Montag, 16. Januar 2023

Im Gefolge des ersten Pilgers


Reisegeschichten sind die ältesten Geschichten der Welt. Homers Odyssee oder die Aeneis des Vergil, aber auch die Legenden um den Apostel Jakobus und seine Ankunft in Galicien gehören dazu. Reisende, Händler und Vaganten, sowie die Heimkehrer, die lange fort gewesen sind, und viel Wunderbares gesehen haben, erzählen sie den Daheimgebliebenen. An den Abenden, im Schein der Kerzen oder des Feuers, dass vor dem Haus lodert, wenn die Arbeit getan ist und die Sonne versinkt. Wenn sich die Menschen versammeln, um miteinander zu reden, beginnen die Schatten auf der Leinwand des Erzählers zu tanzen. Die Geschichten erwachen zum Leben, wecken Sehnsucht und appellieren an die Fantasie der Zuhörer. Der Erzähler bringt Erinnerungen ins Leben zurück. Du wirst nie erfahren, ob es ein guter Weg ist, wenn du ihn nicht selbst gegangen bist!

Mein erster Tag auf dem Camino Primitivo ist fast perfekt. Die Landschaft stimmt. Das Wetter ein ideales Wanderwetter und die Wege schön und gut zu gehen. Mehr Pilger sind unterwegs, als ich auf dem schwierigeren Camino Primitivo erwartet habe. Vorwiegend Spanier, die das schon vom Küstenweg bekannte Tempo vorlegen und an mir vorbeieilen. Es ist Anfang Juni und die Pilgersaison beginnt. Pilgern nach Santiago besitzt in Spanien einen hohen Wert. Es bringt den Studenten Creditpoints und bei Bewerbungen berufliche Vorteile. Ein Pilger muss flexibel und belastbar sein, bereit, sich mit widrigen Umständen auseinanderzusetzen. Er muss in schwierigen Situationen durchhalten, ohne schnell aufzugeben. Einige der Qualitäten, die eine wochenlange Fußreise benötigt oder auf dem Weg gelernt werden, fordern auch die Arbeitsprozesse einer modernen, auf Leistungsmaximierung ausgerichteten Produktion und Dienstleistung. In Spanien bedeutet Pilgern einen Karrieresprung. Der Camino Primitivo ist nicht der einfachste, aber der kürzeste der verschiedenen Jakobswege nach Santiago de Compostela für den der Jahresurlaub reicht. Mag sein, dass dieser Vorteil den Camino Primitivo für viele meiner spanischen Mitpilger attraktiv macht. Die Saison hat unwiderruflich begonnen. Als ich gegen acht Uhr die Tür der Herberge in Oviedo hinter mir zuziehe, bin ich der letzte, der die Wohnung im zweiten Stock verlässt. Die ersten Straßen, die aus Oviedo herausführen, kenne ich noch von gestern. Gelegentlich sehe ich eine der goldenen Messingmuscheln im Straßenpflaster aufblitzen. Doch das ändert sich schnell, und ich fühle mich ein weiteres Mal in einer Stadt verloren. Die ersten Passanten, die ich frage, kennen sich genau so wenig aus, wie ich. Die Calle Independencia und die Plaza de Liberacíon, die ich mir groß und bedeutend vorstelle, kennt keiner von ihnen. Dass Pilger durch die Stadt kommen, scheint ihnen fremd zu sein. Vom Camino Primitivo haben sie noch nie gehört. Ich erzähle ihnen vom Jakobsgrab und Alfons II., aber sie schauen mich nur ungläubig an. Mein Spanisch reicht nicht sehr weit, und ich frage mich schließlich, was sie von meinem begeisterten Kauderwelsch überhaupt verstanden haben. Sie sind bemüht, wollen mir helfen, und gemeinsam überlegen wir, welcher Weg aus Oviedo herausführt. Sie diskutieren, schauen sich fragend an, und weisen mal in die eine, dann in die andere Richtung. Blicken mich noch einmal fragend an, überlegen und werden sich schließlich einig. Ich improvisiere, gebe vor, die Richtung zu verstehen, in die sie mich schicken. Mehrmals links, dann auch rechts und geradeaus. Ich bleibe skeptisch, und bin nicht überzeugt. Gefunden habe ich den Weg nicht, und ich gehe wie ein Tor ohne Narrenmütze durch die labyrinthisch verzweigten Gassen Oviedos. Meine Ratlosigkeit muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn eine ältere Frau kommt zielstrebig auf mich zu, und erklärt mir gestenreich den Weg. Immerhin habe ich wieder eine Idee von der Richtung, in die ich gehen muss. Einige hundert Meter später wiederholt sich das Szenario. Dieses Mal bemerkt ein älterer Mann, wie ich mich suchend umschaue, kommt herüber und hilft mir weiter. Zuletzt habe ich die kleine Bahnstation La Argañsoa, die nur aus einer überdachten Haltestelle besteht, doch gefunden. Einspurig verkehrt ein Regionalzug der FEVE nach Grado. Die Gleise schlängeln sich zwischen der Böschung hindurch in die Berge.
Jenseits des Bahnsteigs liegt ein anderes Oviedo: das neue Wohngebiet einer Vorstadt. Fantasielose, mehrstöckige Wohnhäuser, rechte Winkel und schmucklose Sachlichkeit. An den Rändern gerader, breiter Straßen reiht sich Parkplatz an Parkplatz. Mitten in der Anonymität wartet ein verwaister Spielplatz auf bessere Zeiten. Das wenige Grün zwischen den Steinen wirkt wie eine misslungene Rechtfertigung der monströsen Wohnsilos. Männer mit Aktentasche und Laptop steigen in ihre Autos. Ich begegne lustlos blickenden Frauen mit Kindern an der Hand, die genervt an ihnen herumnörgeln, oder die sie im Kinderwagen vor sich herschieben. Ältere Mädchen schleppen große Einkaufstüten mit dem roten Logo eines Discounters nach Hause. Die Atmosphäre zwischen den Wohnblöcken ist kalt und beziehungslos, das Gegenteil der Prachtstraßen Oviedos, der verwinkelten Gassen und Plätze der Altstadt mit ihren historischen Gebäuden und geschmückten Fassaden, der brodelnden Lebendigkeit vor der Kathedrale oder der ruhigen, gelassenen Geborgenheit in den schattigen Gassen.
Inzwischen bin ich wieder auf dem richtigen Weg. Meine Konzentration lässt nach, und mein Magen nutzt seine Chance. Ich habe noch nicht gefrühstückt, aber die Gelegenheiten sind wahrscheinlich vorüber. Ich navigiere mich durch das unansehnliche Wohngebiet, in der es anscheinend weder Läden noch eine Bar gibt. Nur auf der vierspurigen Hauptstraße fließt geräuschvoll der Morgenverkehr in die Stadt. Doch dann habe ich Glück. Bevor ich Oviedo an einem Kreisverkehr verlasse, treffe ich auf eine Bar, die so neu und nüchtern ist, wie die Gegend, in der sie liegt. Ihr Stil ist modern, amerikanisch, die Karte mit farbigen Bildern der Speisen und Getränke versehen, als seien die Gäste Analphabeten. Ein quadratischer Tresen umrundet eine viereckige Säule, an der auf jeder Seite ein TV-Gerät hängt, dessen farbige Bilder durch den Raum flimmern. Jedes Gerät ist stumm, doch jeder Monitor strahlt einen anderen Kanal aus, der niemanden erreicht. Die Bar ist leer, bis auf den Mann hinter dem Tresen, mit perfekt manikürten Fingernägeln, weißem Hemd und schwarzer Fliege. Diese Bar ist international. Sie ist gesichtslos. Einmal eingetreten, könnte ich überall sein. Mit einer spanischen Bar und ihrer schummerigen Atmosphäre, den lauten Gesprächen, den einladend ausgelegten Bocadillos und den von der Decke herabhängenden Schinken hat sie nichts gemeinsam. Sie ist nicht nur leer, sie ist seelenlos. Tische und Stühle draußen vor der Tür gibt es keine. Doch es ist die letzte Bar Oviedos, und ich froh, dass sie nicht geschlossen ist.

Im Zentrum des Kreisverkehrs, dort wo Oviedo endet, und alle Reisenden aufs Land entlässt, steht eine steinerne Skulptur, die mich mit melancholischem Blick betrachtet. Jakobus in seiner Gestalt als Pilger mit Hut, Stab, Kalebasse und Pelerine. Die Inschrift auf dem Sockel seines Denkmals erinnert an den ersten Pilger: Como testimono de la primera peregrinación a Santiago de Compostela del monarca Alfonso II. El Castro. Buen Camino Peregrino. Ayuntamiento de Oviedo Asociación Astur-Leonesa de Amigos de Camino de Santiago. Septiembre 2009. (Zum Zeugnis der ersten Wallfahrt nach Santiago de Compostela des Monarchen Alfons II. des Reinen. Buen Camino Pilger. Asturianisch-Leonesischer Verein der Freunde des Jakobsweg nach Santiago de Compostela Oviedo. September 2009). Jakobus der Pilger ist die verbreitetste Darstellung des Apostels in der christlichen Ikonographie. Sein Kult hat sich nach der vermutlich fingierten Entdeckung seines Grabes schnell über ganz Europa ausgedehnt. Seit dem 16. Jahrhundert wurde er auch in den beiden Amerika bekannt. In seinen verschiedenen Rollen dient er den unterschiedlichsten theologischen und politischen Bedürfnissen. Zum ersten Mal erscheint Jakobus im 12. Jahrhundert als Pilger, in direktem Bezug zum Camino de Santiago und den zunehmenden Pilgerzahlen. Jakobus der Ältere wurde von Jesus selbst ausgesandt, machte sich auf die lange Reise, um Hispania zum Christentum zu bekehren. Die Pilgerrolle betont Jakobus in seiner menschlichsten Inkarnation und identifiziert ihn mit jedem Pilger, der zu seiner Grabstätte wandert. Auf Gemälden, Reliefs oder Skulpturen trägt er Tunika, Mantel, oft eine Pelerine, einen über den Schultern getragenen Kurzmantel, reich mit Muscheln oder kleinen Stäben verziert. Sein Ornat ergänzen der Pilgerstab, sein drittes Bein, dass die Dreifaltigkeit symbolisiert, seine oben offene, zum Geben bereite Gürteltasche oder einen Fellbeutel, die Kalebasse und den Hut, dessen Krempe vorne hochgeklappt und mit einer dieser charakteristischen Muscheln verziert ist. Obwohl alle diese Attribute der Kleidung wichtig sind, verbindet ihn die Jakobsmuschel am eindeutigsten mit dem Santiago-Pilger.
Plötzlich sind auch die gelben Pfeile wieder da; an den Pfosten von Laternen oder an Schildern und auf dem Bürgersteig. Bis kurz vor Grado verlassen sie mich nicht mehr. Sie machen sich auf Straßen und Wegen, an Hauswänden und auf jeder sich bietenden Gelegenheit am Wegrand breit. Und ich bin auch nicht mehr allein. Andere Pilger tauchen aus dem unübersichtlichen Gewirr der Gassen und Straßen der Stadt auf. In der freien Landschaft kann ich sie wieder vor und hinter mir sehen. Sie überholen mich schnellen Schritts und eilen vorbei. Auf der anderen Seite der Gleise scheint es nicht mehr darauf anzukommen, die Stadt vor den Markierungen zu schützen.
In Irùn lagen mir die baskischen Berge zu Füßen, und gleich die ersten Schritte führten mich steil aufwärts. Jetzt bin ich vorbereitet, obwohl die Bergpässe des Picos de Europa im kantabrischen Gebirge noch Tage entfernt sind. Ich hatte die schneebedeckten Gipfel der Picos bereits vom Strand von San Vincente la Barquera gesehen, geheimnisvoll lockend, eine ferne, unüberwindliche Barriere, die von Wildnis kündet, wo es Bären und Wolfsrudel gibt. Südwestlich von Oviedo öffnet sich der Blick auf andere Berge, eine grüne Mittelgebirgslandschaft rollender Hügel. Ich weiß, dass sich das in wenigen Tagen ändern wird, und ich in alpinen Höhen wandern werde. Ich stelle mir vor, wie Alfons II. und sein Gefolge auf diese Hügel blickten, die damals kaum anders ausgesehen haben, und die auf das mehr zu beeindruckende Gemüt der mittelalterlichen Pilger noch viel unheimlicher und unzugänglicher gewirkt haben müssen. Ich wünsche, ich wäre einer von ihnen gewesen, einer der vielen Pilger aus der Gefolgschaft von Alfons II., hätte von dem Fund am Ende der Welt gehört, und mich mit ihm auf den Weg gemacht und an der ersten Pilgerfahrt teilgenommen. Ich spüre ihre innere Spannung, ihre Erwartung, die etwas gestern noch Unvorstellbares ausgelöst hat, das Wunder der Entdeckung des Grabes eines Apostels von Jesus, dessen Evangelium der frühmittelalterlichen Welt einen Rahmen bot. Über den fernen Bergen dräuen schwarze Wolken und verhüllen die Gipfel. Doch um mich herum wird es immer grüner. Während ich auf einem sanft ansteigenden Weg auf die Berge zugehe, versinkt Oviedo hinter mir im Tal. Der Camino Primitivo kurz hinter Oviedo ist angenehm zu gehen. Er schlängelt sich nur unwesentlich auf und ab. Wanderer und Jogger nutzen ihn für ihren morgendlichen Auftakt in den Tag und überholen mich, Hunde werden ausgeführt, so wie jeden Morgen. Weit vorne leuchtet ein roter Rucksack zwischen grünen Sträuchern. Ich versinke in meinen Gedanken, stelle mir vor, wie die Gegend ausgesehen haben mag, als der erste Pilger mit Hofstaat und Tross in Oviedo aufbrach und hier entlang gezogen ist. Vielleicht lag das Gelände, wild und unzugänglich, bereits jenseits der Stadtmauer, denn die wird es im neunten Jahrhundert gegeben haben. Vielleicht lebten die leibeigenen Bauern vor den Toren der Stadt und bestellten in den Tälern ihre Felder, fingen Fische im Fluss und versorgten die Paläste der Stadt mit ihren Produkten. Für sie muss der Pilgerzug ihres Königs ein prachtvoller und machtvoller Anblick gewesen sein. Der Adel hoch zu Ross, Bewaffnete zum Schutz, die flatternden Fahnen und bunten Wimpel im Wind, Sänften und Karren, die den Berittenen folgten. Priester und Mönche, die Choräle sangen und Monstranzen vorantrugen, verliehen dem Zug eine Aura von Heiligkeit. Über dem Land lag die Atmosphäre majestätischer Feierlichkeit wie pralle, saftige Trauben am Rebstock. Ob damals Frauen mit dabei waren? Alfons und die Seinen werden der alten Römerstraße nach Lucus Augusti, ins moderne Lugo, gefolgt sein, seit 25 v. Chr. römische Präfektur, Verwaltungssitz und Umschlagplatz für Güter aus aller Herren Länder.

In Luis Buñuels Spielfilm La voie lactée wandern die beiden Clochards Jean und Pierre aus Paris auf dem Camino Francés, auf der Milchstraße, nach Santiago de Compostela. Sind die beiden die Apostel Johannes und Petrus? In der esoterischen Wirklichkeit des mittelalterlichen Jakobuspilgers repräsentiert die Milchstraße das himmlische Äquivalent des irdischen Jakobswegs. In seiner Parabel wendet sich der Regisseur gegen einen Fanatismus, der sich gewaltsam und unerbittlich an sein Stückchen Wahrheit klammert, bereit, dafür zu töten oder zu sterben. Jakobsweg ist eine rezente Bezeichnung für diesen Pilgerweg, in Wahrheit sind es viele Pilgerwege durch ganz Europa. Auch wenn es die offizielle Kirchengeschichte nicht wahrhaben will, der Jakobsweg ist viel älter als die Entdeckung der Jakobusreliquie im 9. Jahrhundert. Lange bevor die Gebeine des Apostels auf wunderbare Weise in Galicien auftauchten, reisten Menschen auf dem Sternenweg nach Finisterre, um die im westlichen Meer versinkende Sonne zu verehren. Dabei folgten sie dem Lauf der Milchstraße durch den Norden Spaniens. Die mittelalterliche Chronik Historia Karoli Magni et Rotholandi ist eine im 12. Jahrhundert verfasste Fälschung, die Legenden über den Spanienfeldzug Karls des Großen zusammenfasst. Jakobus der Ältere erscheint Karl im Traum und fordert ihn auf, die Mauren aus Spanien zu vertreiben. Karl führt sein Heer nach Santiago de Compostela, besetzt die Stadt und erobert die ganze iberische Halbinsel. In Wirklichkeit wurde Karls Kriegszug nach anfänglichen Erfolgen abgebrochen. Die misslungene Eroberung von Saragossa und die Plünderung der baskisch-navarrischen, christlichen Stadt Pamplona während Karls Rückzug über die Pyrenäen nach Frankreich bildet den Inhalt des Rolandlieds. Roland von Cenomanien, Markgraf der bretonischen Mark des Frankenreichs, Held des Lieds, sicherte die Nachhut des Heeres in einer engen Passage zwischen hohen Bergen. Bei Roncevalles geriet er zusammen mit seinen Rittern in einem Hinterhalt der baskischen Guerilla, die Rache für das Massaker in Pamplona forderten, unterlag und fand den Tod.
In der mittelalterlichen Überzeugung verläuft der Weg nach Santiago de Compostela über einen doppelten Sternenweg. Diese doppelte Straße befindet sich auf dem Karlsschrein in Aachen, wo Karl der Große am Ende dieses Weges ein Engel oder Jakobus selbst erscheint. Die Jakobusreliquie wurde erst nach Karls Tod entdeckt, sodass weder Karl noch der Handwerker, der das Relief auf dem Schrein anfertigte, etwas von einem Jakobsweg gewusst haben kann. Aus diesem Grund kann der Schrein mit der doppelten Sternenstraße erst angefertigt worden sein, als der Jakobsweg bereits eröffnet und das hermetische Wissen, das bis heute um ihn kreist, bereits bekannt war. Den Schöpfer des Karlsschreins muss man im Umfeld der Templer suchen, die im 13. Jahrhundert, als der Schrein entstand, über große finanzielle Mittel und eine einflussreiche, theologische Autorität verfügten. Buñuels Filmtitel kommt also nicht von ungefähr, sondern ist einer Tradition verpflichtet, die tief in den europäischen, esoterischen Untergrund führt. Die kosmische Milchstraße ist eine Spiralgalaxie, in der sich unser Sonnensystem befindet, die sich als ein unregelmäßig breiter, schwach milchig-heller Streifen über das Firmament zieht. Ihre Struktur zu beobachten ist deshalb schwierig, da sie nur von einem Punkt innerhalb der Galaxie betrachtet werden kann. Die Milchstraße ist mit Sicherheit ein astronomisches Phänomen, dass den Kulturen zu allen Zeiten aufgefallen ist, denn sie findet einen Widerhall in den meisten europäischen Mythologien. Ob die Milchstraße in zwei parallelen Reihen über den nächtlichen Abendhimmel verläuft, ist unbelegt, aber sie endet im Sternbild des Großen Hunds. Deshalb liegt es nahe, sie mit der doppelten Sternenstraße auf Karls Schrein zu identifizieren. Entlang dieser Straße, die sich parallel an dem Breitengrad orientiert, der von den Pyrenäen nach Galicien verläuft, liegen zahlreiche Orte mit dem Wort Stern im Namen; die meisten von ihnen in Baskisch, der ältesten Sprache Europas. Namen von Sternorten – Pic d`Estelle, Puig Tresetrelles, Les Etielles, Lizarra, Astorga, Liciella – markieren den Weg auf einer imaginären Landkarte. Bedenkt man die zahlreichen Steingräber, Menhire und Dolmen in ihrem Umkreis, besonders deren Häufung in Galicien, scheint das Alter des Weges, der inzwischen der Jakobsweg ist, bis ins Jungpaläolithikum zu reichen; möglicherweise ein von verschiedenen Kulturen genutzter Prozessionsweg zu Ritualorten oder Begräbnisstätten im Westen, zur untergehenden Sonne, auf dem Weg der Toten. Es gibt Belege, dass das moderne Santiago auf einer keltischen Nekropole gegründet wurde, worauf der Name Compostela hinweist, den manche auf das lateinische Compostum, Friedhof, zurückführen. Dass eine andere Bedeutung des Namens Compostela möglich, will ich später erläutern. Der Jakobsweg kann auch ein Einweihungsweg der Kelten gewesen sein, der nach ihrem Sonnengott Lug bezeichnete, mysteriöse Lugweg, den bereits die Druiden ans Kap nach Finisterre gingen, um ihre Novizen zu initiieren. Um Rituale der Sonnenwenden zu zelebrieren.
Das mystische Symbol der doppelten Sternenstraße ist nach dem hermetischen Gesetz formuliert: Wie oben so unten! Wie außen so innen! Eine äußere, physische Straße, ein ins Gelände eingetretener Weg, markiert mit topographischen und symbolischen Wegzeiten, kontrastiert einen inneren, einem emotional-mental-geistigen Weg. Bevor aus dem Symbol der Spirale, des Labyrinths, eine andere Repräsentation der Spiralgalaxie Milchstraße, die Jakobsmuschel wurde, und aus dem Lugweg der Jakobsweg, hinterließ eine dritte Gruppe ihre Spur auf dem Sternenweg: die Baumeister der sakralen Gebäude der Romanik und Gotik, die hermetische Chiffren, Phantasmagorien, Chimären, kabbalistische Zahlenmystik und alchemistische Ikonographie in die Steine schnitten, Attraktoren einer sich auf den inneren Weg beziehenden Meditation. In Chartres soll alles begonnen haben. Die Architekten und Steinmetze der dortigen Bauhütte, und nach ihnen ihre Schüler, haben die im Stein verewigten figuralen, ornamentalen und abstrakten Bildsymbole entlang des Jakobswegs verbreitet. Ihren Weg nannte man den Gansweg, nach dem Gansfuß, einem Erkennungszeichen der Gilde, der an den romanischen Kirchen bis ins Hochmittelalter als Zunftwappen und Zinkzeichen vorkommt. Der Weg der Gans verlief über die aragonische Route des Jakobwegs, von Chartres über das Felsenkloster San Juan de la Peña, das im Verdacht steht, Aufbewahrungsort des mysteriösen Grals gewesen zu sein, weiter nach Léon, letztlich über den Paso de Oca, den Ganspass, zum Pico Sacro bis nach Santiago de Compostela. Das Symbol des Vogels ist in vielen Kulturen ein uraltes Symbol der Seele: die Gans in der ägyptischen Mythologie, der Schwan bei den Kelten und der Phoenix bei den Arabern, alles Vögel, die mit Übergang und Wiedergeburt zu tun haben. Nichts davon ist wissenschaftlich eindeutig belegbar, dennoch sind die Indizien verblüffend, die andeuten, dass der Jakobsweg schon immer weit mehr war als nur ein christlicher Pilgerweg. Vielmehr handelt es sich bei diesem Weg um eine symbolisch aufgeladene, mentale Landkarte, um einen Weg, dem seit Jahrtausenden spirituelle Wirkungen zugetraut werden, die mit der psychischen Entwicklung des Individuums und der Förderung esoterischer und ethischer Werte zusammenhängen. Der Pilger, und der Leser, der ihm folgt, bewegt sich auf alten Wegen, auch wenn das nicht für jeden Jakobsweg gleichermaßen gilt. Mich fasziniert die alte Route, auf der Alfons II. Santiago erreichte. Den weltberühmten, jetzt überfüllten Camino Francés gab es zu seiner Zeit noch nicht, denn wer wollte schon ungeschützt durch maurisches Territorium pilgern.

Ich fühle mich mit dem leichter gewordenen Rucksack wohl. Beim Aufbruch heute Morgen dachte ich noch, dass er mir noch immer auf die Schultern drückt, und dass sich sein Gewicht kaum verändert hat. Doch so ist es jeden Morgen. Es dauert ein paar Kilometer bis meine Rücken- und Beinmuskeln wach geworden sind und nicht mehr schmerzen. Unbemerkt hat sich meine Kondition verbessert. Die Erschöpfung lässt auf sich warten. Inzwischen nutze ich meine Morgenmüdigkeit bewusst, und gehe vor dem Frühstück erst ein paar Kilometer, bevor ich etwas esse. Danach sind auch meine Muskeln aus ihrem Traum erwacht und auf dem Weg angekommen. Als ich nach dem Frühstück die Bar verlasse, sind meine Beine und Füße und mein Rücken bereit, mein Rucksack kaum schwerer als mein Stadtrucksack. Zügig gehe ich auf den schönen Feldwegen, die den Blick ins Tal oder auf die nahen Berge freigeben, die in der Ferne höher aufragen als am Küstenweg. Mittags bin ich in Escamplero. Das Restaurant, wo ich den Schlüssel für die Herberge holen will, ist geschlossen. Ich versuche es in dem kleinen Dorfladen, der von Pilgern belagert ist, die eine Kleinigkeit essen, etwas trinken oder nach Hause telefonieren. Es fühlt sich seltsam an, so früh am Tag nach dem Herbergsschlüssel zu fragen, besonders da alle anderen weitergehen. Doch es gibt keinen Schlüssel. „Sie müssen bis nachmittags warten,“ sagt die Frau im Laden „dann kommt der Bewahrer des Schlüssels von der Arbeit nach Hause.“ Fünf Stunden in einem Dorf mit ein paar Häusern zu warten, kann ich mir nicht vorstellen, und folge den anderen ins zwölf Kilometer entfernte Grado. In mir hat sich etwas Ruheloses ausgebreitet, dass mich nicht rasten lässt. Ohne mich zu wehren, überlasse ich mich dem Sog des Jakobswegs.
Zuerst gehört der Weg nach Grado zu den schönsten, auf denen ich in den letzten Tagen gewandert bin. Kaum Landstraße, wenig Asphalt, dafür kilometerweit Wald, steinige Wege und zugewachsene Pfade, kaum breit genug, um zwei Füße nebeneinanderzusetzen. Nachdem mich alle anderen Pilger überholt haben, gehe ich Kilometer um Kilometer allein durch Wald, Feld und Flur und genieße die Geräusche der Stille. Ich bin allein, und die Welt um mich herum gehört mir. Jedenfalls für einen Augenblick. Es ist Mittag in Premoño, und herrliches Wanderwetter. Ein paar Häuser säumen eine abgelegene Landstraße, die schattenlos und heiß ansteigt. Auf dem Parkplatz einer kleinen Bar stehen die Lieferwagen von Handwerkern. Der idyllische Weg durch den Wald mündet unversehens auf einer schattenlosen Straße. Aus meinen Gedanken gerissen, bin ich einen Augenblick orientierungslos, weiß kurz nicht, wie es weiter geht. Schatten gibt es nur unter der Pergola auf der Terrasse einer Bar. Zwischen den Bäumen war der Weg angenehm kühl. Nun brennt von einem wolkenlosen Himmel heiß die Sonne. Mir ist nicht aufgefallen, dass es schon Mittag ist. Zwei Pilger brechen gerade auf, als ich ankomme.
In der Bar ist es dämmrig. Ein paar Männer trinken an der Theke. Eine ältere Gastwirtin in schwarzer Witwentracht bedient sie mit Nüssen und Oliven. Ich setze mich mit Milchkaffee und Wasser unter die Pergola auf einen der angewärmten Stühle und schaue zu den Trauben hinauf. Grüne, unreife Beeren, viel zu früh, um sie zu essen. Die junge Frau, die auf einer Bank im Wald ihre Füße behandelt hat, kommt mit hochrotem Kopf auf die Terrasse. Sie nickt mir kurz zu, wirft ihren Rucksack auf einen der Stühle, den sie dabei fast umreißt, und stürmt in die Bar. Ich höre noch, wie sie die Männer mit einem selbstbewussten Hey! und Hello! begrüßt, bevor das Dämmerlicht der Bar sie verschluckt. Anscheinend interessiert es sie nicht, ob man sie versteht. Ein Gruß ist ein Gruß, und die Freundlichkeit des Tons ist nicht von den Worten abhängig. Ich bin von der Unkompliziertheit der jungen Frau beeindruckt und fühle mich mit meiner Genauigkeit, sprachlich die richtige Phrase zu treffen, plötzlich kompliziert. Englisch ist auf dem Jakobsweg die Lingua Franca, doch kaum jemand, der in den Dörfern am Camino de Santiago sein Leben verbringt, versteht Englisch. Was oft bleibt, ist ein „Hola! Buen Día!“ oder das vertraute „Buen Camino!“
Mit einer Flasche Limonade in der Hand, die sie gleich aus der Flasche trinkt, kommt sie zurück unter die Pergola, und setzt sich an den Nebentisch. Während sie ihr Smartphone in der freien Hand hält, denke ich, mit ein wenig mehr Spanisch hätte sie nun auch ein Glas mit Eiswürfeln. Bianca erzählt mir, sie ist Ungarin und lebt in Hamburg, wo sie Deutsch gelernt hat. Ihr Akzent ist schwach. Mir ist nicht aufgefallen, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Mit Ungarn habe sie abgeschlossen. Orbans europafeindliche Politik sei ihr ein Gräuel. „Meine Großmutter lebt noch in Budapest,“ erzählt sie mir. „Manchmal besuche ich sie.“ In Hamburg fühlt sie sich wohl und will dortbleiben. Sie ist heute Morgen auf den Camino Primitivo aufgebrochen. „Ich bin von Irún bis Villaviciosa auf dem Küstenweg gegangen," erzählt sie. „Immer wieder haben mir andere Pilger vom Camino Primitivo durch die asturischen Berge erzählt. In Villaviciosa habe ich eine Münze geworfen. Die hat entschieden, wie es weitergeht. Und jetzt bin ich hier.“ Einen Pilgerführer hat sie nicht. „Alles, was ich wissen muss,“ sagt sie, und zeigt dabei auf ihr Smartphone, „finde ich hier drin. Ich plane nicht, sondern entscheide mich lieber spontan.“ Bis Grado laufen Bianca und ich uns immer wieder über den Weg, bis wir uns einige Kilometer vor der Stadt aus den Augen verlieren.
Auf Pfaden und Pisten erreiche ich Fuente, überquere in Paladin einen kleinen Fluss, und komme auf der Landstraße nach Puerme auf die nächste Schotterpiste, auf der ich besser gehe als auf Asphalt. Ein schmaler Pfad schlängelt sich am Ufer des Nalón entlang, der schließlich in Peñaflor endet. Eine Brücke überquert den Nalón auf die nächste Landstraße, die kurvenlos geradeaus führt. Weit vorne liegt Grado in der noch hochstehenden Nachmittagssonne. Die wenigen Wolken haben sich längst aufgelöst. Unangefochten haben sie der Sonne den Himmel überlassen. Aus dem Waldschatten des Vormittags bin ich auf der schattenlosen Landstraße ungeschützt unter eine brennende Sonne geraten. Seit Fuente gibt es keinen Schatten mehr. Bald gehe ich automatisch weiter, immer nur weiter, ohne mich zu besinnen. Ungehindert auf Grado fixiert, das bedrückend langsam näher rückt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in einem Tunnel wandere, den Blick in die Ferne gerichtet, der nichts mehr wahrnimmt als das Ende des Tunnels. Ich gehe wie durch Watte, spüre nichts als den Druck meiner Schritte auf den Fußsohlen. Die einzigen Geräusche, die die Stille perforieren, sind das Klack-Klack meiner Trekkingstöcke auf dem Asphalt. Immer nur weiter vorwärts, ohne zu denken, und ohne etwas anderes zu empfinden als die Hitze der Sonne, die der Asphalt erbarmungslos reflektiert. Meine Welt gerinnt zu einer trockenen Hitze, die mir den Schweiß aussaugt. Inzwischen habe ich mein Hemd mehrmals gewechselt, während das andere mit Sicherheitsnadeln am Rucksack befestigt schnell wieder trocknet. Doch der Schweiß rinnt schneller, als mein Hemd trocknet. Meine Flasche mit dem Wasser des Flusses zu füllen, der durch Viehweiden fließt, traue ich mich trotz des Filters nicht. Ich denke an Dünger und Gülle und ähnlich schaurige Substanzen. So groß ist mein Durst auf den schattenlosen Wegen auch ist, das Flusswasser ist mir nicht geheuer. Das Restaurant an der Brücke über den Nalón ist mir, abgerissen, wie ich mich fühle, zu vornehm. Grado flimmert unwirklich in der Ferne. Es ist keine Fata Morgana, soviel wird mir gerade noch bewusst. Überhitzt, auf müden Füßen, schleppe ich mich am Straßenrand entlang, während Laster und Kleinwagen an mir vorbei donnern. Der harte Asphalt zermürbt meine müden Füße und zerschlägt meine schwärmerisch romantische Stimmung. Gleich heute ist der erste richtig heiße Tag auf dem Camino Primitivo, der so angenehm warm begann.
Die letzten Kilometer ziehen sich gefühlt endlos auf ein Gewerbegebiet zu, mit dem mich die Stadt begrüßt. Die Luft fühlt sich immer heißer an, ein Ofen, den jemand kräftig einheizt, damit er Wärme in eine Hitze strahlt, die keine weitere mehr aufnehmen kann. Meine Oberschenkelmuskeln schmerzen, meine Füße quellen im feuchten Milieu der Schuhe, in denen es meinen Zehen zu eng wird. Der harte Asphalt drückt unangenehm gegen meine Fußsohlen. Doch der Tunnelblick hat auch Vorteile. Er drängt die unangenehmen Reize und Gefühle zurück, und versetzt mich in eine leichte Trance. Während ich vorwärts auf einen Punkt in der Ferne starre, gehe ich immer automatischer, immer weniger aufmerksam und gefühlloser weiter. Der Bahnhof in Grado ist nicht da, wo ich ihn erwartet habe, und mir fällt auf, dass ich auf dem falschen Weg bin. Fantasien von schattigen Wegen und verschlungenen Pfaden nach Grado suchen mich heim, und machen mir den Weg in die Stadt unangenehm. Nun fällt mir auch auf, dass ich seit der Brücke über den Nalón ohne die Tröstungen der gelben Pfeile unterwegs bin. Sonne und Tunnelblick verwandeln meine Gedanken in einen dickflüssigen Strom. Erschöpft frage ich mich durch, bin zu unkonzentriert, um etwas zu verstehen, und streife ziellos durch Grados Straßen. Bis ich plötzlich vor dem Bahnhof stehe und mich allein zurechtfinde. Gefühlt nach Stunden erreiche ich die ersehnte, öffentliche Albergue de Peregrinos. Hoffnung auf ein Bett, eine Dusche und viel kaltes Wasser; innerlich und äußerlich. Dann höre ich, wie jemand sagt: Completo! Das gefürchtete Unwort am Ende einer langen Etappe prasselt zum zweiten Mal wie ein Erdrutsch auf mich nieder. Die Hospitaleros sind freundlich, beinahe fürsorglich. Sie empfangen mich mit Handschlag und einem Glas gekühltem Wasser, in dem ein paar Limonenscheiben schwimmen. Erschöpft wie ich bin, erscheinen sie mir wie Trail Angels, die den erlösten Pilger in ihre Arme schließen. „In ein paar Minuten“, sagt einer von ihnen, ein Flame, der Niederländisch mit mir spricht, „kommt eine Frau und holt zwei andere Pilger ab.“ Er hat uns eine Unterkunft in einer privaten Herberge organisiert. „Vier Kilometer von hier, steil einen Berg hinauf, in San Juan de Villapañada, gibt es die nächste Herberge,“ schlägt ein anderer vor, „aber es geht wirklich steil nach oben.“ Ich muss mich nicht entscheiden, mein Körper hat das längst getan. Ich bleibe in Grado und fahre mit in das Privathaus und in ein Einzelzimmer. Was wohl aus Bianca geworden ist? Wenn nichts mehr geht, dann sorgt der Jakobsweg für die Pilger. Wo habe ich das gehört? Wenn nichts mehr geht, kommt mir das Glück zur Hilfe. Es klingt seltsam, aber ich kann trotz Erschöpfung nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisen, und der erste Pilger spukt mir wieder durch den Kopf. Mich begeistert der Gedanke, dass ich nun selbst seinen Spuren durch die asturische und galicische Landschaft folgen werde. Ein König, der erste Pilger auf dem ursprünglichen Jakobsweg, der so fromm, mönchisch und leibfeindlich gelebt haben soll, dass er keine Nachkommen zeugte. Sehr wahrscheinlich ein gebildeter Mann, der dem synkretistischen, mittelalterlichen Christentum verhaftet war. In religiöser Verzückung schuf er die ideologische Grundlage für das Jakobuspilgertum. Wie die Weisen aus dem Morgenland einst nach Bethlehem pilgerten, machte sich Alfons auf den Weg nach Galicien, zum Grab des Heiligen Jakobus. Ein religiöser Eiferer, getrieben von seinem Glauben, der sich auf den seinerzeit beschwerlichen Weg durch die kantabrische Kordillere machte. Suchte er einen Sündenablass, dachte er politisch und wollte ein Zeichen setzen, um die europäische Christenheit aufrütteln, sie gegen die Mauren führen? So wurde er zum ersten Pilger auf diesem Weg, dem Primitivo, dem Ursprünglichen. Der erste zu sein, macht sich in jeder Vita gut, und war seit jeher manche Mühe und Entbehrung wert. Der Druck des Islams, tiefer Wunderglaube und frommes Wunschdenken führten Kirche und Adel zu einer abenteuerlichen Konstruktion. Fantastische und legendarische, narrative Fragmente arrangierten sich zu einer damals überzeugenden, aus fiktionalen Elementen bestehenden Erzählung. Was uns heute mysteriös und unglaublich erscheint, war im Mittelalter für Millionen Gläubige gelebte Wirklichkeit. Niemand bezweifelte, niemand hinterfragte noch so absurde und widersprüchliche Wunder. Gottes Wirken in der Welt war nicht mit menschlichem Maß zu messen, selbst dann noch real gegeben, wenn es uns Heutigen irrational erscheint. Die Überzeugung, dass übernatürliche Mächte in die mittelalterliche Lebenswelt eingriffen, war allgemein akzeptiertes Allgemeingut. Doch bereits Luther hat das nicht mehr verstanden, der fanatisch gegen die Jakobspilgerfahrt polemisierte. Er sprach in seinen Predigten vom Compostel, davon, dass man nicht weiß, ob sant Jakob oder ain todter hund oder ain todts roß da liegt. Das in der Postmoderne übel beleumundete Übernatürliche, war einst natürlicher Bestandteil alltäglicher Kommunikation. Credo quia absurdum est! Die Differenz zwischen Gestern und Heute lässt sich kaum besser in Worte fassen. Die Entdeckung des Jakobusgrabs kam für den asturischen König zur richtigen Zeit. Er konnte dem Druck der maurischen Invasion nichts entgegensetzen als ein Wunder. Die religiöse Begeisterung, und die Legenden, die vom Auftrag des Jakobus sprachen, die Mauren zu vertreiben, führte zu einem wiedererstarkten kämpferischen Willen, da man den Apostel als spirituellen und militärischen Führer auf seiner Seite wusste. Diesem visionären Aufbruch waren die Mauren nicht gewachsen. Für Alfons II. bildete er den zusätzlichen Anreiz seine Position unter den anderen Herrschern Europas aufzuwerten. Schließlich wurde das Grab unter seiner Herrschaft gefunden. Er war zuerst dorthin gepilgert und hat einen entscheidenden Schachzug gegen die Mauren geführt. Seine militärischen Erfolge verschoben die Grenze zwischen Islam und Christentum nach Süden. Alfons II., im Namen des Apostels, wurde zum Beschützer der immer zahlreicher werdenden Pilger auf dem Jakobsweg nach Galicien, Symbol des Widerscheins der himmlischen Milchstraße auf Erden, die im Westen bis ans Kap Finisterre reichte. Niemand weiß genau, wo die historische Wirklichkeit aufhört, und die Legende beginnt. Jede Epoche betreibt ihre eigene Sinnpflege, kleidet die Vergangenheit in ein neues Kostüm, damit sie in die Lebenswelt der Menschen passt. Zur Zeit Alfons II. gab es genügend ideologische, theologische und politische Motive für eine Jakobusreliquie.


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