Montag, 10. März 2025

Was zuvor geschah


[El camino] está nuestra canción
Es cómo el viento, el mar y el sol
Tiene el calor de verdad,
la felicidad

Pedro Alonso feat. Tristan Ulloa

Seit meiner Kindheit kenne ich das Phänomen, das die Zoologen Zugunruhe nennen, nur zu gut. Mich hat es schon immer hinausgezogen, in die Nachbarschaft, in die Umgebung, in andere Gegenden, hinaus in die Welt. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit fünf Jahren das erste Mal von zu Hause weggelaufen bin, von der Polizei gesucht und nach Hause gebracht werden musste. Weglaufen haben es die anderen genannt. Ich hatte nicht die Absicht, mich davon zu machen, mir überhaupt nichts dabei gedacht. Alles war neu und interessant.
Ich bin im Zeichen der Zwillinge geboren, mitten im Frühling, und hatte von Anfang an den Wanderstab im Gepäck. Wir waren gerade umgezogen, in eine Straße, die am Ufer eines kleinen Flusses lag, nur ein paar hundert Meter von einer Auenlandschaft entfernt, auf denen das Gras kniehoch stand, wo der Fluss die Stadt hinter sich ließ, mit Wiesen auf denen Kühe und Pferde grasten. Wilde Uferböschungen, mit struppigen Sträuchern und knorrigen Weiden, in denen sich Insekten tummelten, eine eigene Welt, eine Flusslandschaft, wie ich nie zuvor eine gesehen hatte; das Wasser meist flach. Nur gelegentlich sprudelte es quirlig über flache Steine oder um Kiesbänke. Es reichte mir damals bis an die Waden, und es war ein Vergnügen, durch das Wasser auf die andere Seite zu waten. Die Empfindungen und Gefühle, die das Neue, das Unbekannte, das Fremde und Unvertraute auslösten, haben mich seit jeher fasziniert. Neugierde ist mein Lebenselixier. Ich habe mich schon oft gefragt, ob ich aus diesem Grund immer wieder in Städten gelebt habe, durch die ein Fluss fließt. Dass ich kein Talent besitze, sesshaft zu sein, wurde mir schon sehr früh bewusst.

Geboren wurde ich am 25. Mai, früh am Morgen, als zwei große Götter über dem Horizont aufstiegen. Sonne und Mars begegneten sich an diesem Morgen in den Zwillingen. Und auch mein Aszendent konnte es nicht lassen, den Tanz in den Zwillingen mitzutanzen. Das aufsteigende Licht der Sonne beleuchtete meinen Start ins Leben und Mars beschenkte mich mit feuriger Energie und spontaner Begeisterung. Eine feurig-luftige Allianz, die da aufeinandertraf, in die Höhe strebende Energien des Willens und der Lebenskraft. Ich überlebte meine Geburt, unterstützt von meinem Steinbock-Mond, anders als mein Bruder, dem im vergangenen Jahr nur wenige Tage auf der Welt beschieden waren.
Zwillinge, das Zeichen Merkurs, ein veränderliches, bewegliches und luftiges Zeichen, wissbegierig, neugierig, kommunikativ. Rede und Sprache, mündlich und schriftlich, wurden die Werkzeuge meiner ungezügelten Neugier für die verschiedenen Lebenswelten. Mit Merkurs Stab und Botschaft im Gepäck brach ich auf in diese bunte und aufregende Welt. Sobald ich alt genug war, hielt mich nichts mehr in Familie und Heimat. Ich vagabundierte durch die Welt, stöberte in allen Ecken, ich studierte, beobachtete, lernte, erzählte. Seitdem haben sich meine Neugier und mein Wissensdurst nicht erschöpft. Gestillt sind sie noch immer nicht, und ich glaube, mein Leben endet, wenn ich aufhöre, wissen, erfahren und teilen zu wollen. Müsste ich einen Avatar benennen, der mich beschreibt, es wäre der Famulus Wagner, der von sich selbst behauptet: Zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen. Spüren und fühlen, lernen und wissen. Wo ist der Unterschied?

Ursprünglich war mein Wunsch ein anderer. Ein viertes Mal auf den Sternenweg, das wollte ich. Das war der Plan. In Luis Buñuels Spielfilm La voie lactée wandern die beiden Clochards Jean und Pierre aus Paris auf dem Camino Francés, auf der Milchstraße, nach Santiago de Compostela. Sind sie die beiden Apostel Johannes und Petrus? In der esoterischen Wirklichkeit des mittelalterlichen Jakobuspilgers repräsentiert die Milchstraße das himmlische Äquivalent des irdischen Jakobswegs. Auch wenn es die offizielle Kirchengeschichte bis heute nicht wahrhaben will, der Jakobsweg ist viel älter als die Entdeckung der Jakobusreliquie im 9. Jahrhundert. Lange bevor die Gebeine des Apostels auf wunderbare Weise in Galicien auftauchten, reisten Menschen auf dem Sternenweg nach Finisterre, um die im westlichen Meer versinkende Sonne zu verehren.
In der mittelalterlichen Überzeugung verläuft der Weg nach Santiago de Compostela über einen doppelten Sternenweg. Diese doppelte Straße befindet sich auf dem Karlsschrein in Aachen, wo Karl dem Großen am Ende dieses Weges ein Engel oder Jakobus selbst erscheint. Die Jakobusreliquie wurde erst nach Karls Tod entdeckt, sodass Karl nichts von einer Jakobusverehrung gewusst haben kann. Auch die Legende, er habe sich auf Befehl des Engels aufgemacht, Santiago de Compostela von den Mauren zu befreien, ist ein Fake, und was im Rolandslied überliefert wird, ist ein Eroberungsfeldzug des Karolingers, der mit der Plünderung Pamplonas endete. Deshalb ist auch der Karlsschrein in Aachen älter, denn der Handwerker, der das Relief auf dem Schrein anfertigte, war bereits mit den Einzelheiten der Jakobuslegenden vertraut. Der Aachener Schrein mit der doppelten Sternenstraße wurde erst angefertigt, als der Jakobsweg offiziell eröffnet war, und das hermetische Wissen, das bis heute um ihn kreist, bereits bekannt war. Den Schöpfer des Karlsschreins sucht man am Besten im Umfeld der Templer, die im 13. Jahrhundert, als der Schrein entstand, über große finanzielle Mittel und eine einflussreiche, theologische Autorität verfügten. Buñuels Filmtitel kommt also nicht von ungefähr, sondern ist einer Tradition verpflichtet, die tief in den europäischen, esoterischen Untergrund führt.
Die kosmische Milchstraße dagegen ist eine Spiralgalaxie, in der sich unser Sonnensystem befindet, die sich als ein unregelmäßig breiter, schwach milchig-heller Streifen über das Firmament zieht. Ihre Struktur zu beobachten ist deshalb schwierig, da wir sie nur von einem Punkt innerhalb der Galaxie betrachten können. Unsere Galaxis aus einer externen Perspektive zu dokumentieren, dass erledigt die Raumsonde Gaia seit zehn Jahren, und hat in dieser Zeit rund ein Prozent der Sterne der Milchstraße, astrometrisch, photometrisch und spektroskopisch, mit bis dahin unerreichter Genauigkeit erfasst. Die Entzauberung der Welt schreitet fort. Die Milchstraße ist mit Sicherheit ein astronomisches Phänomen, dass den Kulturen zu allen Zeiten aufgefallen ist, denn sie findet einen Widerhall in den meisten europäischen Mythologien. Ob die Milchstraße in zwei parallelen Reihen über den nächtlichen Abendhimmel verläuft, ist unbelegt, aber sie endet im Sternbild des Großen Hunds. Deshalb liegt es auch nahe, sie mit der doppelten Sternenstraße auf Karls Schrein zu identifizieren. Entlang dieser Straße, die sich parallel an dem Breitengrad orientiert, der von den Pyrenäen nach Galicien verläuft, liegen zahlreiche Orte mit dem Wort Stern im Namen; die meisten von ihnen in Baskisch, der ältesten Sprache Europas. Namen von Sternorten – Pic d`Estelle, Puig Tresetrelles, Les Etielles, Estella-Lizarra, Astorga, Liciella – markieren den Weg auf einer imaginären Landkarte. Bedenkt man die zahlreichen Steingräber, Menhire und Dolmen in ihrem Umkreis, besonders deren Häufung in Galicien, scheint das Alter des Weges, der inzwischen der Jakobsweg ist, bis ins Jungpaläolithikum zu reichen; möglicherweise ein von verschiedenen Kulturen genutzter Prozessionsweg zu Ritualorten oder Begräbnisstätten im Westen, zur untergehenden Sonne, auf dem Weg der Toten. Es gibt Belege, dass das moderne Santiago auf einer keltischen Nekropole gegründet wurde, worauf der Name Compostela hinweist, den manche auf das lateinische Compostum, Friedhof, zurückführen. Dass auch eine andere Bedeutung des Namens Compostela, El Campo Estrellas, möglich, habe ich in meiner Reiseerzählung Auf dem Sternenfeld erläutert. Der Jakobsweg kann ein Einweihungsweg der Kelten gewesen sein, der nach ihrem Sonnengott Lugh bezeichnete, mysteriöse Lughweg, den bereits die Druiden ans Kap nach Finisterre gingen, um ihre Novizen zu initiieren; um die Rituale der Sonnenwenden zu zelebrieren. Das mystische Symbol der doppelten Sternenstraße ist nach dem hermetischen Gesetz formuliert: Wie oben, so unten! Wie außen, so innen! Eine äußere, physische Straße, ein ins Gelände eingetretener Weg, markiert mit topographischen und symbolischen Wegzeiten, kontrastiert einen inneren, einem emotional-mental-geistigen Weg.
Bevor aus dem Symbol der Spirale, des Labyrinths, eine andere Repräsentation der Spiralgalaxie Milchstraße, die Jakobsmuschel wurde, und aus dem Lughweg der Jakobsweg, hinterließ eine dritte Gruppe ihre Spur auf dem Sternenweg: die Baumeister der sakralen Gebäude der Romanik und Gotik, die hermetische Chiffren, Phantasmagorien, Chimären, kabbalistische Zahlenmystik und eine alchemistische Ikonographie in die Steine schnitten, Attraktoren einer sich auf den inneren Weg beziehenden Meditation. In Chartres soll alles begonnen haben: Die Architekten und Steinmetze der dortigen Bauhütte, und nach ihnen ihre Schüler, haben die im Stein verewigten figuralen, ornamentalen und abstrakten Bildsymbole entlang des Jakobswegs verbreitet, deren Überreste in den Reliefs und Kapitellen in den Transitheiligtümern, Kirchen und Kathedralen oder in den Museen entlang des Jakobswegs zu bewundern sind. Ihren Weg nannte man den Gansweg, nach dem Gansfuß, einem Erkennungszeichen der Gilde, der an den romanischen Kirchen bis ins Hochmittelalter als Zunftwappen und Zinkzeichen vorkommt. Die Gans war das Symbol der freien mittelalterlichen Baumeistergilden, ihr Icon sozusagen, eine Gänsefußspur, die der Jakobsmuschel glich. Die Bauhütten entlang des Jakobswegs folgten einer geheimen Wissenslinie, die mit den Zirkeln der Kathedralenbauer und der Geometrie des Lichts zusammenhing. Viele mittelalterliche Kathedralen und Klöster wurden nach den Prinzipien einer heiligen Geometrie erbaut, die auf speziellen Proportionen der Natur und des Kosmos basiert. Die romanischen Baumeister, die auch in Chartres tätig waren, verwendeten geometrische Prinzipien, die sich auf Pythagoras und die hermetischen Traditionen zurückführen lassen. In Estella hat man solche geometrischen Muster, besonders in den Grundrissen der Kirchen San Pedro de la Rúa oder Santa María Jus del Castillo gefunden. Der Weg der Gans verlief über die aragonische Route des Jakobwegs, von Chartres über das Felsenkloster San Juan de la Peña, das im Verdacht steht, Aufbewahrungsort des mysteriösen Grals gewesen zu sein, über die Montes de Oca, westlich des kleinen Orts Villafranca Montes de Oca, über den Paso de Oca, den Ganspass, in der Provinz Burgos, weiter nach Léon, und letztlich bis zum Pico Sacro in Galicien und nach Santiago de Compostela. Das Symbol des Vogels ist in vielen Kulturen ein uraltes Symbol der Seele: die Gans in der ägyptischen Mythologie, der Schwan bei den Kelten und der Phoenix bei den Arabern, Vögel, die Übergang und Wiedergeburt symbolisieren, und über die zahlreiche, entsprechende Erzählungen existieren. Ein indoeuropäisch interkulturelles Narrativ? Nichts davon ist wissenschaftlich eindeutig belegbar, dennoch sind die Indizien verblüffend, die andeuten, dass der Jakobsweg schon immer weit mehr war als nur ein christlicher Pilgerweg. Vielmehr handelt es sich bei diesem Weg um eine symbolisch aufgeladene, mentale Landkarte, um einen Weg, dem seit Jahrtausenden spirituelle Wirkungen zugetraut werden, die mit der psychischen Entwicklung des Individuums und der Förderung esoterischer und ethischer Werte zusammenhängen. Pilger und Leser, die ihm folgen, bewegen sich auf alten Wegen, auch wenn das nicht für jeden Jakobsweg gleichermaßen gilt.

Der erste, authentische Jakobsweg, der nun primitivo, der Ursprüngliche genannt wird, war anscheinend die Route, auf der Alfons II. Santiago erreichte. Den inzwischen weltberühmten Camino Francés gab es zu seiner Zeit noch nicht, denn wer wollte schon ungeschützt durch maurisches Territorium pilgern. Nach dem Camino del Norte, der auch Küstenweg heißt, dem Camino Primitivo und zuletzt der Vía de la Plata, hatte ich mich nun doch entschlossen, ein weiteres Mal auf einem Jakobsweg zu wandern, dieses Mal auf den Weg, den die mozarabischen Christen pilgerten, als die islamischen Mauren ihre überlegene Kultur auf der Iberischen Halbinsel entfalteten. Von Granada über Córdoba ins ehemalige Rom Spaniens, nach Mérida. Damals bedeutende Städte islamischer Kultur in Europa, heute Highlights des internationalen Tourismus. Weiter noch einmal über die Vía de la Plata auf das Sternenfeld, El Campo Estrellas, die ausgedehnte Plaza de Obradoira, über dem sich eine der großen Kathedralen Spaniens ins Firmament streckt. Mein Flug nach Granada war seit Monaten gebucht. In einer Woche wollte ich starten. Ich war aufgeregt, fast schon euphorisch. Endorphine taumelten wie Schmetterlinge durch meine Adern. Es sollte mein vierter Camino de Santiago werden. Ein letztes Mal auf den Weg zu Jakobus Zebedäus, dem älteren Jakobus, diesem seltsamen Heiligen des kalendarischen Heiligenregisters, das jedem einen Gedenktag zuordnet: dem Jakobus den 25. Juli. Zwei Tage vorher tritt die Sonne in das Tierkreiszeichen Löwe ein, das der Tetrabiblos des Claudius Ptolemäus ein männliches Feuerzeichen nennt, das zu einem christlichen Eiferer passt. Die Sonne als Herrscher im Haus des Löwen, und Jakobus: Missionar, Krieger und Pilger in Personalunion. Zusammen mit Johannes dem Evangelisten, war Jakobus ein Lieblingsjünger von Jesus von Nazareth, ein fanatischer, rassistischer Gotteskrieger, ein Matamoros, gnadenloser Maurentöter, der die Gründung des Orden de Santiago inspirierte, den bekanntesten Ritterorden der Reconquista. Die Ikone des christlichen Europas, die zur Vernichtung von al-Andalus aufforderte, eine Kultur mit Feuer und Schwert zu zerstören, in der ein Keim für eine weltoffene und tolerante Koexistenz von Islam und Christentum lag. Doch es kam, wie in der Geschichte so oft, anders: Auf beiden Seiten fochten Fundamentalisten und Dschihadisten den Kampf der Intoleranz. Und der Messias hatte einen seiner Lieblingsjünger gesandt: Jacobus Matamoros. Meine letzte Wanderung auf einem Camino de Santiago führte mich durch Portugal, auf dem Caminho Português am Atlantik vorbei. Es gibt einen zweiten Weg, den Caminho Central, der durch das bergige Hinterland verläuft. Aber dieser Weg reizte mich nicht, denn ich war damals schon wochenlang auf der bergigen Vía de la Plata durch das Zentrum der iberischen Halbinsel gewandert. Ich war mit Absicht an die Atlantikküste gekommen, weil ich Sehnsucht nach dem Meer hatte. Doch es wurde eine einsame Wanderung im Regen.
Und dann kam Corona über die Welt wie ein Racheengel, wie der Maurentöter über das multireligiöse, multiethnische spanische Experiment religiösen Nebeneinanders. Ein Virus der SARS-Gruppe, der bereits einmal zugeschlagen hatte, bedrohte Leben und Gesundheit der Völker. Der Herr hatte eine neue Geißel beschworen, eine andere unheimliche Reconquista, mit unabsehbaren Konsequenzen. Pandemie, ein Phänomen, das bislang meist in dystopischen Erzählungen wie dem Film Outbreak eine fürchterliche Rolle spielte. Anfangs glaubte ich, mich in einem Science Fiction-Film verirrt zu haben, in eine sekundäre Realität, in der das Mittelalter noch nicht überwunden war. Seuchen passten nicht in meine Vorstellung der Moderne, Maskenpflicht und social distancing, erst recht nicht. Terry Gilliam, ein Ex-Monty Python, führt in seinem Film 12 Monkeys erschreckend apokalyptisch vor, was eine Seuche bedeutet, das fahle Pferd der Offenbarung, das die Menschheit nicht mehr zügelt. Der Ursprung der neuen Infektionskrankheiten ist ein Spillover, ein vom Tier auf Menschen überspringender Virus, von denen SARS noch nicht einmal das schlimmste ist. Unsichtbar, geruchlos, geschmacklos. Eine feine, flüchtige Substanz, getarnt in Aerosolen, gegen das sich niemand wehren kann. Hilflos ausgeliefert, stirbt in Gilliams Film beinahe die ganze Weltbevölkerung. Die wenigen Überlebenden sind in der Unterwelt gestrandet und versuchen verzweifelt und hilflos das Geschehene zu verstehen, um es umzukehren. Wieder geht ein Gespenst um in Europa. Angst bestimmt die öffentliche Meinung. Ich wollte in die spanischen Berge hinauf klettern, um von oben auf die Welt herab zu sehen. Im Freien an der frischen Luft, ohne Virus und Lockdown, und die Pandemie weit unter mit. Doch mein Flug wurde gecancelt, die meisten europäischen Länder schlossen ihre Tore. Lockdown! Noch eine dieser Vokabeln, die ich nie zu hören glaubte, bedrohte meine Freiheit. Meine Einreise nach Spanien war nicht mehr möglich. Versperrt waren alle Wege, selbst die des Apostels. Auch die Hadsch nach Mekka war nur noch den Saudis erlaubt. Streng hygienisch, mit gebührendem Abstand. Maskierte Pilger umrundeten die Kaaba. Ein gruseliges Szenario wie es sich Hollywoods Drehbuchautoren ausgedacht haben könnten. Was eine Massenekstase am Heiligtum werden sollte, wurde zum disziplinierten Besuch. Millionen von Suchenden mussten daheimbleiben. Ich erweiterte mein Vokabular um neue Begriffe, damit ich meine Enttäuschung in Worte fassen konnte. Das Vokabular wurde zu einer Strategie, die das Virus öffentlich eindämmen sollte. Anglizismen, wie es sich für eine globalisierte Welt gehört. Anwärter für das Unwort des Jahres, wäre die Situation nicht so ernst. Wissenschaftler, allen voran die Virologen, verdrängten Popstars aus dem öffentlichen Diskurs, wurden Berater und sonnten sich im Licht neu gewonnener Popularität. Wortgewandt verkündeten Politiker unentschlossen ihre Meinung, zu langsam für das Mutationstempo von RNA-Viren. Gemeinsam mit Millionen Europäern verbrachte ich die nächsten Wochen zu Hause. Meine vierte Pilgerfahrt auf Jakobus' Wegen scheiterte an einer erschreckenden Realität, nicht stattgefundene Träume, strandeten planlos im Hier und Jetzt.

Corona war vorbei und ich schmiedete eifrig neue Pläne. Doch eine neue Prüfung kam, und ich kämpfte meine eigene Reconquista: die Rückeroberung meiner Gesundheit. Nein nicht Corona, sondern der Krebs kam zurück, nach fünfzehnjähriger Remission, und ich musste ein ganzes Jahr lang andere Wege gehen. Jetzt schwanke ich zwischen fragiler Gesundheit und lauernder Krankheit, und halte es zu Hause nicht mehr aus. Zugunruhe plagt meine Tage und übernimmt die Regie, und die Stadt mir den Atem. Dringender denn je muss ich hinaus ins Freie.

Meine Reiseerzählungen, und die dabei gefundenen Resultate sind nicht normativ, sondern optional, ein Set von Optionen, aus denen jeder wählen kann, was ihm entspricht. Wenn es manchmal auch so klingen mag, formuliere ich keine Vorschriften, sondern Vorschläge. Und was das Wandern auf einem Pilgerweg betrifft, wie auf jeden anderen Weg einer Fußreise: Gehen muss ihn jeder selbst.

In Pamplona


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