch auf einen inneren Weg:
ergo a cabeza e ali está / a fin do mundo / onde remata / a miña viaxe de / e comezan / os meus soños
denn da ist ein Kopf / am Ende der Welt / dort wo meine / Reise endet / fangen sie an / meine Träume
Dieser Weg führt nicht an der Iglesia Santa María das Areas vorbei, sondern ohne Umweg direkt zur Ermita San Guillerme, weiter zu den Piedras Santas und ans Cabo de Finisterre. Wir haben es mit einem Netzwerk von Wegen zu tun, die naturräumlich besondere Orte, ehemalige Kultorte, am Ende des Camino de Finisterre, miteinander verbindet: das Cabo de Finisterre, das als Ende der Welt gilt, die Ermita San Guillerme, und zuletzt die Piedras Santas, die Heiligen Steine, am Weg vom Kap zur Wegbiegung San Guillerme.
Nach der Ermita San Guillerme gestern, bin ich heute zum dritten Mal auf die Piedras Santas gestiegen. Mit diesen Heiligen Steinen hat es eine besondere Bewandtnis, von der mir ein Pilgerbruder erzählte, als ich zum ersten Mal in Fisterra war, und wie alle anderen, wie empfohlen, gedankenlos auf der Landstraße ans Kap wanderte. Ihm hatten Einheimische von dem alternativen Weg erzählt, und am nächsten Tag war ich auf der Suche nach diesem Weg. Damals habe ich auch das erste Mal auf den Piedras Santas gestanden, die sich sofort in Schwingung versetzen ließen. Auf den Steinen hin- und herschwingend wünschte ich mir damals noch einmal zurückzukehren. Die Einheimischen bewahren eine Überlieferung über die beiden Heiligen Steine, und erzählen gerne, dass, wer die Heiligen Steine in Schwingung versetzt, einen Wunsch frei hat. Dazu ist es notwendig mit jedem Fuß auf einem der Steine zu stehen, und sie mit rhythmischen Bewegungen hin- und herzubewegen. Die Heiligen Steine sind zwei eng zusammenliegende Felsbrocken auf der ebenen Oberseite eines Felsens. Sie gehören, mit einigen anderen, zu den höchsten Punkten auf dem Gipfel des Monte o Facho. Dieser Gipfel wurde in Jahrhunderten von der Erosion, der gestaltenden Kraft der Natur, zu einer bizarren Landschaft geformt. Übriggeblieben sind eigenartige Felsskulpturen, in die die Fantasie alle möglichen Gestalten hineinspinnen kann. Diese Skulpturen sind in ein zusammenhängendes Bett aus Heide eingebettet, ein trockenes Habitat mit stechenden, dornigen Sträuchern, die mir die Beine zerkratzen, als ich aufsteige. Dazwischen gelb blühender Ginster, fast schon verblühte Kamille und Hornklee, Gräser und zahlreiche andere Pflanzen deren Namen ich nicht kenne.
Ich habe lange gezögert, noch einmal herzukommen, und noch länger, ein zweites Mal auf die Steine zu steigen. Der Ort nimmt mich sofort gefangen, kaum stehe ich neben den Steinen. Das Panorama ist atemberaubend. Einen besseren Ort habe ich auf meinen vielen Wanderungen nicht gefunden. Es gibt andere Orte, in anderen Landschaften, die eine besondere Anziehung auf mich ausübten, aber keiner ist wie die Piedras Santas auf dem Monte o Facho. Vorsichtig setze ich mich doch auf einen der Steine, ohne in zu bewegen, und genieße die Landschaft. Es ist fast windstill, nur gelegentlich zupft eine leichte Brise an meinen Haaren. Das Meer ist ruhig, spiegelglatt. Der Himmel ist wolkenlos, dunkelblau. Und trotzdem ist der Horizont in der Ferne dunstverhangen. Von hier oben kann ich kaum eine Bewegung der Wellen auszumachen. Nirgendwo schäumt eine Brandung an die Felsen der Steilküste. Ich habe die Sonne im Rücken. Sie reflektiert von den Felsen und es ist angenehm warm. Endlich, nach den vielen Tagen Regen, Matsch und Kälte in den asturischen Bergen.
Die beiden Strände Fisterras liegen weit unten, so weit, dass sie nur zwei gelbe Bänder sind, die die roten Häuser des Orts dekorativ einfassen. Über der Praia Mar de Fóra der Monte San Roque, dahinter, noch eine weitere Bucht, die tief ins Land einschneidet, der Blick hinüber nach San Martiño de Abaixo, oder ist es San Martiño de Arriba, und noch weiter dahinter die Rolling Hills of Galicia.
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl hier oben zu sitzen und zu schauen, nichts zu tun, als zu schauen und die Landschaft in mich aufzunehmen. Oder ist es die Landschaft, in mich in sich aufnimmt? Ich spüre, wie die Piedras Santas mich locken, mich anziehen, es noch einmal zu versuchen. Ich weiß nicht, warum ich zögere. Ich sitze lange auf dem Stein. Die Stille ist perfekt. Nur der Klang der Natur. Vögel, die trällern, das leise Raunen des Winds, so schwach, kaum wahrnehmbar. Das Reiben meines Atems an meinen Lippen. Fast kommt es mir vor, ich höre den Flügelschlag der Schmetterlinge, die hier zahlreich sind. Inzwischen flimmert die Hitze. Die Luft riecht nach Kräutern, nach Kiefern, deren Duft der Wind von gegenüber heranweht, nach trockenem Staub, wenn es das ist, was ich zu riechen glaube. Es fällt mir schwer, mich lösen. Noch immer zögere ich, die Steine zu bewegen, um mir noch einmal etwas zu wünschen. Wie viele Wünsche gewähren die Steine? Im nächsten Moment fühle ich mich maßlos, noch einmal einen Wunsch zu fordern. Einem Impuls folgend steige ich schließlich, ohne länger zu überlegen, auf die Steine, stelle mich breitbeinig auf beide, und will sie in Schwingung versetzen. Doch nichts passiert. Die Steine bewegen sich nicht. Ich verlagere mein Gewicht von links nach rechts, von einem Fuß auf den anderen. Nichts. Die Steine rühren sich nicht vom Fleck. Sie liegen schwer auf ihrer Unterlage, wie festgeklebt. Es braucht Geduld und eine Zeit der Versuche, bis meine Füße die richtige Position gefunden haben. Plötzlich lassen sich die Steine leicht bewegen, und ich sage ihnen meinen Wunsch. Wie beim letzten Mal halte ich ihn geheim, bis er sich erfüllt, und hoffe, dass mein Wunsch erfüllbar ist. Es ist unglaublich, freihändig fast dreihundert Meter über der Welt zu stehen und auf diesen Steinen von rechts nach links zu schaukeln; langsam hin und wieder zurück. Es gibt einen kurzen Moment der Angst abzustürzen, bis ich mich aufgerichtet habe, mein Gleichgewicht gefunden, und frei auf den Steinen stehe. Die Welt zu Füßen, den Kopf hoch erhoben. Empfinden Vögel diesen Augenblick, kurz bevor sie abheben? Heilige Steine! Über der Welt, die Fisterra ist, werden Wünsche wahr. Ich bin lange allein bei den Steinen. Niemand kommt herauf zu mit. Ich sehe zwei Wanderer unten auf der Piste vorbeigehen, doch ich bleibe allein. Eine lange Zeit, bis dann doch jemand auftaucht, eine Frau, der ich die Steine überlasse. Die vielen Pilger, die Tag für Tag in Fisterra ankommen, die drei Tage zu Fuß oder die zwei Stunden mit dem Bus, haben nur das Ende der Welt im Blick, das Selfie am Null-Kilometer-Monolithen und ein paar Schritte in die Klippen, wo nun ein bronzener Schuh auf einem Felsen unterhalb des Leuchtturms klebt. Dann zurück in den Ort, eine Übernachtung, und zurück nach Santiago mit dem Bus. Die wenigsten wollen mehr, und ahnen nicht, was ihnen entgeht. Die Landzunge, auf der Fisterra liegt, ist ein Kraftort, eine Kraft, die sich besonders in den drei Kultorten bündelt. Ich habe zwei Tage dort verbracht, und wieder fühle ich mich verändert, energiegeladen und bereit für das urbane Leben, dass ich sechs Wochen keine Minute vermisst habe.
Am Kap fehlt heute die Brandung, die Symphonie der Wellen. Das stille, völlig geräuschlose Meer erscheint mir unwirklich. Der Horizont ist dunstverhangen. Will er etwas verbergen, das ich noch nicht wissen darf? Anders geht es um mich herum zu. Lautstark und hektisch, als hätten Besucher und Meer die Rollen getauscht. Am Ende der Welt plappern sie um die Wette. Rundherum Stimmengewirr wie in einer Berliner U-Bahn. Ein Selfie, das Meer die Kulisse, und schon weiter zur nächsten Attraktion. Nur wenige überlassen sich der Atmosphäre jenseits der Klippen, der Ruhe, die das Meer ausstrahlt, der meditativen Stimmung, die nach innen führt. Warum kommt man hierher? Doch nicht um sich über Alltägliches zu unterhalten, angesichts der Majestät des Ozeans? Ich muss wieder höher hinauf, zurück auf den Monte o Facho, und das alles hinter mir lassen. Die Landstraße endet an einem Parkplatz, schräg gegenüber ein malerisch auf einem Felsbrocken stehendes Wegkreuz, vorne der Gekreuzigte, auf der Rückseite, hinter dem Längsbalken des Kreuzes, die trauernde Maria. Weiter führt die asphaltierte Piste zum Null-Kilometer-Monolithen, vorbei am Leuchtturm. Sie endet erst an einer Treppe hinunter auf die Klippen des Kaps.
Heutzutage ist das Ende der Welt komfortabel zu erreichen, wie auch der Weg in die Hölle, der mit guten Vorsätzen gepflastert sein soll. An einer Seite der Piste drängen sich die Souvenirstände mit allem möglichen Tinnef, überladen mit dem, was eigentlich niemand braucht. In dem emotionalen Moment, endlich am Ziel zu sein, erscheint all der Kram plötzlich wertvoll als Erinnerung mitgenommen zu werden. Ich mische mich unter die Menschen an den Ständen, und kaufe mir Jakobsmuschel an roter Schnur, wie die Pilger von einst, die ich jedes Mal mit nach Hause bringe. Ich hänge mir beim Aufbruch auf den Camino de Santiago keine Muschel an den Rucksack, wie es üblich ist, um sich als Peregrinos zu outen; selbst die zahlreichen Turigrinos unter ihnen haben die Muschel am Gepäck. Für mich ist die Muschel nicht das Erkennungszeichen zu pilgern, sondern das Zeichen gepilgert und angekommen zu sein. Für mich gehört sie zu den Erinnerungen hier gewesen zu sein. Von außen betrachtet, eine alberne Attitüde, ein lieb gewordenes Ritual.
Auch das Cabo de Finisterre an der Costa de Muerta ist ein besonderer Ort, der mich immer wieder anzieht, und dann nicht mehr loslassen will. Ich verbringe noch ein letztes Mal ein paar Stunden am Ende der Welt. An einer felsigen Steilküste, die wie eine Halbinsel vom Meer umgeben ist. Der Blick in jede Richtung: Grenzenlos! Das Cabo de Finisterre ragt wie ein felsiges Amphitheater ins Meer hinaus, ein Halbrund, an dessen Basis die Brandung ihre Symphonien aufführt. Es ist merkwürdig, an einem Ort anzukommen, wo das Land endet, wo es nicht mehr weitergeht, wo das Meer beginnt. Oder wo es endet. Unterscheiden kann ich das nicht. Ich bin in die Felsen hinabgeklettert, soweit es ging, habe im Wind unter strahlendblauem Himmel gesessen. Das Gefühl angekommen zu sein, und gleichzeitig aufbrechen zu wollen, war überwältigend. Der Atlantik umringt mich. Nichts kommt in Sicht außer der weiten, leeren Wasserfläche. Als Fußgänger kann ich nur noch zurückgehen. Hoch auf dem Kap endet meine Welt. Zu meinen Füßen breitet sich ein fremdes Habitat aus. Jedes Mal verbringe ich eine Weile, so weit unten in den Felsen des Kaps, dass auch mein stereoskopischer Blick nichts anderes mehr sehen kann als das Meer und den Horizont. Vielleicht das eine oder andere Segelboot, dass mich erinnert, dass schon andere hier saßen, und in diese endlose Wasserwelt geschaut haben. Sie müssen mutige oder verzweifelte Männer gewesen sein, die hinausgefahren sind, ohne Sicherheit, ohne zu wissen, was sie erwartet, nur die Ahnung, dass es dort mehr geben muss als Vorurteil und Aberglaube. Ein Ozean war für die meisten von ihnen unbekanntes Terrain. Eine Terra incognita, bevölkert mit Ungeheuern und Dämonen. Am Horizont gähnte ein Abgrund. Ein Riss in der Welt, so vermuteten sie, der alles, was ihm zu nahekam, verschlang. Amerika war noch ein Traum, geträumt von kühnen Seefahrern und berechnenden Kaufleuten und Politikern. Visionen, zerrieben von der Allianz von Profit und Macht. Sie muss eine Sehnsucht getrieben haben, sich in eine Welt zu wagen, für die sie als Landlebewesen nicht geeignet sind, um Neues zu entdecken und zu finden. Es ist faszinierend, zu wissen, was ihre Beweggründe und Träume bewirkt haben und wie viel Kraft darin noch immer liegt. Die menschliche Sehnsucht ist ein anderes, großes, tiefes und unergründliches Meer. Der einzigartige Sonnenuntergang über dem Kap suggeriert einen frühgeschichtlichen Altar der Sonnenverehrung, einen sakralen Ort, wo das Meer die Sonne am Ende des Tages verschlingt; Solstitien und Äquinoktien kündigen die kritischen Wechsel der Jahreszeiten an. Einen Ara Solis, einen Sonnenaltar der chaldäischen und phönizischen Seefahrer, die hier unmittelbar mit der Unterweltfahrt ihres Gottes konfrontiert waren, soll es einst am Kap gegeben haben. Jakobus war es, so die Überlieferung, der in gut christlicher Manier diesen heidnischen Altar zerstört hat. Man erzählt aber auch, dass dieser Altar während der christlichen Missionierung in die Einsiedelei des San Guillerme umgewandelt wurde. Weiter nach Westen geht es nicht. Ich bin meinen Weg bis ans Ende gegangen. Jetzt drehe ich mich um, und schaue zum ersten Mal seit Wochen wieder nach Osten. Dorthin, wo alles beginnt: das Licht, der Tag, das Leben. Im Westen ist die Nacht; im Osten die Geburt. Wiedergeburt. Die Sonne scheint mir warm auf den Rücken. Das ist mein Ritual am Cabo de Finisterre.
Die auffällige Häufung von Kultorten auf dem Monte de Facho, der am Cabo de Finisterre über steile Klippen, auf denen heute der Leuchtturm steht, ins Meer stürzt, wirft die Frage auf, ob nicht hier einst das eigentliche Ziel des Camino de Finisterre lag, und der Weg ehemals, anders als heute, nicht schnurstracks ans Kap führte. Die ganze Küste, von der die Landzunge, auf der Fisterra und das Cabo de Finisterre liegen, wird Costa de Muerte, Todesküste, genannt. Heißt sie so, weil die Küste und das Meer so tückisch und gefährlich sind, dass viele Schiffe dort auf Riffe liefen, oder weil dort der Weg der Toten ins Jenseits beginnt? Bedenkt man die zahlreichen Steingräber, Menhire und Dolmen im Umkreis des Camino Francés, besonders deren Häufung in Galicien, scheint der Weg, der inzwischen der Jakobsweg ist, bis ins Jungpaläolithikum zu reichen; möglicherweise ein von verschiedenen Kulturen genutzter Prozessionsweg zu Ritualorten oder Begräbnisstätten im Westen, zur untergehenden Sonne. Auf dem Weg der Toten. Er kann auch ein Einweihungsweg der Kelten gewesen sein, der nach ihrem Sonnengott Lugh bezeichnete, mysteriöse Lughweg. Das mystische Symbol der doppelten Sternenstraße ist nach dem hermetischen Gesetz formuliert: Wie oben so unten! Wie außen so innen! Eine äußere, physische Straße, ein ins Gelände eingetretener Weg, markiert mit topografischen und symbolischen Wegzeichen, paganen und später christlichen Transitheiligtümern, kontrastiert mit einem inneren, einem emotional-mental-geistigen Weg. Meine Vermutung, dass »Steinbett« des Heiligen Guillermo ist in Wirklichkeit ein Initiationssarg, im Kontext ritueller Tod und Rite de Passage, erscheint in diesem Licht nicht allzu weit hergeholt. Bevor aus dem Symbol der Spirale, des Labyrinths oder der Triskele, die Jakobsmuschel wurde, und aus dem Lughweg der Jakobsweg, hinterließ noch eine dritte Gruppe ihre Spur auf dem »Sternenweg«: die Baumeister der sakralen Gebäude der Romanik und Gotik, die hermetische Chiffren, Phantasmagorien, Chimären, kabbalistische Zahlenmystik und alchemistische Ikonographie in die Steine schnitten, Attraktoren einer sich auf den inneren Weg beziehenden Meditation.
Nichts von alledem ist wissenschaftlich eindeutig belegbar, dennoch sind die Indizien verblüffend, die andeuten, dass der Jakobsweg immer schon weit mehr war als nur ein christlicher Pilgerweg. Vielmehr handelt es sich bei diesem Weg um eine symbolisch aufgeladene, mentale Landkarte, um einen Weg, dem seit Jahrtausenden spirituelle Wirkungen zugetraut werden, die mit der psychischen Entwicklung des Individuums und der Förderung esoterischer und ethischer Werte zusammenhängen. Von hier aus ist es nicht weit, an die umstrittenen Ley-Linien zu erinnern, in einer kultisch konzipierten Landschaft verlaufende Energielinien, die sich wie die Songlines der Aborigines an Landmarken ausrichten, beispielsweise an den Heiligen Steinen oder Transitheiligtümern. Ob nun Ley-Linien, Handelswege, Pilgerwege oder Prozessionsstraßen, es scheint nicht leicht widerlegbar, dass der Monte o Facho, der für sich genommen schon eine auffällige Landmarke darstellt, über ein tradiertes Netzwerk von Wegen verfügt, an das man sich in Fisterra erinnert. Ein Berg, der in einem Kap endet, das über stufenförmige Klippen ins endlose Meer stürzt, bildet die letzte Etappe eines Wegenetzwerks, das je nach kulturellem Kontext und ideologischem, zeitgenössischem Kostüm als Lughweg, Sternenweg oder Jakobsweg Menschen, Initianden oder Pilger, und zuletzt sogar Turigrinos, auf einen Weg brachte, der zu irgendeiner Selbsterkenntnis führt. Denn eines ist sicher: Jemand, der einen viele hunderte Kilometer langen Weg zu Fuß zurücklegt, kommt nicht als der, der er bei seinem Aufbruch war, wieder nach Hause zurück.
Ein letzter Abendspaziergang durch Fisterras Gassengewirr. Es ist kühl in den Gassen und der seit Tagen böig wehende Wind findet keinen Einlass. Deshalb ist der Ort so angelegt. Im Sommer kühl im Schatten der eng stehenden Häuser, im Winter sturmgeschützt vor den Unwettern des Atlantiks. Schaut man vom Hafen aus auf die Häuser von Fisterra hoch, entsteht der Eindruck eines Amphitheaters. Wie die Sitzreihen dort, reihen sich die Häuser Fisterras Zeile für Zeile hintereinander den Berg hinauf. Wer sich zwischen die Häuser wagt, verliert Schritt für Schritt die Orientierung. Die Gassen zwischen den Häusern verlaufen nicht geradlinig. Ich kann kein System erkennen, nachdem die Verbindungen zwischen ihnen angelegt sind. Manche sind breiter, sodass ein Auto hineinpasst, aber nur eins, und kein Fußgänger passt dann noch zwischen Hauswand und Autotür. Andere nur noch für Fußgänger gedacht, die sie passieren, gerade noch, ohne sich zu berühren. Und dann gibt es die Traversen, so schmal wie mein Unterarm lang ist. Sie verbinden die Häuserzeilen, manche mit Treppenstufen, dann steilen Passagen, die in die breiteren Gassen münden, immer nur meerwärts oder bergwärts. Das ganze Gassensystem ist ein Irrgarten, durch den ich endlos bergauf und bergab flanieren kann. Nie weiß ich genau, wo ich bin, weil ich in den Gassen keine Weite habe. Trotzdem, sich zu verlaufen ist unmöglich, dazu ist der Ort zu klein. Irgendwann stehe ich immer wieder am Meer, wo Möwen elegant in der Brise tanzen.
Mar do Fóra. Es ist das letzte Mal. Ich werde den Strand nicht wiedersehen. Das Meer nicht mehr hören, wie es sich am Spülsaum klatschend überschlägt. Es ist das letzte Mal, dass die Sonne flammend für mich im Meer versinkt und den Sand mit einer Palette von Rot, Gelb und Orange überzieht. Ich spüre es immer deutlich, wenn etwas vorbei ist, und ich loslassen muss. Es ist ein eigenartiges Gefühl, als ob etwas in mir stirbt, das einen Augenblick zuvor noch nichts von seinem Ende ahnt. Es ist ein Nicht-Gefühl, nicht so, als ob ich nicht fühle, eher so, als ob ein Gefühl sich betäubt anfühlt. Etwas in mir, das eben noch lebendig war und sich nach mehr sehnte, kommt zur Ruhe, als ob ich mich nach einem langen Tag schlafen lege. Es fühlt sich nicht traurig an, nicht einmal melancholisch. Es ist wie eine Stille, die eintritt, wenn sich eine Türe hinter mir schließt und ich mich in einem fremden Raum vor einer anderen Tür wiederfinde, die mit reichen Schnitzereien verziert ist.
Es ist das letzte Mal. Ich werde nicht nach Fisterra zurückkehren. Die Tür hinter mir ist zugefallen. Dieses Mal habe ich mir nicht gewünscht zurückzukehren, wohl weil ich nicht wusste, ob ich denselben Wunsch zweimal wünschen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich noch einmal auf den Weg mache. Trotz alledem nicht, was mir der Ort bedeutet. Selbst dem Wetter ist es aufgefallen, dass ich für immer abreise. Der Dunst, der schon den ganzen Tag den Horizont verhüllt hat, hat sich auf den Weg gemacht. Allmählich hat er die Bucht überquert und liegt nun feucht und kühl in den Gassen Fisterras. In John Carpenters Film The Fog, der in Antonio Bay in Kalifornien spielt, einer kleinen Hafenstadt wie Fisterra, fängt es auf diese Weise an. Wie es endet, davon erzählt der Film, der interessanterweise mit einem Zitat von Edgar Allan Poe beginnt: Ist alles, was wir sehen oder scheinen, nichts als ein Traum im Traum? eine Sentenz, die doch sehr an Prosperos Bemerkung über die Welt und den Traum in Shakespeares Der Sturm erinnert. Meine Fußreise, welche Bereicherung, gleichgültig, was danach kommt. Es gibt nichts, was diese Erfahrung auslöscht, auch wenn die Erinnerungen daran sich im Lauf der Jahre ihren eigenen Weg suchen werden. Was für immer bleibt, was als Kraftquelle für kommende Monate zurückbleibt:
Benvido o principio do mar onde mundo se chama Fisterra.
Willkommen am Anfang des Meeres, wo die Welt Fisterra heißt.
Copyright 2025. All Rights Reserved (Texte und Fotos)
Ritualorte am Ende der Welt ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen