Berducedo ist eine von siebzehn Parroquias, eine der kleinen administrativen Verwaltungseinheiten und Kirchengemeinden unterhalb der Gemeindeebene (municipio), ähnlich einer Pfarrei oder einem Kirchspiel. Das Dorf duckt sich tief in eine Senke zwischen zwei Gipfel. Die beiden antiken Pilgerherbergen, Hospital de Fonfaraón am nordöstlichen und Hospital de Buspol am südwestlichen Pol, geben der Landschaft das Gepränge einer Halfpipe, die besser zu Fuß als mit einem Skateboard zu durchqueren ist. Berducedo bildet den ruhenden Pol zwischen den Berggraten, eine Atempause für den Wanderer, bevor es wieder aufwärts geht. In Berducedo nimmt die Wanderung durch eine außergewöhnliche Bergwelt für eine Weile ein Ende. Erst in Buspol beginnt der nächste steile Aufstieg, noch einmal hoch auf über tausend Meter, der viel zu schnell ins Tal des Navía führt, achthundert Meter hinab an einen langgestreckten See; ein Fußabdruck, den ein Riese in längst vergangenen Tagen in die Berge getreten hat.
Die Nacht im Schlafsaal des Casa Marqués war unruhig. Obwohl ich müde war, schlief ich schlecht und wachte immer wieder auf. Mich hielten eine anhaltende Freude und Reste der Endorphine wach, die immer noch in meinen Adern kreisten. Meine Begeisterung für die Bergwelt Asturiens lag mir im Gemüt. In den Betten gegenüber lagen zwei Schnarcher eng nebeneinander. Auf der Bühne der Nacht gaben sie eine beeindruckende Vorstellung. Sie schnarchten ein Duett, kein Duell, als hätten sie es einstudiert. Einer der beiden schnarchte laut und kräftig akzentuiert, dunkle Basstöne, die rumpelnd dem geöffneten Mund entwichen. Sein Partner hielt sanft dagegen, antwortete ihm in einer zärtlich pfeifenden Melodie, die in ihren letzten Tönen leicht quietschte. Er sorgte für leise Zwischentöne, die den Bass seines Bettnachbarn untermalten.
Der Morgen ist ungemütlich nass. Gestern Abend war die Bar der Herberge noch lange geöffnet. Jetzt ist sie geschlossen. Heißes spendet ein Automat, der in der engen Küche auf einer Anrichte steht. Zum Frühstück nur eine Pfütze dünnen Milchkaffee, auf der Zentimeter hoch künstlicher Schaum steht. Nach dem Aufstehen wirkt Coffein auf mich, wie der Mond auf die Erde. Er bringt mein Blut in Wallung wie der irdische Trabant das Wasser des Ozeans bewegt; nur dieses Mal nicht. Schnell schlüpfe ich in meine feuchten Schuhe und breche ohne Frühstück auf. Während ich die Schuhriemen festschnüre, beginnt es zu regnen. Wolkennester aus nebeligen Schleiern treiben durch Berdocedu wie gestern durch Campiello. Es nieselt zaghaft, aber ausreichend, um mich in feuchte Kälte einzuhüllen. Es klingt absurd, doch es ist nass und schön. Der Regen schadet meiner Laune nicht. Die Hospitales-Euphorie wirkt nachhaltig. Noch fühle ich mich gemütlich in der Nässe, noch hält mich meine Regenkleidung trocken. Ich schlendere durch Berducedo und hoch hinaus in eine Heidelandschaft mit weiten, atemberaubenden Ausblicken. Lichte Haine glänzen dunkelgrün im matten Licht eines bedeckten Himmels. Ohne Eile wandere ich auf schmalen, unbefestigten Pfaden, die langsam immer höher führen, bis der Weg auf eine einsame Landstraße mündet, die sich an eine Bergflanke schmiegt. Niedrig treiben Wolkenschwaden durch die Täler, was der Landschaft einen verwunschenen Charakter verleiht. Was sich im Nebel verbirgt, ist schwer auszumachen. Es ist Zeit, Mathias Claudius zu zitieren: Der Wald steht schwarz und schweiget / Und aus den Wiesen steiget / Der weiße Nebel wunderbar. In der Ferne leuchten wieder farbige Flecken im feuchten Grün; andere Pilger, regensicher in ihre Capes gehüllt. Ich warte am Straßenrand und schaue dem zarten Dunst zu, ein dünnes, fließendes Gespinst in Grau, das in auseinandergezogenen Schlieren durch die Luft schwebt. Im zarten Schleier materialisieren sich Engelwesen, tanzen leichtfüßig im Wind, lösen sich wieder auf, um gleich aufs Neue zu erscheinen. Sie necken mich, locken mich in ihre feuchte Welt und flüstern von Versprechen, die sie nicht halten werden. Nur einen Augenblick. Dann löst der Spuk sich auf, und ich stehe überrascht im Nieselregen. Später sitze ich auf einer bemoosten Klostermauer im kleinen La Mesa, unter einer Sonne, die sich noch nicht sicher ist, soll sie bleiben oder nicht, und frühstücke den restlichen Proviant: Kekse und Wasser. Es ist schwer vorstellbar, dass Fußreisen andere Prioritäten setzen; mit wenig zufrieden zu sein, in widrigen Umständen. Ich warte auf der Mauer, bis die Sonne sich entschieden hat. Grüßend ziehen Pilger vorüber. Zwei allzu eilige biegen an der Mauer ab, und kehren um, als sie merken, dass ihnen keiner folgt. Der einladende Weg ist keine Alternative zum Asphalt der Landstraße, die hinauf nach Buspol führt. Er steht unter Wasser, das das Gras verbirgt. Allmählich wird es ruhiger auf dem Weg, und ich blicke den Pilgern hinterher, die nacheinander auf dem grauen Band verschwinden. Azyklisch zu wandern, bringt die Lösung für vieles. Auch im Strom alltäglicher Konventionen finden sich häufig Inseln oder Nischen, die inspirierende Freiräume für eine eigene, selbstbestimmte Inszenierung bereithalten. Die Strahlen der Sonne bieten den Wolken Paroli. Die Feuchtigkeit verdunstet in der warmen Luft, und die Sonne setzt sich schließlich durch. Der Himmel ist zu falschen Zeit blau angemalt. Als ich mich wieder auf den Weg mache, liegt die lange, steil ansteigende Landstraße schattenlos im warmen Licht der Sonne. Nach und nach ziehe ich aus, was auszuziehen möglich ist. Oben angekommen empfängt mich ein kalter Wind, der böig über die Höhe fegt. Er klatscht auf meine nackte Haut und kühlt mich ab, bevor die Sonne meine schweißnasse Haut trocknen kann. Fröstelnd biege ich von der Landstraße auf einen kleinen Feldweg nach Buspol ab: ein Bauernhof auf einem Geländesporn, hoch über dem Stausee von Grandas de Salime. Ein schmaler Graspfad schlängelt sich vorbei an alten Gemäuern, übereinander geschichtete Schieferplatten, eine schweigende, blauschwarze Präsenz, faszinierend altertümlich. Ein mittelalterliches Gehöft, ein verträumter Ort, der von vergangenen Zeiten flüstert. Die Gebäude stammen aus dem 12. Jahrhundert, und waren Herberge und Hospital für die durchkommenden Pilger. Das moderne Villar de Buspol liegt nur einen Kilometer weit entfernt vom Jakobsweg. Ein paar Schritte weiter, ganz am Rand des Sporns, steht eine kleine historische Kapelle, Transitheiligtum und Zeuge der Jakobuswallfahrt. Buspol ist ein besonderer Ort, einer der vielen, die in der Landschaft am Camino de Santiago, die reich an solchen Kraftorten ist, bis heute existieren. Hoch über der Landschaft sitze ich auf der Mauer dieser ehrwürdigen Kapelle vor einer ausgedehnten Bergkulisse, und lasse meine Beine in den Abgrund baumeln: Hügelkette auf Hügelkette, die tiefe Täler gliedern, in denen noch der Rest des Nebels hängt; die fernsten Berge sind bereits Galicien. Jenseits der Mauer stürzt der Camino Primitivo steil hinunter zwischen zerbrochenen Schiefer und blühendes Heidekraut. Der Hang ist schwer begehbar, meist überwachsen und kaum sichtbar. Zwei Pilger kreuzen zickzackgehend, sich steile, steinige Serpentinen tretend, den kargen, baumlosen Berghang weit unter mir. Auch der Berg hat sich verändert. Der grauweiße Fels, der bisher überall durch den Boden brach, ist geschichtetem, in der Sonne schwarz glänzendem Schiefer gewichen. Auf halber Höhe beginnt eine flache und natürlich wirkende Treppe aus gebrochenen Schieferplatten. Die ersten Sträucher und verkrüppelten Bäume wachsen auf der noch immer kahlen Heide. Schrittweise wird die Vegetation üppiger, bis der unbeständige Bergpfad auf einem breiten Forstweg unter Fichten endet. Die komfortable Piste führt in rotbraunes Zwielicht. Sie ist ein künstlich angelegter Weg, der eng an der Kante des senkrecht aufragenden Berges krängt. Der Wald ist kilometerweit verbrannt. Vielleicht bilde ich es mir ein, doch ein Brandgeruch zieht durch den Wald, den tote Stämme in die Sonne dünsten. Überall, ins Tal hinab und auf den Berghang hinauf, nur angekohlte und verbrannte Bäume. Brandnarben in der Landschaft, die Baumstämme ihr totes Gebein. Nichts mehr ist grün auf diesem Berg. Nadeln, Äste, Zweige und Stämme sind rotbraun gefärbt. Sie geben dem Nadelwald um mich herum eine herbstliche Note, in einem Wald, der sein grünes Kleid auch im Winter trägt. Wo es grün sein sollte, ist es jetzt fuchsbraun. Käme Reinicke um die Ecke, er fände die perfekte Tarnung, gäbe er auf die weiße Spitze seiner Rute acht. Zwischen all dem Braun kontrastiert schwarzer Schiefer, das Unterholz ist verschwunden. An dürren Ästen hängen rotbraun trockene Nadeln. In einer dichten Schicht bedecken sie den Boden, der unter meinen Schritten sachte federt. Steil ist der Abstieg an den Stausee, dessen sonnenbeschienenes Wasser zwischen den Bäumen flimmert. Aus flachen Schieferplatten haben Pilger eine Pyramide aufgeschichtet, um ihr manch eine Sorge zu überlassen. Der Blick hinab durch den verbrannten Wald versetzt den Wanderer in das Miniatur-Alaska eines Hollywood-Western. Ich versuche bremsend abzusteigen, langsamer, als der fallende Weg es zulässt. Doch der zieht mich unvermeidlich abwärts, und ignoriert das Tasten meiner Stöcke. Unwillig passe ich mich dem schnellen Laufschritt an und eile in weiten Schleifen und spitzen Winkeln den Forstweg hinab. Obwohl ich schon lange abwärts wandere, rückt der Stausee nur langsam näher. Noch immer liegt er tiefer unter mir als ich mir wünsche. Bevor der halbe Abstieg hinter mir liegt, beklagen sich Knie und Hüften über die harten Stöße. Die bizarre Schönheit des rotbraun verbrannten Waldes, die Stille fehlender Vögel, der Geruch nach kaltem Rauch, nicht nach duftendem Harz, der viel zu weiche Waldboden, die Aussicht auf den Stausee am Fuß des Bergs und der quälende Schmerz in den Gelenken fühlt sich immer irrealer an, je tiefer ich wandere. Eine eigenartige Stimmung, ein fragiler Friede, durch einen Brand verstört. Mitten im Nirgendwo telefoniere ich nach Hause, gedrängt mich mitzuteilen. Das Mobilfunknetz ist unerwartet einwandfrei. Wie merkwürdig und gleichzeitig perfekt diese Situation ist. Nach stundenlangem einsamem Wandern sitze ich auf den weichen Nadeln des verbrannten Waldes in der Sonne und führe ein erfreuliches Ferngespräch.
Am Fuß des Bergs biegt der abschüssige Forstweg auf einen schmalen Pfad ab, an dessen Rändern nur vereinzelte verbrannte Bäume stehen. Der Wald wird immer grüner. Ein kleiner Sprung über einen Graben, und ich bin auf der nächsten Landstraße angekommen. Weit unten steht ein eckiges Gebäude aus Bruchsteinmauern hoch über dem Fluss, in dem ein Pilger nach dem anderen verschwindet; eine Aussichtskanzel über dem Stausee, hoch über dem Rinnsal, das von dem aufgestauten Navía übrigblieb. Am anderen Ufer haust die Ruine eines aufgegebenen Bergwerks auf dem Hang, auf dessen Schienen Loren rosten. Die Szenerie beherrscht der Stausee Embalse de Salime mit einer gigantischen Staumauer. Das gestaute Wasser bedeckt eine Fläche von fast siebenhundert Hektar. Ich erkundige mich vergeblich, was und wen die steigenden Fluten einst von hier vertrieben haben. Doch niemand weiß Bescheid und kann mir etwas sagen. Jeder staunt und fotografiert den in der Sonne blau schimmernden See, der seit über sechzig Jahren die Landschaft prägt. Weit hinten, am anderen Ende des Sees, schimmern die weißen Gebäude des Hotels Las Grandas in der Nachmittagssonne. Ich werde bleiben und dort die Nacht verbringen, mit Blick auf den See und auf den Berghang mit seiner verbrannten Flanke. Ausgehungert sitze ich mit Harald und Bianca auf der Terrasse, die bereits eingetroffen sind, und bekomme das erste Mahl des Tages. Wir teilen uns ein Vierbettzimmer, in das am späten Abend noch ein Pilger einzieht. Erstaunlich, dass er es trotz der Enge schafft, nur ein paar Worte mit uns zu wechseln.
Der Weg vom Hotel Las Grandas in das verschlafene Grandas de Salime und von dort nach Castro beträgt kaum mehr als zehn Kilometer. Ein sonniger Spaziergang, so hoffe ich, und eine erholsame Etappe, bevor mich der Camino Primitivo ein letztes Mal auf tausend Höhenmeter bringt. Früh morgens brechen wir getrennt nach Grandas de Salime auf, über unangenehme Asphaltkilometer in ein reizendes Städtchen im spanischen Stil. Die Straßen sind noch leer, kaum Autos sind unterwegs. Die romanische Kirche am zentralen Dorfplatz hat die Durchgangsstraße an den Rand gedrängt. Einst gab es ein Colegiata de El Salvador und eine Pilgerherberge am Jakobsweg. Das Museo Etnográfico de Grandas de Salime, das asturisches Alltagsleben und Kunsthandwerk ausstellt, ist leider geschlossen. Die Straßen und kleinen Gassen, die Bars, vor denen Tische und Stühle in der Sonne stehen, wirken aus der Zeit gefallen und bieten Atmosphären für den Bohemien. Doch das ist lange her. Noch immer ist die Viehwirtschaft der lohnendste Wirtschaftszweig, und mit über fünfzig Prozent auch der profitabelste. Unterschiedliche Industriezweige, Einzelhandel und Tourismus bilden, wie mittlerweile überall in den kleinen Ortschaften entlang des Camino Primitivo, expandierende Einnahmequellen. Fast überall hat die Präsenz der Discounter die kleinen Läden, die es früher überall gab, inzwischen fast verdrängt. Fast, denn in Grandas de Salima hat ein Tante-Emma-Laden überlebt, der meinen Proviant für den Tag sichert. Das Angebot ist schmal, doch für einen Wanderer ausreichend: Mineralwasser, Bananen und Nüsse, ein paar Scheiben Käse. Es ist unglaublich, wie niedrig die Lebenshaltungskosten entlang des Jakobswegs noch sind. Wie überall sind auch in Grandas de Salime die Bars am frühen Morgen schon geöffnet, und auf hungrige Gäste vorbereitet. Spanier lieben es, morgens vor der Arbeit noch kurz in eine der Bars einzukehren, auf einen schnellen Kaffee, auf einen kurzen Plausch. Ohne lange zu zögern, entere ich die gegenüberliegende Bar. El Centro, ein großer verspiegelter Raum, in dem die wenigen Gäste fast verschwinden. Der Pfarrer der Iglesia parroquial de San Salvador sitzt mit einer Tasse Kaffee und El País, der größten Tageszeitung des Landes, am Tresen. Er vermutet zurecht einen Pilger in mir, und begrüßt mich freundlich, erzählt mir, was ich wissen will. Von ihm erfahre ich es endlich: Die Stadt hat in den letzten fünfzig Jahren zwei Drittel seiner Einwohner eingebüßt. Für den Bau des Stausees wurden über zweitausend Menschen umgesiedelt. Genüsslich grinsend erzählt er mir auch, dass im El Centro der Mann beim Frühstück verhaftet wurde, der 2015 eine Pilgerin in Astorga ermordet hat. Doch er ist in Eile, eine Taufe wartet, und schon sitze ich allein beim Frühstück. Als ich weitergehe, ist es warm geworden. Die Sonne lacht von einem wolkenlosen Himmel, gerade richtig für Steve Marriotts Lazy Afternoon; ohne Sinn für kommende Sorgen. Einfach die Augen schließen und abheben.
Bis nach Castro ist es nur ein Katzensprung. Ein schneller kalter Drink in einem kleinen Laden an der Landstraße. Die alte Frau, die hier ausharrt, meint, ich müsse unbedingt ihren Pilgerstempel haben. Alle wollen ihn, sagt sie mit verschwörerischer Miene. Ich lehne höflich ab, doch als ich draußen vor der Tür mit meiner Limonade sitze, verfolgt mich ihr enttäuschter Blick. Als sie mir dann doch ihren schönen Stempel in meinen Credenzial drücken kann, lächelt sie zufrieden wie Kind, dem ein Geschenk gemacht wurde. Über schmale Feldwege, vorbei an Viehweiden und zwischen Hecken hindurch, erreiche ich die nächste Landstraße. Ein paar hundert Meter entfernt liegt die Jugendherberge von Castro am Hang in der Sonne. Wer in Castro oder in der Umgebung nach einer Burgruine sucht, sieht sich enttäuscht. Nirgendwo gibt es einen Hügel, von dem die Reste einer trutzigen Festung weit über das Land ragen. Ich rätsele, warum der Ort so heißt, denn das spanische castro bedeutet Burgruine.
Bianca hat gestern für mich ein Bett reserviert. Ich kann mir heute Zeit nehmen. Pilgern und reservieren, ich bin noch immer skeptisch, passt irgendwie nicht zusammen. Geht es nicht darum, ein tiefsitzendes Sicherheitsbedürfnis loszulassen, darauf zu vertrauen, dass irgendetwas immer geht? Ich habe in den letzten Wochen keine schlechten Erfahrungen damit gemacht, kleinliche Sorgen loszulassen. Heißt es nicht, der Jakobsweg sorgt für dich? In den vielen Wochen, die ich unterwegs bin, war eine Herberge erst zweimal ausgebucht. Obwohl die beiden Jakobswege mit Pilgern überfüllt waren, und die Herbergen schnell ausgebucht sind, habe ich bisher immer Glück gehabt. Um die einhundertfünfzig Pilger, schätze ich, brechen täglich mit mir zusammen nach Santiago de Compostela auf. Die Konkurrenz um die knappe Ressource Bett ist groß. Viel zu oft lasse ich mich noch anstecken, und gerate in den Sog der Bettenangst, versuche, nicht nachzugeben, mich zu distanzieren. Das abendliche Gespräch kreist immer um dieses Thema, die Handys werden gezückt, es wird reserviert. Es fällt schwer, Ohren und Gefühle zu verschließen. Wenn es um leibliche Bedürfnisse und Komfort geht, wird die Grenze zwischen Pilger und Tourist überschritten. Das sichere Bett am Ende des Tages sorgt immer für ein entspanntes Wandern.
Die Albergue Juvenil de Casto befindet sich gleich hinter dem Ortseingang, in einem modern renovierten, einstöckigen Gebäude aus Bruchsteinen, an das eine große Wiese anschließt. Eine gut ausgestattete Küche im Erdgeschoss und ein Kiosk hinter dem Haus mit kalten Getränken sorgen für einen gastlichen Empfang. Die beiden Frauen, die die Herberge betreuen, tragen Platten mit landestypischen Spezialitäten hinaus in den Kiosk. Kalte Getränke aus einem Automat löschen den ersten Durst. Als ich ankomme sitzt Bianca in einem der Gartenstühle in der Sonne. Ich beziehe mein Bett, wasche meine durchgeschwitzte Kleidung und genieße den Müßiggang des Mittags. Später treffen zwei Pilger ein, die ich in Grandas de Salime um eine Ecke verschwinden sah. Auf der Steigung an der Kapelle der Heiligen Carmen haben wir uns kennengelernt. Konrad und Renate, zwei Senioren aus der Nähe von München, sind geübte Bergwanderer, inzwischen in die Jahre gekommen. Konrad schleppt sich die Steigung hinauf, denn seine Arthrose in den Kniegelenken halten die Anstrengung des Wegs gerade noch aus. Während seine Frau einen schweren Rucksack trägt, lässt er seinen von Herberge zu Herberge transportieren. „Das ist mühsam,“ sagt er, „ich muss dem Fahrer jeden Morgen sagen, in welche Herberge er meinen Rucksack bringen soll, und kann mir die Herberge am Nachmittag nicht mehr aussuchen.“ Dennoch sind beide gut gelaunt, sagen, sie kennen ihre Grenzen und haben einen guten gemeinsamen Rhythmus gefunden. „Wir gehen langsam.“ sagt mir Renate, und Konrad nickt bestätigend. „Das Schlimmste ist, sich von den Jungen anstecken zu lassen, um sich etwas zu beweisen.“ Mir wird erneut bewusst, dass der eigene Rhythmus das Geheimnis des Wanderns ist. Dann ist der Weg für niemanden zu schwer und jeder kann den Camino de Santiago gehen.
In Castro habe ich meine Wanderung wegen der Keltiberer unterbrochen. Alle reden von El Castro, einer Burg. Wie sich herausstellt, ist Chao Samartín keine Burg, sondern der Rest einer Siedlung auf einem leicht ansteigenden Gelände am Ortsrand von Castro. In der spanischen Frühgeschichte sind diese Siedlungen als Castros bekannt, abgeleitet vom lateinischen castrum, Festung oder Burg. Keine zweihundert Meter vom Zentrum des kleinen Dorfes entfernt, inmitten der Viehweiden, liegt ein befestigter Siedlungsplatz aus der Bronzezeit, der vor fast dreitausend Jahren erstmals bewohnt wurde. Auf einem benachbarten Hügel, oberhalb des konservierten Grabungsareals, präsentiert das dieser Siedlung gewidmete Museo Castro de Chao Samartín die gefundenen Artefakte in ihrem kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext: Werkzeuge und Waffen aus Bronze und Eisen, Keramiken, Münzen und Schmuck sowie vereinzelte Knochenfunde. Chao Samartín gehört zu den wichtigen archäologischen Stätten der bronzezeitlichen Castro-Kultur im Nordwesten der iberischen Halbinsel. Seit dem neunten vorchristlichen Jahrhundert breitete sich diese Kultur in Asturien, Galizien und im nördlichen Portugal aus. Die Träger der Castro-Kultur lebten hier bis in die römische Kaiserzeit des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Die Archäologie bezeichnet Siedlungen wie die in Castro als oppida, stadtartige Strukturen mit einer regelmäßigen Innenbebauung, die mit einer umlaufenden Mauer befestigt wurden. Oft besitzen diese Oppida Heiligtümer und Bestattungsplätze mit deponierten Prestigeartikeln und Gegenständen des Alltags sowie Waffen. Die Siedlungen unterhielten Handelsbeziehungen, betrieben handwerkliche Betriebe und eine städtische Administration. Das moderne Museum, ein einstöckiger Bungalow, ist verwaist. In der Mittagshitze sind die kühlen Räume des Museums der beste Ort weit und breit. Keine anderen Besucher interessieren sich für die auf zwei Etagen ausgestellten und erläuterten Exponate. Ich bin der einzige Besucher, und die ehrenamtliche Mitarbeiterin gewährt mir als Pilger kostenlosen Eintritt. Ich habe sie für mich allein, und sie ist erfreut, in mir einen interessierten Besucher getroffen zu haben. Die großen Ausstellungsräume sind ruhig und abgeschieden. Carmen führt mich an den Vitrinen vorbei. Ich kann nachfragen und bekomme ausführliche Antworten. Ein Museumsbesuch der besonderen Art. Kein Vergleich mit den überfüllten Museen in den Metropolen der Welt, die zu abgehakten Sehenswürdigkeiten des internationalen Tourismus verkommen sind. Auf dem Weg zurück in den Ort, kommen mir Konrad und Renate auf dem Weg ins Museum entgegen. Ich erzähle ihnen, dass die Museumsmitarbeiterin mir eine Führung durch die Ausgrabung angeboten hat; privatissime. Ein Ausflug in ein Jahrhundert dauernde, bewegte Zeit an einem Ort, der nun Castro heißt, und auf den ersten Blick nichts von seiner Bedeutung ahnen lässt.
Die Ausgrabung des Castro Chao Samartín hat nur einen Teil der Siedlung freigelegt, die aus mangelnden finanziellen Mitteln noch weitgehend unerschlossen ist. Ihre Anfänge reichen in die Bronzezeit zurück, als vor dreitausend Jahren Keltiberer auf einem sechzig Quadratmeter großen Areal eine Gemeinschaftshütte errichteten, und mit einem Graben und einer Palisade umgaben. Am Tor in die Festung deponierten sie einen menschlichen Schädel ohne Unterkiefer, möglicherweise einen Abwehrzauber, magisch-apotropäische Praktiken zum Schutz der Anlage. Der menschliche Schädel, der vielleicht aus einer Opferung stammt, sollte Dämonen fernhalten, Unheil abwenden oder ihre Macht unwirksam machen. Nicht unumstritten vermuten einige Theorien in dieser Struktur eine kultische Anlage, die religiösen Zwecken gedient haben soll. Abseits des Wohnbereichs fanden die Archäologen einen bronzezeitlichen Kultplatz (akropolis) mit nach Westen gerichteten Großsteinen, deren Bedeutung nicht nachgewiesen werden kann. Konrad erinnern sie an ein Observatorium zur Beobachtung des Sonnenlaufs, während der Solistitien, der Sonnenwenden im Frühling und Herbst, wovon es in Westeuropa zahlreiche gibt, die der sogenannten Megalithkultur zugeschrieben werden.
In der asturischen Eisenzeit, vom siebten vorchristlichen Jahrhundert bis in die Römerzeit, entsteht eine neue Form der befestigten Siedlung in einer geostrategisch bedeutenden Region, die vorhandene Ressourcen und Rohstoffe ausbeutet, ihre Verteidigung optimiert und ausgedehnte Kommunikationsnetzwerke aufbaut: das Castro nach dem Vorbild römischer Oppida. Damals muss es in Chao Samartín, wegen des steigenden Wohlstands, zu einer Bevölkerungsexplosion gekommen sein. Die verbesserte Verteidigung der Siedlung bestand in dieser Epoche aus einer Mauer und mehreren Gräben. Der einzige Eingang im Süden führte durch ein befestigtes Tor über einen breiten Wassergraben. Der architektonische Stil der Wohnhäuser ist uneinheitlich, von rechteckigen Gebäuden mit abgerundeten Ecken, wie man sie immer noch bei galicischen Bauernhöfen findet, bis zu kreisförmigen, singulären Konstruktionen, die nur über einen einzigen Raum verfügen. Einzigartig ist daneben die Aufteilung in separate und nebeneinander liegende Wohnmodule. Die Wandreste dieser Häuser bestehen aus Schiefer und Quarzit, das Dach war mit Pflanzenmaterialien gedeckt. Die Bewohner waren Bauern; Speisereste in keramischen Töpfen und Pfannen legen das nahe. Sie verwendeten Werkzeuge aus Kupfer und Eisen und besaßen Gold- und Silberschmuck. Ein römischer Import war die erste Sauna im Ort.
Die Ankunft der Römer in Chao Samartín führte zu wichtigen Veränderungen und Neuheiten. Diese brachten dem Ort eine Zeit des Friedens und des Wohlstands, die den Verteidigungscharakter der Siedlung veränderte. Die Besatzung und Verwaltung der Kolonialmacht lässt sich auch an den ausgegrabenen baulichen Strukturen und importierten Gegenständen ablesen. Offene und überdachte Plätze, ein Forum und Kurhaus sowie gepflasterte Straßen, erweitern die kommunale Infrastruktur der Siedlung. Ein abgetrennter römischer Bereich erweitert das dörfliche Ensemble, zu dem auch ein großes Haus im klassisch römischen Stil gehört: ein Atriumhaus (domus). Die Wohnhäuser sind nun durchgehend in einzelne Räume unterteilt, die Dächer mit Schieferplatten gedeckt. Mehrere Goldminen in der näheren Umgebung wurden erschlossen und ausgebeutet, die den Wohlstand der Bevölkerung weiter steigerte. Die römischen Kolonialbeamten führten Schrift und Währung ein. Dies alles endete, als ein verheerendes Erdbeben im zweiten nachchristlichen Jahrhundert das Dorf zerstörte, das anschließend aufgegeben wurde. Ein spanisches Pompeji. Im Mittelalter, zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert legte man im Bereich des ehemaligen Domus eine christliche Nekropole mit der namengebenden Kapelle San Martín an, in der Männer, Frauen und Kinder bestattet wurden; die letzte archäologisch fassbare Nutzung des Areals.
Als wir von der Grabungsstätte zurück in die Jugendherberge kommen, herrscht im Garten reger Betrieb. Spanische Pilger, zwischen zwanzig und vierzig Jahren, sitzen in Gruppen zusammen, essen, trinken und unterhalten sich lautstark. Schon von weitem hören wir die wie Wellen anbrandenden Gespräche. Die fröhliche Runde zufriedener Pilger hat die besinnliche Ruhe des frühen Nachmittags abgelöst. Wir gesellen uns zu ihnen, trinken gemeinsam Rotwein und lassen einen ereignisreichen Tag ausklingen, während im Garten zwei Zelte aufgebaut werden, denn die Herberge ist ausgebucht. Von den bedeutenden archäologischen Hinterlassenschaften im Ort nimmt niemand von ihnen Notiz. Achtzig Prozent der Gäste sind junge Spanier. Das ferne Ziel lockt sie, die körperliche Herausforderung des Wegs, die Spuren am Wegesrand übersehen sie. An der Grenze nach Galicien ahne ich noch nichts von der Freizeitstimmung, die mich auf den letzten fünfzig Kilometern des Camino Francés erwartet.
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