Gernika! Allein der Name hat einen schrecklichen Klang und weckt eine bittere Erinnerung. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Die ETA hätte es nie geben dürfen. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen es sich in dieser Welt besser leben lässt.
Gernika! Allein der Name hat einen schrecklichen Klang und weckt eine bittere Erinnerung. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Die ETA hätte es nie geben dürfen. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen es sich in dieser Welt besser leben lässt.
Wir haben alle lange geschlafen. Als ich gegen sieben Uhr aufstehe, schultert Gerard gerade seinen Rucksack. Auf rot getapten Füßen ist er auf und davon. Ich mache es ihm nach, tape meine Füße, wie er es mir gestern Abend gezeigt hat, und gehe ihm hinterher, auf weicheren Sohlen, viel besser als in den letzten Tagen. Lange geht es bergauf, dann schnell wieder bergab. Kaum bin ich schwer atmend oben angekommen, muss ich wieder hinunter, auf steilen, rutschigen und kurvenlosen Sandpisten oder auf einem der steinigen Maultierpfade, die sich in engen Serpentinen abwärts schlängeln. Stundenlang: aufwärts, abwärts, bergauf und wieder bergab, hinauf und hinunter. Eine tagfüllende Beschäftigung.
Der Weg aus Munitibar unterscheidet sich nicht von den zahlreichen, die ich bereits gegangen bin. Gleich hinter der nächsten Ecke stehe ich vor der ersten Steigung des Tages. Ich erwarte nichts anderes, und auch heute habe ich nicht gezählt, wie viele Steigungen es bis Gernika waren. Ich habe es mittlerweile verstanden. Diese Wege und Pfade bilden den besonderen Reiz der baskischen Berge. Milanos Ankündigung im Ohr, ab Bilbao werde es flacher, klingt jetzt wie eine Drohung. Tief in mir nistet sich etwas Trauriges ein, das nach Abschied schmeckt. Nach Aldaka muss ich über den harten Asphalt einer schmalen Landstraße, vorbei an einer kleinen Santiago-Kapelle aus dem 18. Jahrhundert, gebaut lange nach dem Hoch der mittelalterlichen Pilgerscharen. Dann ist der erste Berg des Tages bewältigt. Ein munter plätscherndes Flüsschen schlängelt sich durch ein feucht dämmriges Tal und kreuzt immer wieder meinen Weg. Über perfekt arrangierte Trittsteine und Holzbrücken, die sicher noch nicht viele Pilgerschuhe gespürt haben, komme ich bequem und trockenen Fußes ans andere Ufer. Ein weiteres Mal hat sich jemand Mühe gegeben, damit es den Pilgern nicht unbequem wird. Ob er bedacht hat, dass er ihnen damit die Spannung des unvertrauten Übergangs nimmt? Ein letztes, wenig berechenbares Abenteuer! Dafür sind doch alle gekommen. Damit ihr Leben einmal anders verläuft, abseits der alltäglichen Routinen und Sicherheiten. Oder sollte ich mich irren? Nicht zum ersten Mal hege ich den Verdacht, dass die Tourismusindustrie begonnen hat, sich der Santiago-Pilgerfahrt zu bemächtigen. Sie sorgt für bequeme Wege, ist auf Masse aus, und zerstört die Ursprünglichkeit des unmittelbaren Erlebens. Doch dies sind noch Ausnahmen, und bleiben es hoffentlich noch lange. Gehen muss immer noch jeder selbst, und der Küstenweg fordert den Wanderer ständig aufs Neue.
Mein Weg verläuft sich im nächsten Bergwald, steil und steinig, aber ungezähmt und rücksichtslos entlang an einer Bergflanke. Ohne den Wanderer zu schonen, steigt und fällt der Küstenweg wie es ihm gefällt. Ich beginne, mich in die baskischen Berge zu verlieben. Wieder wandere ich durch einen Wald, und erliege der Illusion natürlicher Wildnis. Nur Bäume, Sträucher, Moose und Farne, dazwischen einzelne Blumen, trudelnde Schmetterlinge und Hummeln, unter ihnen der Schwalbenschwanz, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Weiche, federnde Böden, harziger Geruch, der Geschmack von Sauerstoff auf der Zunge, im Ohr ein Pfeifen, Zirpen, Keckern und Trällern, das Lied von Amsel, Rotkelchen, Dompfaff und anderer unbekannter Vögel. Immer wieder der Kuckuck, der mir aus Deutschland nachgeflogen ist, und mir zuruft, dass ich es richtig mache. Ein unbestimmtes Knacken von links, auf der anderen Seite raschelt etwas und die nächste Eidechse verschwindet im Laub. Der Wind in den Zweigen, der Schatten der Blätter und die flimmernden Flecken, die die Sonne auf den Boden zaubert. Wenn der Wald einmal den Blick freigibt, öffnen sich spektakuläre Panoramen in die Täler oder auf die Biskaya, auf eine gegenüberliegende Bergkette, auf einsame Höfe inmitten sattgrüner Weiden und grasender Herden. In der Ferne bellen die Hunde, die mich warnen, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Ich bin weit entfernt, und wundere mich, dass sie mich überhaupt wahrnehmen können. Über die Hänge verstreut grasen Pferde und Rinder. Immer wieder Esel, die mich heiser schreiend begrüßen, und mir im nächsten Augenblick mit schläfrigem Blick nachstarren. Womöglich denken sie, dass ich der größere Esel bin, der mit Gepäck und ohne zu wissen warum, allein durch die Berge wandert, während sie entspannt die Wiese durchkauen. Doch ich kann nicht mehr anders, das Wandern lässt mich nicht mehr los.
Während ich durch den Wald trödele, überholen mich die ersten Pilger. Sie müssen in Markina gestartet sein oder irgendwo zwischen Markina und Munitibar übernachtet haben. Olabe, Mendata, Arratzu und Ajangiz, kleine, menschenleere Orte am Weg nach Gernika, unscheinbare, verschlafene Nester, in denen die Alten ausharren. Ein junges Paar, Franzosen, vielleicht Anfang zwanzig, überholen mich mit strammem Schritt auf der Steigung hinauf nach Arratzu. Ich höre ihre Unterhaltung schon von weitem, denn Wind und Luft tragen den Schall der Stimmen weit voraus, sodass ich Fetzen ihres Gesprächs mithören kann, bevor ich sie sehe. Die Gesprächsfetzen, die mich erreichen, erzählen davon, was zuhause wartet. An einer antiken, mittelalterlichen Brücke, deren Bogen sich in einem Halbkreis über den Fluss spannt, gehen sie lächelnd vorüber, ein „Bon Camino!“ auf den Lippen. Die Brücke fällt mir erst auf, als ich schon auf der anderen Seite bin, so üppig ist sie von Schlingpflanzen und Strauchwerk überwuchert. Die Vegetation hat sich zwischen den Bruchsteinen angesiedelt, und ihr Terrain zurückerobert. Der steinerne Übergang ist alt, doch ungebeugt. Schon im Mittelalter brachte die Brücke die Pilger sicher über den Fluss. Die beiden Engländer gehen achtlos an dem historischen Baudenkmal vorüber, während ich verweile, und den Atmosphären nachspüre, die im Zauber längst vergangener Zeiten gefangen sind. Es gibt verschiedene Gründe auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein, denke ich im Stillen, aber keiner ist besser als der andere.
Arratzu ist die nächste Streusiedlung aus mehreren Weilern. Der Küstenweg führt hoch hinauf auf einen Hügel in den Ort, wo die monumentale Kirche San Tomas, im Ortsteils Eleizalde über den wenigen Häusern thront. In kleinen, heute längst vergessenen Ortschaften werden bedeutende Kirchen und Kunstschätze bewahrt. Im Baskenland, und überall am Jakobsweg, rahmen diese Baudenkmäler, die mir zuflüstern, wie es vor fünfhundert Jahren hier zugegangen ist. Gebäude, die einem Ort seit Jahrhunderten Leben einhauchen, Menschen in den Gassen und Straßen, der Verkehr, die Läden und der Markt, auf dem Essbares, Heilsames und Magisches angeboten wurde. Welche Konflikte hatten die Dorfbewohner damals mit ihren Gästen, den Pilgern aus ganz Europa? In welcher Sprache haben sie kommuniziert? Was war ihnen wichtig, und wovor hatten sie Angst? Was verursachte ihre tiefe Frömmigkeit, deren Ideale nicht erloschen, obwohl die Menschen im Alltag tagtäglich an ihnen scheiterten? Der Jakobsweg trägt mit dazu bei, das Gemeinsame europäischer Kultur und Geschichte zu bewahren. Die Einsicht, das Staunen und die Ehrfurcht, auf historischem Boden zu stehen oder zu gehen, macht meine Faszination für die Pilgerwege aus.
Ein Parkplatz, eine Bank an einem Brunnen mit einer grandiosen Aussicht auf das baskische Mittelgebirge, trösten mich über die verschlossene Kirche hinweg. Unterhalb der Kirche drängen sich die Häuser von Eleizalde an die Flanke des Hügels. Über ihnen thront die Kirche wie eine Glucke, die die Bewohner unter ihre Fittiche nimmt. Ich verweile einige Zeit am Brunnen, nutze die Ruhe, das frische Brunnenwasser und die Aussicht für einen Imbiss: eine Banane, eine Handvoll Erdnüsse, ein Müsliriegel, den ich mit Quellwasser hinunterspüle. Meine leichte, nahrhafte Wandernahrung. Als ich aufbreche und mich noch einmal nach der Kirche umsehe, sitzt Karla auf den Treppenstufen bei ihrem morgendlichen Picknick-Ritual. Sie vermeidet meinen Blick und grüßt nicht zurück. Trotz unserer Differenzen kommen wir nicht voneinander los. Karla versucht es mit Ignoranz, was ich in Ordnung finde, denn ich will mich nicht mehr mit ihrer mürrisch aggressiven Laune auseinandersetzen.
Der Wald bleibt mir bis Ajangiz erhalten, wenn auch der Küstenweg immer häufiger die von Schlaglöchern und Randspuren zerfurchten Pisten der Forstwirtschaft nutzt. Kurz vor Ajangiz enden die Bäume. Weit unten liegt Gernika-Lumo, wie die Stadt bei den Basken heißt, an der tief ins Land geschnittenen Ría. Hunderte Meter vor der Küste durchbricht die Oka die Berge und bringt mir den Atlantik zurück.
Auf einer steil abwärts führenden, rutschigen Schotterpiste komme ich in Ajangiz an. Zuerst glaube ich, in Gernika zu sein. Der Ort an der großen romanischen Kirche, mit ihrem sechseckigen Mittelschiff und dem fast runden Grundriss, wirkt städtischer, als er in Wirklichkeit ist. Noch bin ich nicht im Tal der Oka angekommen, und der Küstenweg führt weiter abwärts. Auf einem schmalen Pfad zwischen Hecken, auf herrlich duftendem, frisch gemähtem Gras, erreiche ich schließlich Gernika. Unvermittelt endet der Pfad, ich stehe an einer Kreuzung zwischen den ersten Häusern der Stadt. Es beginnt zu regnen, zuerst schüchtern, dann heftig, beinahe rücksichtslos. Auf der Kreuzung hält mich eine mächtige Eiche leidlich trocken. Gegenüber flackert das grüne Kreuz einer Apotheke. Wenn auch teuer, bekomme ich endlich die orthopädische Bandage, um mein Kniegelenk zu stabilisieren.
Mit der Bandage im Rucksack, und der Hoffnung auf besseres Gehen, suche ich die Cervecerie Gernika in der Fußgängerzone. Ich will zentral übernachten, um genug Zeit zu haben, mir die legendäre Stadt anzusehen. Doch die Pension ist belegt. In der Bar nebenan gibt es noch genug für ein verspätetes Mittagessen. Gernika meint es gut mit mir. Mitten im Treiben der Passanten sitze ich in der Pablo Picasso Kalea, vor der Bar, esse und trinke, und lasse mich von der Atmosphäre Gernikas verführen.
In der Jugendherberge bekomme ich ein Bett in einem der großen Schlafsäle. Karla ist inzwischen eingetroffen, gemeinsam mit den Dortmundern, die ich zuletzt in Munitibar getroffen habe. Schnell checke ich ein, lege meinen Rucksack auf eins der Betten, und bin wieder unterwegs in die Stadt. Karlas abfällige Bemerkung, als ich sie frage, ob sie mitkommen will, Picassos Bild bestehe doch nur aus Kacheln, erstaunt mich. Wie kommt man auf den Gedanken, sein Originalgemälde Wind und Wetter auszusetzen? Wenn auch nur eine Reproduktion, bin ich neugierig auf Picassos berühmtes Gemälde.
Ein kurzer Spaziergang durch die Stadt nimmt mich gleich für Gernika ein. Ich bin neugierig auf mehr, denn der Name ist durch Picassos Werk weltberühmt. An diesem Nachmittag glänzt Gernika im Prunk spanischer Städte. Ich sehe auf den ersten Blick, dass die Stadt nicht hinter San Sebastián-Donostia zurückstehen muss. Die historischen Bauten mit ihren prachtvollen Fassaden, die Arkaden unter denen Bars und Restaurants die Gäste mit Kaffee, Wein und Pintxos bewirten, das Museo de la Paz auf der Foru Plaza, der Park der Völker Europas, Brunnen und Skulpturen und natürlich Picassos Guernica, verdienen mehr als den flüchtigen Blick, den ich aufbringen kann.
Picassos Gemälde thematisiert den Krieg, ausgelöst durch das Massaker der deutschen und italienischen Luftwaffe 1937 im spanischen Bürgerkrieg, als die beiden faschistischen Regimes Francos Griff nach der Macht unterstützen. Picasso bekam den Auftrag, ein propagandistisches Werk gegen Francos Griff nach der Macht zu schaffen, mit dem die spanische Regierung auf der Pariser Weltausstellung im gleichen Jahr den blutigen Bürgerkrieg im Land verurteilen wollte. Doch Picasso kam nicht dazu, den Auftrag auszuführen, denn am 26. April 1937 bombardierten die deutsche Fliegerstaffel Legion Condor und das italienische Corpo Truppo Volontarie Gernika, ein experimenteller Luftangriff, um Munition und Strategie für den bevorstehenden Zweiten Weltkrieg zu testen. Die Bombardierung Gernikas lieferte das Thema für Picassos Gemälde. Während die Stadt in Trümmern lag und in Flammen stand, begann Picasso das Grauen des Krieges ins Bild zu bannen. In ein Bild voller Tod, Trauer und Schmerz mischte er in Schwarz-Weiß-Grau-Tönen collagenhaft surrealistische, theatralische, cineastische und kubistische Elemente. Fotografien aus Zeitungen, Kinoszenen von Opfern des Spanischen Bürgerkriegs, aber auch Anklänge an Francisco de Goyas Kriegsgemälde Die Erschießung der Aufständischen sowie die christliche Passionsikonografie sind deutlich zu erkennen. Die Pietá, die um Jesus trauernde Maria, besonders die sieben Flammen, die die Feuersbrunst von Gernika symbolisieren, gemahnen an die Apokalypse. Mit dem Stier, der die faschistische Franco-Diktatur repräsentiert, die die blutigen Stierkämpfe protegierte, und dem Pferd als Metapher für das leidende Volk, knüpft Picasso mit Gernika auch an seine Minotauromachie-Serie an; der Minotaurus als Ausdruck menschlicher Bestialität. Über dreißig Jahre lang hat Picasso untersagt, dass Bild im Spanien der Franco-Diktatur auszustellen.
Gernika-Lumo wird von den Basken noch immer als Symbol ihres Kampfes um Unabhängigkeit wie eine heilige Stadt verehrt. Der Baum von Gernika, eine Eiche, die auf dem Wappen der Provinz von Bizkaia abgebildet ist, spielt dabei eine besondere Rolle. Einst war das baskische Bergland ein Eichenwald, Gernika noch viel früher vielleicht ein Heiliger Hain. Auf den Wegen, die ich in den letzten Tagen gegangen bin, war es zuletzt nicht mehr zu übersehen: Die Eiche ist der dominierende Baum am baskischen Donejakue Bidea. Ob die kniehohen, hölzernen Monolithen, die den Küstenweg im Baskenland markieren, aus Eichenholz sind, weiß ich nicht. Naheliegend wäre es, und ich stelle es mir gerne vor, denn es gibt sie nur im Baskenland. Kaum habe ich die Grenze nach Kantabrien, jenseits von Pobeña, hinter mir gelassen, gibt es bis zur Null-Kilometer-Marke am Kap Finisterre nur noch steinerne Monolithen.
Der Baum von Gernika symbolisiert die Unabhängigkeit der Basken. Heilige Eichen, wie die von Gernika, waren bis ins frühmittelalterliche Europa weit verbreitet. Die bekanntesten sind der mythische Yggdrasil der Edda, das Reittier Ódins, die Donareiche, die Bonifatius fällte sowie die All-Säule Irminsul, das Heiligtum der germanischen Sachsen, bis Karl der Große sie, zu Beginn der Sachsenkriege, fällen ließ. Solche Bäume symbolisieren die Weltachse, den Stamm, der die drei kosmischen Ebenen verbindet. Die kulturelle Funktion der Irminsul ist nicht aufgeklärt, aber sie wird den gleichen Sitz im Leben der germanischen Kulturen gehabt haben, wie der Baum von Gernika bei den Basken. Auch die keltischen Druiden sind für ihre Affinität mit der Eiche bekannt. Im Mittelalter hielten die baskischen Volksvertreter Rat unter diesen besonderen Eichen, schworen Eide unter diesen Bäumen und sprachen in ihrer Anwesenheit Recht. Als das Mittelalter zu Ende ging, hielten sie ihre Ratsversammlungen nicht mehr unter freiem Himmel, sondern in einer Eremitage in Gernika ab. Der Baum wandelte sich vom Ort des Geschehens zum überlieferten Symbol baskischer Kultur und Eigenständigkeit. Auf dem zentralen Platz in der Stadt steht ein bronzener Gitarrist. José María Iparragitta steht auf ein Schild zu seinen Füßen geschrieben, darunter eine Notation. Er ist der Verfasser der baskischen Nationalhymne, Gernikako Arbola, Baum von Gernika. Die einleitenden Strophen der Hymne thematisieren das tief verwurzelte Wir-Gefühl baskischer Identität, das die ETA so schrecklich missverstanden hat:
Gesegnet ist der Baum von Gernika,
geliebt von allen Basken.
Trag und verbreite deine Früchte in der Welt,
wir verehren dich, Heiliger Baum.
Rund tausend Jahre, sagt man, ist es her,
dass der Herr den Baum von Gernika pflanzte.
Steh aufrecht heut und alle Tage.
Du wirst nicht stürzen, geliebter Baum,
verhält sich der Rat von Bizkaia richtig.
Wir vier Provinzen vereinen uns mit dir,
damit die Basken in Frieden leben.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurde der Baum von Gernika, von dem mehrere Exemplare bekannt sind, immer wieder neu gepflanzt. Die erste Eiche, den sogenannten Alten Baum, pflanzte man im 14. Jahrhundert. Sein Stamm wird noch immer aufbewahrt und ist in einem kleinen Tempel in der Stadt ausgestellt. Der dritte Baum überstand den Luftangriff auf Gernika, und wuchs bis 2004 in der Stadt. Als Francos Falangisten die Eiche Gernikas fällen wollten, bewachten bewaffnete Freiwillige das Symbol ihrer Unabhängigkeit, bereit es blutig zu verteidigen. Der rezente Baum, der fünfte in der Dynastie, stammt aus einer Eichel seines Vorgängers, und wurde im März 2015, vierzehn Jahre alt, in die Erde gesetzt. Das Nationalheiligtum Gernikako Arbola, unter dem die Basken einst ihre direkte Demokratie praktizierten, befindet sich oberhalb des Zentrums der Stadt. Die Könige von Navarra und Kastilien schworen unter der Eiche von Gernika die Autonomie der Basken zu wahren. Der Name Gernika ist ein Fanal, das Picassos Bild Guernica künstlerisch zum Ausdruck bringt. Ich hatte erwartet, dass nach dem verheerenden Luftangriff der Faschisten weniger vom historischen Gernika bewahrt blieb. Doch das baskische Nationalbewusstsein hat Enormes geleistet und Gernika kunsthistorisch prachtvoll restauriert.
Das Geschichtsbewusstsein und die ethnische Identität der baskischen Stadt äußern sich auch in dem im Jahr 1991 eröffneten Parque de los Pueblos de Europa. Besonders zwei Skulpturen erinnern an die Katastrophe von 1937 und ziehen gleichzeitig die Konsequenzen daraus. Die Plastik von Henry Moore, Large Figure in a Shelter, Große Figur in einer Schutzhütte, ist sieben Meter hoch und zwanzig Tonnen schwer, und eines seiner letzten Werke. Zum 53. Jahrestag der Bombardierung von Gernika wurde es im Park der Völker Europas installiert. Henry Moore zeigt in seinem Werk eine größere Figur, die beschützend eine kleinere umschließt, dass jedes Individuum in Freiheit leben will, weder Waffengewalt noch militärischer Willkür ausgeliefert. Die wie eine Festung wirkende Steinplastik, Gure Aitaren Etxea, Das Haus unseres Vaters, des baskischen Bildhauers Eduardo Chillada stellt ein anderes Mahnmal dar; acht Meter hoch mit einem äußeren Umfang von neunzehn Metern wiegt es 180 Tonnen. Aufgestellt und eingeweiht wurde das dem baskischen Volk gewidmete Werk 1988. Die Website des Museo Chillada Leku zitiert den baskischen Bildhauer mit folgenden Worten: Ich bin einer von denen, die - und für mich ist das sehr wichtig - denken, dass Menschen von einem Ort stammen. Idealerweise stammen wir von einem Ort, haben unsere Wurzeln in einem Ort, aber unsere Arme strecken wir aus in die ganze Welt, lassen uns inspirieren von den Ideen der verschiedenen Kulturen. Von E. Chillada stammen auch die Windkämme im Westen der La Concha-Bucht in seiner Heimatstadt Donostia sowie die Eisenplastik Berlin vor dem deutschen Bundeskanzleramt. Ich bleibe lange im Park der europäischen Völker, ein Ort, den die ausgestellten Kunstwerke mit einer besonderen Atmosphäre aufladen. Das Wetter ist warm, der Himmel wolkenlos und der Park eine Oase nachmittäglicher Gelassenheit. Kinder spielen in der Sonne, die Erwachsenen flanieren oder sitzen ins Gespräch vertieft auf einer der zahlreichen Bänke oder gleich im grünen Gras. Nach dem kilometerlangen Stadtbummel durch Gernika verschwende ich die Zeit auf einer der Bänke und esse im Supermarkt gekaufte Früchte.
Als die Dämmerung einsetzt, gehe ich hinüber in die Bar del Norte, die einen vorzüglichen Hauswein anbietet. Am Nebentisch vertieft sich eine Gruppe älterer Damen leidenschaftlich in ihr Kartenspiel. Es geht aufgeregt zu, die Spielzüge werden lautstark diskutiert. Es scheint um Einsätze zu gehen, die nicht ohne weiteres den Besitzer wechseln. Am Tresen gegenüber sitzen gelangweilt Männer und trinken ein Glas Bier oder Wein. Ob sie die Ehemänner der zockenden Frauen sind? Der Rezeptionist der Jugendherberge hat mir empfohlen, mir das preiswerte Pilgermenu, das man in der Bar anbietet, schmecken zu lassen. Seit ich unterwegs bin, spricht alle Welt vom Menu de Peregrinos. Es klingt verdächtig nach idealer Speisung. Trotz Skepsis bin ich neugierig geworden. Doch das Pilgermenu ist weniger spektakulär als der Name verspricht. Nichts Besonderes, ein Menu del Día zum reduzierten Preis: drei Gänge, ein gemischter Salat, Fleisch oder Fisch mit Beilage, dazu ein süßer Nachtisch, Eis oder Kuchen, für mich am Abend viel zu üppig. Das Pilgermenu, ein kommerzielles, touristisches Angebot, der halbherzige Versuch, den Pilgern ein Stück Romantik zu bieten, und daran zu verdienen. Ich bleibe bei Pintxos und Bier, und schaue den anderen Pilgern zu, die sich hoffentlich an ihrem Pilgermenu laben.
Weiterlesen: Ankunft in Bilbao
Copyright 2022-2023. All Rights Reserved (Texte und Fotos)
Himmelspfad und Sternenfeld ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen