Dienstag, 20. Dezember 2022

Eine der schönsten Städte


Ich weiß es nicht, kann es mir aber nicht vorstellen, dass Wilhelm Busch ein Pilger war. Ganz bestimmt war er kein Santiago-Pilger. Er weiß aber sehr genau, was ein Pilger wissen muss, will er auf den rechten Weg kommen: Er muss durch sich selbst hindurch. Er muss bereit sein, sich ohne Wenn und Aber auf den Weg einzulassen, gegenwärtig sein, dem Zufall vertrauen, nicht allzu weit vorausdenken und darauf bauen, dass letztlich alles gut wird.

Den anstrengenden Aufstieg auf den Jaizkibel belohnte der Camino del Norte mich gestern mit einem spektakulären Blick auf die Küste der Biskaya sowie einem abenteuerlichen Wettersturz, der alle Mühen vergessen ließ. Je höher ich den Bergpfad hinaufging, desto weiter konnte ich auf das Meer hinaussehen, auf dem Sonnenstrahlen wie vom Himmel gefallene Sterne tanzten. Je tiefer ich in die Wolken geriet, je unsicherer wurde ich über meinen Weg. Nachdem ich mich in diesem Jahr gegen die Vía da la Plata entschieden habe, stehe ich auf dem Küstenweg gleich am ersten Tag zwischen Land und Meer.
Die Landschaft, im Norden des Atlantiks, im Süden die Ausläufer der Pyrenäen und später die kantabrische Kordilliere, an der nördlich entlang der Küstenweg verläuft, habe ich mir genauso vorgestellt. Ich erinnere mich an gestern, wie aufgeregt und nervös ich war. Der Jaizkibel ist nur der erste Berg des Baskenlands, den ich bewältigen muss, um von Küste zu Küste zu gehen, von einer Flussmündung zur nächsten, an dessen Ufer die Ortschaften auf Meereshöhe liegen.
In der Herberge geht es am Morgen hektisch zu. Die Männer und Frauen, die gestern bei meiner Ankunft schon auf ihren Betten lagen, sind heute Morgen emsig mit ihren Rucksäcken beschäftigt. Es ist noch früh, doch mir scheint, jeder will der erste auf dem Weg sein. Nur Irina bleibt unbeeindruckt von der Unruhe um sie herum im Bett, und dreht sich noch einmal auf die Seite. Die Herberge liegt oben am Hang, über den Häusern von Pasaia, oder Pasajes, wie der Ort im Spanischen heißt. Noch nicht richtig wach, blicke ich hinunter auf die Ría und den Hafen, und mir wird wieder bewusst, worauf ich mich eingelassen habe. Doch dann steckt mich die lebhafte Aufbruchstimmung an, und es wird ein gemeinsamer Aufbruch aus der Ermita Santa Ana, hinunter an den Fähranleger und die Ría, die den Jakobsweg unterbricht. Während die meisten von der Herberge sofort zur Fähre gehen, um überzusetzen, lasse ich den Anleger links liegen und schlendere über das Kopfsteinpflaster in eine schmale, überdachte Gasse in den Ort, um mir die historische Altstadt anzusehen, in der Victor Hugo einige Monate verbracht hat.
So früh am Morgen ist es noch feucht und kalt in den Gassen von Pasaia, und die wenigen Laternen spenden nur ein schwaches gelbes Licht. In der Dämmerung öffnen die ersten Geschäfte, Waren werden angeliefert und ein alter Mann versucht mich auf den Jakobsweg zurückzuschicken, nimmt er doch an, ich habe mich in den engen Gassen verlaufen. Ich friere, und nur wenig später verliere ich die Lust an einer frühen Besichtigung in der Dämmerung. Ich schlüpfe mit einer Brotlieferung in eine Bäckerei, die eben erst geöffnet wird, und wärme mich bei Milchkaffee und einem Croissant auf. Am Nebentisch sitzen zwei spanische Pilger, die den gleichen Gedanken hatten. Sie schaufeln Brot und Salami in sich hinein, als ob ihnen eine körperliche Anstrengung bevorstehe. Trotz meines „Buen Día!“ lassen sich die beiden nicht bei ihrem Frühstück stören. Sie wirken in Eile, als müssten sie zeitig ankommen. Braungebrannt, mit ihren fesch gemusterten Kopftüchern, der eine mit ausgeprägt wuchtiger Nase, sehen sie verwegen aus, wie Piraten vor einem Raubzug. Fast hätte ich mich nach einem gebogenen Haken an einem Arm umgesehen. Kopfabwärts ähneln sie in ihrem bunten Funktionsdress eher Radsportlern. Wären da nicht die Wanderschuhe und die Muschel an ihrem Rucksack, für andächtige Pilger hätte ich sie auf den ersten Blick nicht gehalten.

Der mittelalterliche Pilger trug eine verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitimierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh ihm einen offiziellen Rechtsstatus, den Habitus peregrinorum, der ihn schützte und ihm unterwegs Unterstützung sicherte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben dem Pilgerhut und der Pelerine aus Filz, sind im Jakobusbuch die Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert. Im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, war sie klein und fasste nur einige persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der mittelalterliche Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab, der dritte Fuß des Pilgers, symbolisierte die göttliche Trinität. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im neunten Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben, seinen Eintritt in die Zwischenwelt einer Pilgerfahrt zu begleiten, ihn sozial zu markieren. Der Pilgersegen ist bis heute erhalten geblieben, denn er ist selbst auf den neu eröffneten deutschen Jakobswegen üblich. Die Pilgertracht, die nicht nur funktional war, sondern eine ausgesprochen expressive Symbolik besaß, machte den Fußreisenden einst als Pilger kenntlich. Das Initiationsritual des Übergangs trennte den mittelalterlichen Pilger von seiner alltäglichen Gemeinschaft. In der liminalen Phase des Übergangs verlor er seine alte Identität, um auf seiner Pilgerfahrt eine neue zu gewinnen. Sozial neu geboren, von allen Verfehlungen und Sünden gereinigt, nahm ihn seine Gemeinschaft nach Abschluss seiner Pilgerfahrt wieder auf, die von seiner mystisch aufgeladenen Aura profitierte. Die beiden so ungewöhnlichen Pilger am Nebentisch tragen auch eine Uniform. Diese orientiert sich an einer sportlich definierten Kleidernorm, einem Freizeitlook, der die modernen Pilger von heute auszeichnet.

Der Milchkaffee ist heiß und kräftig, genau wie er sein muss. Es ist schon kurios, ein Croissant mit Messer und Gabel zu essen. Aufgewärmt und satt folge ich den anderen Pilgern, die längst verschwunden sind. Ein kleines Motorboot, die öffentliche Fähre, bringt mich für einen Obulus, wie ihn auch Charon erhält, über die Ría ins andere Pasaia, nach Pasaia San Pedro, dessen moderne Gebäude und breite Promenade einen seltsamen Kontrast zu der fast mittelalterlich düsteren Atmosphäre bilden, die früh am Morgen in Pasaia-Donibane herrscht. Die schmale, sehr lange, tief ins Land eindringende Meeresbucht trennt alt von neu, als ob das eine durch das andere kontaminiert werden könnte. Das Salzwasser des Atlantiks dringt bis in den Ort, mischt sich mit dem algenreichen, gelblich grünen Fluss. Ich wandere an modernen Wohnhäusern auf der einen Seite der Straße vorbei, am Ufer der Ría rostige Bootsleichen und eine Werft. Seit den 1970er Jahren hat der Hafen von Pasaia dem großen Handelshafen von San Sebastían den Rang abgelaufen. Jetzt dient er nur noch der Fischerei und sportlichen Aktivitäten. Mit Schmerzen im linken Knie stehe ich vor einer fast lotrechten grüngrauen Steilwand. Eine gelbe Muschel schickt mich eine lange und steile Treppe mit Dutzenden ausgetretenen, unregelmäßigen Stufen hinauf. Das linke Bein nachschleppend, nehme ich Stufe für Stufe, bis mir oben wieder die Sonne ins Gesicht scheint, und ich über die Ría hinweg aufs Land und aufs Meer hinaussehen kann. Am Ende der Treppe wird es mir wieder bewusst: Ich bin im Baskenland, und von nun an gehören Steigungen zu meiner täglichen Routine. Meinem Knie geht es immer schlechter. Nur die atemberaubende Aussicht über die blaue Biskaya und der strahlende, fast dunkelblaue Himmel, drängen die Schmerzen im Knie in den Hintergrund. Nach der feuchten, kühlen Stimmung unten am Fluss stehe ich über der Ría in der warmen Sonne und lasse zum ersten Mal mein nassgeschwitztes Hemd auf einer Bank trocknen. Dann hole ich die elastische Binde aus dem Rucksack und bandagiere mein Knie.
Auf dem Grat verläuft der Küstenweg auf einem schmalen Pfad entlang einer bewaldeten Bergflanke. Immer wieder lichten sich Bäume und Sträucher und ich kann weit unten die Biskaya sehen, und hören, wie die Wellen schäumend an der steilen und steinigen Küste brechen. Der Weg ist schmal, nur zwei Füße passen nebeneinander. Auf einer Seite geht es steil ans Meer, gegenüber genau so steil den Hang hinauf. Es ist Wochenende und mehr Betrieb, als ich erwartet habe. Spaziergänger, Wanderer, Männer mit Hund und Mountainbiker überholen mich oder kommen mir entgegen. Jeder, dem ich begegne, hat ein freundliches „Buen Camino!“ für mich übrig. Das Zwitschern von Vögeln, das Keckern von Eichhörnchen, die Brandung weit unter mir, der Wind in meinen Haaren und meine Schritte auf Sand und Steinen, die Nuancen der Stille, sind angenehm aufdringlich. Die Geräuschkulisse klingt harmonisch. Sie entspannt mich nach Monaten des städtischen Lärms. Die Luft schmeckt nach Salz und riecht nach Harz. Sie ist sauber und frisch, und ich frage mich, wann ich solche Luft zuletzt geatmet habe. Als Kind vielleicht, aber das ist schon so lange her, dass ich mich nicht erinnere.
Am Berg Ulia grenzt der Jakobsweg an die Herberge einer bibeltreuen, christlichen Gemeinschaft: die Las Doce Tribus, die Zwölf Stämme. Ihr Anwesen am Küstenweg ist ein Idyll. Auf einem farbigen Holzschild begrüßt die Gemeinschaft die vorbeiziehenden Pilger mit dem spanischen, baskischen und englischen Satz: El amor incuentra el camino / Love finds a way / Maitasunak bidea aurkitzen du. In einem weitläufigen Park hat die Gemeinschaft am Jakobsweg eine moderne Herberge eingerichtet, die den Pilgern nicht nur Unterkunft, sondern in ihrem Restaurant auch ökologisch produzierte Mahlzeiten anbietet, alle Zutaten aus eigener Produktion. Die Hospitaleros sind jenseits der Fünfzig, freundliche Männer mit sanftem, zurückhaltendem Verhalten.
Ich irre mich im Weg, halte den Eingang in den Park zur Herberge für eine Variante des Wegs nach San Sebastián. Auf der Terrasse vor dem Haus treffe ich Irina wieder, die heute Morgen schon vor mir an das andere Ufer übergesetzt hat. Sie sitzt mit einer älteren Frau bereits beim Frühstück. Ich lasse mich nicht lange bitten, und setze mich zu ihnen: Brot, Butter, Marmelade und Äpfel. Alles hausgemacht, wie der Mann, der uns bedient, versichert. Alles Donativo, auf Spendenbasis. Irinas Bekanntschaft heißt Karla, ist 78 Jahre alt, und kommt aus Dänemark, genauer aus Jütland, was ihr wichtig ist. Der Camino del Norte, den sie auch in Irún begonnen hat, ist ihre dritte Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Es ist ein lustiges Frühstück, bei dem wir uns in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch unterhalten. Karla hat vage von den Zwölf Stämmen gehört, weiß aber nichts über den ideologischen Hintergrund der Herbergsbetreiber. Als wir aufbrechen, kauft sie noch ein Brot aus der hauseigenen Bäckerei, ein heiliges Brot, wie sie es scherzhaft nennt. Doch die Idylle täuscht. Der höflich friedliche Schein trügt. Die Zwölf Stämme gelten in Deutschland als eine fundamental-christliche Sekte, die in der Tradition des Urchristentums weitgehende Gütergemeinschaft praktiziert. Ihre von alttestamentlich biblischen Prinzipien bestimmten pädagogischen Vorstellungen decken sich nicht mit einem humanistischen Menschenbild. Die Gemeinschaft lehnt die allgemeine Schulpflicht ab, und unterrichtet ihre Kinder selbst, da diese nach biblischen Grundsätzen aufwachsen sollen. Sexualkundeunterricht und die Vermittlung der Evolutionslehre lehnen sie ab, da diese im Widerspruch zur biblischen Schöpfungsaussage steht. Deutsche Gerichte urteilten in mehreren Fällen wegen Sorgerechtsentzug und Strafanzeigen wegen Misshandlung und Gewaltanwendung gegen die ihnen anvertrauten Kinder.
Inzwischen ist es warm und sonnig geworden. Wieder auf dem Küstenweg, trennt uns unser unterschiedliches Tempo schon auf den nächsten hundert Metern. Wie gestern bleibt Irina weit zurück. Sie geht langsam, bleibt oft stehen, trödelt dann gemütlich vorwärts. Sie ist wie ein staunendes Kind, das sich noch an der kleinsten Kleinigkeit nicht sattsehen kann. Aber wir haben das gleiche Ziel, und ich bin mir sicher, ich sehe die beiden wieder. Über den Berg Ulia sind es nach San Sebastián nur wenige Kilometer. Der Küstenweg führt stetig abwärts, durch den Wald ans Meer. Immer weniger Bäume versperren die Sicht auf die Biskaya, bis ich vom Rand des Abhangs einen fantastischen Blick auf den anderthalb Kilometer langen, muschelförmigen Sandstrand der La Concha-Bucht habe.

Donostia, wie sie auf Baskisch heißt, ist eine Großstadt am Fluss Urumea. Ihre Bewohner halten sie für eine der schönsten Städte Europas. 2016 wurde sie zur Europäischen Kulturhauptstadt gewählt. Ihr Leitmotiv: Cultura para convivir, eine Kultur, um zusammen zu leben. Der Blick vom Igelda-Berg ist sicherlich eine der schönsten Aussichten auf die Stadt, ein magischer Ort, den man auch die Perle des Kantabrischen Meeres nennt. Vom Berg kann man mit einer Bergseilbahn hinunter ans Meer fahren, wo der baskische Bildhauer, Eduardo Chillida, eine Bühne für ein Schauspiel der Natur bereitet hat. Am westlichen Ende der La Concha beherrschen seine Eisenskulpturen, die Peines del viento, die Windkämme, die Klippen; ein Kräftemessen der wilden Natur mit dem geformten Eisen. Chillidas Skulpturen erinnern an die alten, reparaturbedürftigen Ackerbaugeräte der Gegend. Ursprünglich plante der Künstler an diesem Ort eine Orgel zu betreiben. Bei Unwetter wäre der Klangzauber nicht zu bewältigen gewesen, wahrscheinlich eine akustische Tortur für die Anwohner. Die Windkämme sind aber auch ohne eine Meeresorgel musikalisch, denn sie verkörpern einen meer- und winderzeugten Dreiklang, für Chillida der Rhythmus des auf dem Amboss geschmiedeten Eisens.
Ich komme vom Strand aus in die Stadt. In den Straßen herrscht samstäglicher Konsumrausch. Wer nicht konsumiert, flaniert oder bummelt über die Promenade oder durch die breiten Einkaufsstraßen, joggt, surft, schwimmt oder sonnt sich an dem langen, vergleichsweise leeren Strand. Donostia steht international in dem Ruf eine erstklassige Surfdestination zu sein, wo neben dem französischen Biarritz das Surfen in Europa seinen Anfang genommen hat. In den Straßen Stuck, Dekoration und barocke Fassaden. Prunkvolle Architektur, gleich neben klaren, nüchtern rechteckigen Formen, prägt das Stadtbild. Donostia war bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Kurort des spanischen Adels, wo das milde atlantische Klima dermatologische Krankheiten linderte und der Tourismus seinen Anfang nahm. In den Jahren der Belle Epoque, in der die herrschende Klasse Europas nach kriegerischen Jahrzehnten erstmals wieder zur Ruhe kam, entstanden viele der wunderschönen Gebäude der Stadt. Die Schöne Epoche dauerte nur dreißig Jahre, um das vorletzte Millennium in Europa, als nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 eine unerwartete Zeit des Friedens folgte. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der zweiten Welle der industriellen Revolution gab den Menschen damals das Gefühl, materiell gesichert zu sein. Die Belle Époque war ein Kind der Boulevards, der schnell wachsenden Metropolen, der Cafés und Cabarets, der Ateliers und Galerien, der Konzertsäle und Salons, getragen vom technischen und wirtschaftlichen Fortschritt eines wohlhabend gewordenen Bürgertums. Das Rathaus gilt als eines der beeindruckendsten Gebäude Donostias. Es wurde 1897 als Casino eröffnet, wo so illustre Gäste wie Mata Hari ein- und ausgingen, und dass bis 1924 ein internationales Publikum der Reichen und Schönen anzog. Der größte Teil der arbeitenden Bevölkerung hatte keinen Anteil an dieser schönen Zeit und ihrer Ideologie des uneingeschränkten Lebensgenusses sozialer Sorglosigkeit. Sie waren damit beschäftigt den wirtschaftlichen Mehrwert zu produzieren, der die dynamische kulturelle Entwicklung dieser Jahre möglich machte. Seit die Separatisten der ETA ihre Attentate eingestellt haben, kam der internationale Tourismus zurück an die La Concha-Bucht.
San Sebastián und Donostia. Zwei Namen, eine Bedeutung. Das baskische Donostia und das spanische San Sebastián ehren den Heiligen Sebastian, den die Stadt im Namen führt. Done und San bedeuten Heiliger oder als Titel Sankt. Den Titel Done, vom lateinischen domine, Herr, stellen die Basken dem Namen von Heiligen voran: Donejakue, Heiliger Jakobus. Die baskische Inschrift auf den hölzernen Wegweisern, Donejakue Bidea, auch wenn es auf mich geheimnisvoller wirkt, bedeutet dennoch nur Jakobsweg, spanisch Camino de Santiago.

Über Pisten, Treppen und Straßen mühe ich mich in die steile Bucht hinab. Zuletzt nur noch humpelnd, aber glücklich, setze ich mich auf die erstbeste Bank am Strand. Während ich langsam meine Gefühle ordne, schaue ich dem Strom skeptisch blickender Menschen zu, der an diesem Samstagnachmittag an mir vorbeiflaniert. Nur gelegentlich mischt sich ein anderer Pilger in die Menge. Pilger wirken auf der eleganten Strandpromenade von San Sebastián sonderbar und fremd. In ihrem exotischen Outfit, mit dem oft viel zu schweren Rucksack auf ihrem Schultern, erinnern sie mich an Schnecken, die ihr Haus mit allen ihren Habseligkeiten mit sich schleppen. Der helle Schein der fast senkrecht stehenden Sonne macht sie schattenlos, wie sie in der unsichtbaren Blase ihrer Aura durch die Menge gehen, die ihnen, wenn überhaupt, nur irritierte, seltsam distanzierte Blicke schenkt. Ein Pilger gehört nicht dazu. Er geht mitten zwischen den Spaziergängern, Joggern und Flaneuren hindurch. Ihn umgibt eine Hülle der Unsichtbarkeit, die niemand mit dem Blick berühren mag. Um mich herum herrscht ein Gewimmel von Menschen, die allen möglichen Aktivitäten nachgehen, doch niemand scheint mich zu sehen, niemand schaut mich an. Und wenn, dann ist es nur ein flüchtiger Blick, schüchtern verschämt, als ob man nicht dabei ertappt werden möchte, den Blick, wenn auch nur kurz, in ein unbestimmtes Anderes zu werfen. Ich fühle mich fremd in der Menschenmenge: ein Außenseiter, ein Pilger, ein Nomade, immer schon ein Fremder in der Welt der Sesshaften und ihren Alltäglichkeiten. Zum ersten Mal verstehe ich, wie grauenhaft es sich für meine Mitmenschen anfühlen muss, so lange, und ohne die gewohnten Segnungen des Konsums wochenlang allein durch unbekanntes Gelände zu Fuß zu gehen. Selbst in Europa, wo die nächste Siedlung selten fern ist. Nur zu Fuß! So verlangt es das Ritual. In Spanien ist der Pilger der Peregrino, vom lateinischen peregrinus abgeleitet, der Fremde. Er ist derjenige, der per agrum, über Land kommt, von jenseits des ager romanus, der kein Mitglied der römischen Welt ist. Er ist ein Fremdling, suspekt und selten willkommen, da sich auch Gauner und Betrüger des Pilgerstatus bedienen.
Hoch über Donostia wacht auf dem grünen Monte Urgull eine zwölf Meter hohe Christus-Statue, die das Stadtbild dominiert. Der Berg ist bewaldet und bildet die Spitze einer Landzunge zwischen der La Concha-Bucht im Westen und der Mündung des Urumea im Osten. Der Monte Urgull ist die Lunge der Stadt. Der Aufstieg lohnt nicht nur wegen des Ausblicks über die Altstadt von San Sebastián. Der Gipfel ist ein eigentümlich faszinierender Ort, an dem sich die Natur ungestört ausbreiten kann. Es sind die zahlreichen Pflanzen, das überall wuchernde Efeu und das Moos, die dem Ort seine grün schillernde Magie verleihen, ideal für Stunden der Ruhe und Kontemplation, bevor der Weg zurück auf den Donejakue Bidea führt. Wer es lieber intellektuell mag, dem bieten die ehemaligen Baracken aus dem 18. Jahrhundert einen Exkurs für Stadtgeschichte, der die historische Entwicklung San Sebastiáns präsentiert. Auch für den Gourmet ist bestens gesorgt. Mit sechzehn Michelin-Sternen prämiert, schmückt sich Donostia mit dem Attribut Gastronomie-Welthauptstadt zu sein. Eine Pintxos-Tour durch die Altstadt ist ein kulinarisches Highlight, denn die Pintxos von Donostia sind unvergleichlich. Pintxos, spanisch Pinchos, sind eine veredelte Tapa-Version, kleine, kalte oder warme Portionen unterschiedlicher Fisch-, Fleisch- oder Gemüsearten, meist auf einer kleinen Weißbrotscheibe arrangiert, ein Happen also, der gut zu einem Glas Wein oder Bier passt, die in keiner baskischen Bar fehlen. Schmackhaft und geradezu ideal für das schmale Budget des Pilgers.
Nicht weit entfernt von der Strandpromenade wuchert ein Neubaugebiet über den Berghang. Zwischen den schmucklosen Fassaden der Mehrfamilienhäuser klettere ich zahllose Stufen den Hang hinauf. Durch einen Vorort und auf einem Waldweg zur nächsten spektakulären Aussicht auf die Stadt. Es ist ein erhabenes Gefühl, von oben auf die Welt herabzublicken, entrückt und herausgehoben zu sein aus all dem vielen Einerlei, das die Menschen beschäftigt, und mich im Getriebe meiner Welt daran hindert, innezuhalten, hinzuhören, zu sehen und zu spüren. Über San Sebastián fühlt sich die Welt anders an. In dem modernen, wohlhabend wirkenden Vorort Igeldo treffe ich auf eine Wohltat meines ersten Trail Angel. Ein Pilgerfreund hat im Schatten einer Mauer einen Stand mit Erfrischungen, einem Gästebuch und einem Stempel aufgebaut. Und einen Sitz für mein schmerzendes Knie. Kaum eine Minute sitze ich auf dem Stuhl, als ich die Nässe spüre, die der Regen der letzten Nacht im Polster hinterlassen hat.
Aus der Bucht, an die sich San Sebastián wie ein Liebhaber an seine Braut schmiegt, führt der Küstenweg steil hinauf in die baskischen Berge. Der malerische Kontrast von Berg und Meer, von Blau, Grün und Braun, durch die sich der Küstenweg schlängelt, drückt der baskischen Landschaft einen farbigen Stempel auf. Die Städte, durch die der Weg führt, liegen unten am Meer, an einem langen Strand oder in einer Flussmündung, die eine breite Schlucht geschaffen hat. Die Ortschaften liegen in einer Schlucht, fast ein Fjord, die die Ría auf ihrem Weg in den Atlantik gegraben hat, umgeben von hohen Bergen. Hinein und wieder hinaus führen steile Pfade und Straßen. Manchmal ist der Küstenweg ein schattiger Waldweg, ein Pfad entlang der Steilküste, aber auch eine kilometerlange Nebenstraße durch eine Neubausiedlung. Ich humpele bergauf und bergab, über Geröll und Felsbrocken, die aus dem Weg ragen wie abgebrochene Zähne. Oben angekommen, begrüßt mich jedes Mal die tiefblaue, vom milden Wind sanft gekräuselte Biskaya. Der in der Mittagssonne strahlende Atlantik breitet sich unter mir aus wie die Textur einer weich fließenden Samtrobe.

Als Karla und ich am späten Nachmittag in Orio eintreffen sind die zwanzig Betten der Herberge San Martin belegt. Karla, die nach einer langen Wanderung unter einer heißen Sonne auf schwierigen Pfaden erschöpfter ist als ich, reagiert frustriert und aggressiv, weil junge Männer, die morgens telefonisch ein Bett reserviert haben, laut schwadronierend auf der Terrasse sitzen und kühles Bier trinken. Niemand kommt auf die Idee, einer 78jährigen Frau sein Bett zu überlassen. Ich setze mich in einen der Sessel, genehmige mir ebenfalls eins der kühlen Biere aus dem Automaten, und rege mich erst gar nicht über etwas auf, das nicht zu ändern ist. Während sich Karla kaum auf den Beinen halten kann, sehen wir, dass in dieser Herberge auch Radpilger bevorzugt werden. Am Morgen ein Bett für den Abend zu reservieren, auf diesen Gedanken bin ich nicht gekommen. In diesem Moment bricht für mich das erste Stück des Pilgermythos ab, die in der einschlägigen Literatur berichtet und verbreitet wird: Reservieren ist nicht möglich; Radpilger müssen warten, bis alle Fußpilger angekommen sind. Erst dann bekommen sie ihr Bett. Aber das gilt, wie ich nun höre, nur für die öffentlichen Pilgerherbergen. Die privaten Herbergen sind touristische Pensionen.
Bis zur nächsten Herberge, auf dem Campingplatz Gran Camping in Zarautz, sind es weitere acht Kilometer. Am Ende des zweiten Tages, und nach über zwanzig bereits zurückgelegten Kilometern, eine lange Wegstrecke. Doch der Jakobsweg, besagt ein anderes Klischee, sorgt für seine Kinder. Die Hospitalera reserviert für uns in der Pilgeretage des Gran Camping und bittet einen Freund, uns hinzufahren. Im Dachboden eines Lagerraums stehen sieben Etagenbetten. Als wir eintreffen, sind sie fast alle belegt. Ein Waschraum und ein großer, luftiger Aufenthaltsraum komplettieren unsere Unterkunft. Besser kann es nicht kommen. Spät am Abend trifft auch Irina ein, mit geblümtem Kleid und schwerem Rucksack, und verschwindet sofort ins Bett. Ich genieße es, am Ende des Tages nicht weiter gehen zu müssen.


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