I think it is how most men get from one day to the next;
they set aside all experiences that do not mesh
with their perceptions of themselves.
How different would our perceptions of reality be
if, instead, we discarded the mundane events that
cannot co-exist with our dreams?
Robin Hobb
Drei nordspanische Städte bilden mein persönliches magisches Dreieck: Oviedo, Ourense und Santiago de Compostela; besonders die Landschaften Asturien und Galicien, in der sie die urbanen Zentren bilden, in die ich immer wieder zukehren will. Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser. Er kann auf jeder beliebigen Seite beginnen, vor- und zurückgehen in Raum und Zeit. Wer durch eine Stadt wandert, da wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen muss, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt. Und mit einer Landschaft verhält es sich nicht anders.
Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als ich 2017 zum ersten Mal auf einem Jakobsweg wanderte, traf ich auf dem Jaizkibel, kurz hinter Irún, Irina aus Moskau. Eine Wanderin wie sie hatte ich noch nie gesehen. Sie ging ein paar Schritte, langsam und bedächtig, blieb dann stehen, schaute sich um und drehte sich dabei fast um die eigene Achse. Dann ging sie noch ein paar Schritte, und das gleiche Spiel wiederholte sich. Ein Tanz auf dem Camino! Ob sie auf diese Weise Santiago erreichte? Ich weiß es nicht, denn schon nach drei Tagen traf ich sie nie mehr wieder. Ich fand ihr Wandern damals seltsam, weil ich nicht verstand, was sie da machte. Heute weiß ich, dass ich zum ersten Mal bewusst jemanden beim Flanieren zusah. Und heute weiß ich auch, dass das auf dem Camino de Santiago eine äußert seltene Begegnung ist.
Als literarische Figur streift der Flaneur durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom durch Straßen und Gassen und über Plätze. Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Sie bieten ihm die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Schon Karl May war der Meinung, dass man auf Reisen am leichtesten lernt, alte Vorurteile abzulegen. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Walter Benjamin vermutet, es heißt nicht viel, sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, […]. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Die Motivation des Flaneurs spiegelt sich im Streifen des Wanderers durch die Natur, weil jener in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Er spürt den Dingen nach, die zu finden nicht offensichtlich sind, will in den Landschaften, durch die er streift, versinken, sich mitunter im Gelände verirren, um unverhofft da wieder aufzutauchen, wo er bewusst nicht hinkommen kann. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten so sehr wie dem flanierenden Fußgänger. Städte und Landschaften werden sich dem Fremden nie vollständig erschließen, weil er die Sprache und Geschichte nicht kennt, fährt Cees Nooteboom fort, weil es gerade die Sprache und die Namen sind, [die] die geheimen Stimmungen, geheimen Orte, geheimen Erinnerungen bewahren. Woraus besteht ein Ort, woraus eine Landschaft? Beide integrieren alles, was sich in ihnen ereignet, gesagt oder nur geträumt und zerstört wurde. Auch aus dem, was in ihnen verschwunden ist, aus den Spuren, die sich nur dem Aufmerksamen, dem Kundigen, dem Archäologen zeigen. Ganz zuletzt bestehen Orte und Landschaften aus Erinnerungen, sind ein Archiv dessen, was sich im Lauf der Zeit in ihnen zugetragen hat. Torbjörn Ekelund hat zwölf Monate in norwegischen Wäldern übernachtet, in jedem Monat des Jahres immer nur eine Nacht. Seinen Bericht über ein Mikroabenteuer im Monat August beginnt er mit einer Reflektion über seine Erlebnisse und Erfahrungen, und fragt sich: Wenn ich an sie denke, erscheinen sie mir eher lexikalisch, wie ein Referat über mein Leben, und sie werden auch nicht jedes Mal aufs Neue durchlebt, wenn sie mir in den Sinn kommen.
Seit sechs Wochen wandere ich auf der Vía de la Plata, die inzwischen in den Camino Sanabrés mündete, immer weiter nordwärts, durch das Herzland Spaniens. Zuerst durch das nördliche Andalusien, wenige Tage nur, die portugiesische Grenze zum Greifen nah, dann die Extremadura, der Länge nach, von Süden nach Norden, durch den Westen Kastiliens, aus der Ebene kommend, höher und höher hinauf. An wie viele von meinen intensiven Erlebnissen werde ich mich zukünftig erinnern? Wenn ich an mein vergangenes Leben zurückdenke, wundere ich mich, wie viel Erlebtes aus diesen reichen Jahrzehnten ich mittlerweile vergessen habe. Mit Alter und Demenz hat das nichts zu tun. Ich weiß, es gab Episoden, an die sich andere erinnern, weil sie zu ihrem, nicht zu meinem Leben gehören. Sie erzählen sie mir und verstehen oft nicht, warum ich sie vergessen konnte. Doch bei mir lösen sie nichts aus, kein Gefühl, keinen Gedanken. Erinnerungen scheinen nicht entstanden zu sein. Am Schreibtisch sitzend, wandere ich meinen Erlebnissen und Erfahrungen auf der Vía de la Plata hinterher. Versuche mich zu erinnern was war, folge einer Spur, mental und emotional. Ich folge meinem Weg aus der Erinnerung, gehe ihn in Gedanken erneut. Ich erinnere mich, spüre nach, fühle ihn, und denke über ihn und mich nach. Ich denke an die Orte und Landschaften, durch die ich gekommen bin, wo ich mich aufgehalten und für einen Moment gelebt habe. Mit allen Sinnen. Die Geografie hält meine Erinnerung lebendig. Sie weckt Gefühle wieder auf. Mit ihnen werden abgelagerte Atmosphären lebendig, Stimmungen wie Sedimente affektiven Betroffenseins, die an diesen Orten entstanden sind. Sie hängen in der Luft wie reifes Obst an Bäumen und Weinstöcken. Meist zum Greifen nah, oft so weit entfernt, sodass ich sie nur mit meinen Fingerspitzen berühren kann. Ich denke an Szenen, die unangetastet von der Zeit und vom Vergessen im Bewusstsein auftauchen, unwillkürlich, ohne mein Zutun. Ich bin es nicht, der entscheidet, was ich erinnere, ganz im Gegenteil: Meine Erinnerungen haben nichts mit meinem Willen zu tun. Mir wird bewusst, dass es nur Splitter der vollen Realität sind, die ich einst durchwandert habe. Ich kann nicht sagen, wie viel mir von den vergangenen Monaten verlorengegangen ist. Vielleicht sind das die wahren Erinnerungen, überlegt Torbjörn Ekelund, die eine bestimmte ausschlaggebende Wirkung auf das Leben des Betroffenen haben. Wir erinnern uns an die Ereignisse, die etwas mit uns zu tun haben, weil sie zu unserem persönlichen Mythos passen.
Bergan finde auf den Camino Sanabrés zurück, unter blauem Himmel, über den ein paar dünne Wolken segeln. Je höher ich steige, desto weniger Bäume versperren mir die Sicht. Eine Heidelandschaft, schon im Frühling trocken, die Hänge mit Sträuchern bewachsen, denen man es ansieht, dass sie lange ohne Wasser auskommen können. Als ich die lila Blüten eines der Sträucher in die Hand nehme, um daran zu riechen, zerbröseln sie vom Druck meiner Finger zu Krümeln. Philipp Fuge teilt mein Gefühl, wenn er schreibt: Nur eins treibt mich um und macht mich rastlos: Die Sehnsucht, wieder loszuziehen. Zurück auf den staubigen Pfad durch die baumlose Heide, zurück zwischen die gelb- und lilablühenden Sträucher zwischen haushohen Felsbrocken, die an Ginster und Heidekraut erinnern, und in denen Gesichter lauern, die sich nur der Fantasie offenbaren. Zurück unter die warm vom Himmel scheinende Sonne, kein Schatten weit und breit. Nach Vilar de Barrio steigt der Camino Sanabrés weiter bergan, hinauf an ein meterhohes Holzkreuz, dann zurück ins Tal, hinunter auf sechshundert Meter, so steil, dass meine Knie ächzen und sich meine Zehen schmerzhaft am Leder der Schuhe reiben. Vilar de Barrio ist ein großes, modernes Dorf, kein Ort, um zu bleiben, und doch übernachte ich in der modernen Herberge, weil sie eine Waschmaschine hat.
Es gibt Tage und es gibt Tage, und keiner gleicht dem anderen. Der von heute und der gestrige haben nichts Gemeinsames. Eine kurze oder eine längere Etappe, ein spanisches Frühstück in der Bar, die schon früh am Morgen geöffnet hat. Manches Mal bin ich der einzige Gast, und die Kaffeemaschine ist noch nicht heiß genug, um einen Milchkaffee zu bekommen. Ein anderes Mal ist die Bar übergefüllt. Männer, die vor Beginn der Arbeit noch schnell auf einen Espresso und ein Plausch vorbeikommen, stehen in Zweierreihen am Tresen. Frauen sehe ich selten in den Bars und denke dabei an arabische Teehäuser. Eine weitere Hinterlassenschaft der maurischen Epoche? Dann gibt es die spektakulären Landschaften, die mich begeistern, die ins Herz greifen, weil sie so berührend sind. Dann wandere ich wieder stundenlang durch Regionen, so monoton und unspektakulär, dass ich freiwillig keinen Fuß in sie setzen würde, und doch bin ich hier. Und es gibt Sonne und Regen, und wieder Regen und Sonne, ein nicht endender Zyklus.
Nach Xunqueira de Almá verläuft sich der Camino Sanabrés kilometerweit in einem grünen Tal, intensiv landwirtschaftlich genutzt, an seinen Rändern von den galicischen Bergen eingeschlossen. Gestern schaute ich auf dieses Tal hinab, heute wandere ich mitten hindurch. Nur einige Kilometer voneinander entfernt, der nächste kleine Ort, keine besondere Struktur, normale Bebauung, international modern, ohne Atmosphäre. Spanisch wirken sie, nur lässt sich an ihnen keine Geschichte ablesen. Ich will hinter die Fassaden schauen und sehen wie sie Menschen in den Häusern leben, wie ihr Leben verläuft. Aber die Häuser sind abweisend, verschlossen, videokamerageschützt. Hinter Gittern, Zäunen oder Mauern, mit heruntergelassenen Jalousien, mit bellenden Hunden, vor allem bellende Hunde, die mich schon von weitem ausmachen, und kläffen, bis ich vorüber bin. Erst dann geben sie Ruhe, und verziehen sich wer weiß wohin. Die Mauern und Zäune sind zu hoch, um zu sehen, wo sie auf den nächsten Passanten lauern. Schilder an den Toren weisen den Passanten auf Kameras mit direktem Draht zur Security hin. Es muss gefährlich sein, in diesen Orten zu leben. Ich nähere mich Ourense, einer Großstadt, und das Land ist dichter besiedelt.
Wieder ist der Weg schnurgerade. Ich kann weder sein Ende noch eine Abzweigung sehen. Er schlängelt sich nicht um Ecken, mäandert nicht durch Wiesen, und ist auch nicht mit trockenem Laub oder Nadeln bedeckt. Das Profil des Wegs ist von schweren Traktorenreifen verdichtet, vom Vieh zugeschissen. Es riecht nicht würzig nach Wald oder duftet nach Kräutern oder Blumen. Das übelriechende Aroma von Gülle liegt in der Luft. Über den gepflügten Feldern hängt vom Eggen aufgewirbelter Staub über dem Krähen schweben. Am Wegesrand stehen die ersten Hórreos, die charakteristischen galicischen, auf Stelzen gebauten Getreidespeicher. Viele sind verfallen, manche zum Wohnen ausgebaut.
Boveda bildet die Ausnahme von der Regel. Gepflegte Bruchsteinarchitektur, enge Gässchen, ein öffentliches Wasserbassin, in dem eine alte Frau ihre Wäsche säubert. Das Wasser ist erfrischend kalt, als ich mein Gesicht wasche, und die Arme bis an die Ellbogen eintauche. Ein kurzer Plausch, von dem keiner von uns beiden viel versteht. Wir lachen, und das reicht uns zur Verständigung. Gegenüber ein Hybrid aus Bar und Kiosk, davor Tische und Stühle in der Sonne. Mit getrocknetem Hemd und gut verpflegt verlasse ich diesen gastlichen Ort.
Jenseits von Padroso verändert der Weg seinen Charakter, wird idyllisch und schlängelt sich durch eine verwunschene Landschaft. Ich würde mich nicht wundern, lauerte ein Kobold hinter einem Busch oder lugte eine Fee um eine Ecke. An einem Wasserloch könnten Undinen ihre Haare waschen. Ob wohl eine Banshee im düster grünen Zwielicht unter den mit Flechten bewachsenen Stämmen der Eichen auf den ahnungslosen Wanderer wartet? Der Weg ist ein Korridor geworden. Von beiden Seiten drängen ihn aus Bruchsteinen aufgeschichtete Mauern zu einem schmalen Pfad zusammen. Nur an einem Wasserbassin, das von einer Quelle gespeist wird, erreicht die Sonne noch den Boden und taucht alles in frisches Frühlingsgrün, dass der Schatten der Bäume bislang verborgen hielt. Die ersten, die Reißaus nehmen, sind die lichtscheuen Banshees, in ihrem Gefolge, ein paar der Kobolde. Im Zentrum dieser Szene, mitten zwischen den anderen, eher schmächtigen Bäumen, die ihr respektvoll Platz machen, steht eine mächtige Eiche, deren Stamm drei Männer nicht umfassen können. In ihrer Majestät macht sie den Eindruck, dass sie schon immer hier residierte. Die Majestät solcher Bäume muss Tolkien zu den Ents, den Hirten des Waldes, inspiriert haben. Die alte Eiche im Korridor von Padroso bleibt nicht das einzige Naturschauspiel des Tages. Wo der Korridor den Wald verlässt, steigt der Weg noch einmal kurz an, kehrt dann zurück auf die gelb und lila blühende Heide. Weit hinein schweift mein Blick in das galicische Mittelgebirge. Gegenüber ähnelt eine gigantische Felsformation dem Profil eines der Riesen, die diese Felsbrocken hier einst zurückgelassen haben. Wäre ich in Australien, würde mein Aborigine-Führer mir jetzt aus der Traumzeit erzählen, denn wie schon im Hochland der Steine, zwischen O Pereiro und O Cañiza, ist auch dieser Landschaft eine Songline eingeprägt. Ich habe niemanden, der mein Staunen teilt, bis Paul und Angela hinter mir aus dem Korridor auftauchen. Der Camino Sanabrés schlängelt sich durch gigantische Felsen, die überall herumliegen, ohne dass es noch einen deutlichen Weg gibt. Es kostet wenig Mühe, und braucht nicht viel Fantasie, um Gestalten und Gesichter in diese großen Steine hineinzuträumen. Auf dem höchsten Punkt liegt eine Plattform, wie geschaffen für einen Rundumblick über diese außergewöhnliche Landschaft. Dann stürzt der Weg steil und steinig in den nächsten waldigen Korridor. Im Wald überholt mich Connor, der in Laza bleiben wollte, um sein entzündetes Fußgelenk zu schonen. Nur einen Tag, erzählt er grinsend, habe er es ausgehalten. Nun ist er auf dem nächsten Gewaltmarsch nach Ourense. Der Ire gehört zu den aktiven Pilgern, die wie Paulo Coelho mit dem Weg kämpfen, ihm ihrem Willen aufzwingen wollen, sich dem Weg gegenüber behaupten müssen, um sich lebendig zu fühlen. Ihre körperlichen Grenzen akzeptieren sie nicht. Ganz anders die passiven Pilger, die sich dem Weg leiblich hingeben, mit ihm verschmelzen, sich dem überlassen, was der Weg ihnen anbietet. Der Weg leitet sie, und sie legen keinen Wert darauf, am Abend als Sieger und Erster in einer der Herbergen einzulaufen um stolz ihre Leistung zu komentieren.
Es wird täglich voller in den Herbergen. Auch die am Ortsrand von Xunqueira de Almá ist wieder voll belegt. Ich kenne kaum jemanden der hier übernachtet. Seit ein paar Tagen werde ich ständig eingeholt und überholt. Morgen Nachmittag bin ich in Ourense, und wenn mein Plan dieses Mal aufgeht, bleibe ich zwei Tage. Ich muss das Problem mit meinem rechten Schuh endlich lösen, denn die Sohle, die der freundliche Schuster vor sieben Tagen in Puebla de Sanbria erneuert hat, löst sich bereits wieder. Nur seine Absätze sitzen felsenfest. Doch was bedeuten Pläne auf einer Fußreise? Sie sind Staub im Wind.
Der Tag, an dem ich nach Ourense aufbreche, ist monoton und langweilig, ohne Abwechslung. Stundenlanges Asphalttreten auf der OU-0102, einer nicht endenden Landstraße, durch Dörfer, denen man die Nähe der Stadt ansieht. Trotzdem schaffe ich es, Ourense ist schon in Sicht, mich in Seixalbo zu verlaufen. Ratlos auf den Gleisen stehend, kommt mir ein alter Mann zur Hilfe, und bringt mich an eine Quelle, die seit achthundert Jahren den durstigen Pilgern Wasser spendet. Ich bin in Ourense angekommen, in einer Großstadt, die mich nach den Wochen einsamer Landschaft aufsaugt wie ein trockener Schwamm.
Mit Entscheidungen hat es manchmal etwas Seltsames auf sich. Plötzlich sind sie da, ohne dass ich mich bewusst für oder gegen etwas entschieden habe. Gestern saß ich im Cafe Granola auf der Praza San Marcial in Ourense und las nichtsahnend im Don Quijote. Heute suche ich in Porto, in regennasser Dämmerung, nach einer Unterkunft. In einem Moment der Unaufmerksamkeit hat sich etwas verändert, was ich innerlich in Gedanken hin und her bewegt habe. In diesem kurzen Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nicht länger auf den Camino Sanabrés nach Santiago de Compostela wandern werde. Wahrscheinlich hatte ich den Ruf des Atlantiks vernommen, der von Ourense nur achtzig Kilometer, eine gute Stunde mit dem Bus, entfernt ist. Spontan entschloss ich mich für Porto um meinen Weg an der Küste fortzusetzen. Am späten Nachmittag war alles zusammen: die Busverbindung nach Porto und der Weg auf den Camino Portugués. Nur der Abschied von Suzanne, Paul und Angela fiel mir schwerer als gedacht. So viel haben wir miteinander verbracht, uns gut verstanden, in den beiden letzten Wochen. Und nun auf einmal: Auf Nimmerwiedersehen. Das Schicksal einer Pilgerfreundschaft.
Gute Tage gehen zu Ende. Ein Nachruf ist fällig: Abschied habe ich auch von meinen ersten Wanderschuhen genommen, die mich fast dreitausend Kilometer über staubige, feuchte, matschige, überschwemmte, rutschige, steinige, steile, abschüssige und asphaltierte Pfade, Wege und Straßen getragen haben. Durch Wiesen und Felder, durch Wälder, Dörfer und Städte, über Hügel und auf Berge hinauf und wieder hinab in weite und tief eingeschnittene Täler, zuletzt, und das hat ihnen wohl den Rest gegeben, durch das nasse und kalte Andalusien sowie die heiße und trockene Meseta Zentralspaniens, durch die Extremadura und Kastilien-Léon. In beiden Schuhen zerriss das Innenfutter an den Fersen, vorne lösten sich die Sohlen, und Absätze waren so flach getreten, dass ich nicht gerade gehen konnte. Die Reparatur in Puebla de Sanabria hat kaum verbessert; nach nur sieben Tagen löste sich bereits die rechte Sohle wieder. Entweder sind die Schuhe eingelaufen, oder meine Füße breitgetreten, denn zuletzt passte mir der rechte Schuh nicht mehr, und Blasen und Hautabschürfungen machten mir zu schaffen. Nun trage ich 35-Euro-Schuhe vom Outdoordiscounter, in Ourense nur zwei kurze Tage eingelaufen; wie werden sie mich tragen - etwas weniger als fünfhundert Kilometer will ich noch gehen. Die alten und vertrauten, am Ende so ausgetretenen, habe ich auf einem Altkleider-Sammelcontainer in Ourense zurückgelassen. Sie warten nun auf eine neue Verwendung - vielleicht haben sie Glück. Ich hatte das Gefühl, als habe ich ein geliebtes Haustier ausgesetzt.
Als ich Ourense am nächsten Morgen auf einem letzten Spaziergang durch die Stadt verlasse, treffe ich Suzanna ein letztes Mal. Ein letzter Milchkaffee, ein letztes gemeinsames Frühstück, bevor sich unsere Wege am Parque San Lazaro endgültig trennen. Wir umarmten uns ein letztes Mal, sagten Buen Camino und bis dann in Santiago, wissend, dass wir uns nie wiedersehen werden. Camino-Freundschaften sind Beziehungen auf Zeit, ungewiss und ohne Zukunft. Was bleibt ist die Erinnerung an einige, mit der Landschaft und dem Weg verschmelzende, gemeinsame Tage.
Laut Online-Recherche fährt mein Bus nach Vigo um 9 Uhr in der Avenida da Habana, vor Haus Nr. 14, ab. Ich komme zeitig an. Ein weiterer Kaffee in Arunda's Cafe - aber: Eine Haltestelle gibt es nicht. Ich frage die Frau, die einen Hauseingang putzt, und sie bestätigt es: Kein Bus fährt von hier nach Vigo, nur vom zentralen Bushof, außerhalb der Stadt. Die Frau ist ein Trail Angel, und das habe ich auch ihr gesagt, worauf sie herzlich lachte. Sie sagt, noch fünf Minuten, packt mich in ihr Auto, und fährt mich hinaus zum Bushof. Mein Camino-Neu Start beginnt glücklich, ich bin zehn Minuten vor Abfahrt des Busses bereit. Im Wartesaal sitzen Paul und Angela und warten auf ihren Bus nach Cea, der erst in anderthalb Stunden abfährt. Unser Abschied scheint nicht so einfach zu gelingen. Wieder ein Hallo, die nächste Wiederholung eines herzlichen Abschieds vom Frühstück, erneut das Bewusstseinm liebgewonnene Menschen nie mehr wiederzusehen. Um neun Uhr sitze ich glücklich im Bus und verlasse Ourense. In Vigo verbringe ich zweieinhalb Stunden im Café des Bushofs, bis der Fernbus A Coruña - Lisboa endlich eintrifft.
Porto versinkt im Regen, als ich Spätnachmittags aus dem Bus steige. Rat- und orientierungslos stehe ich am Bushof, und frage mich: Wohin? Im Regen. Plötzlich habe ich nicht mehr die richtige Sprache, keine Adresse, keinen Stadtplan. Die bekomme ich an der Information am Bushof, und meine Frage nach der Kathedrale, die in Spanien immer hilf, führt nur zu einer ungefähren Antwort. Schließlich ist die Richtung klar, und die Metrolinie, mit der ich in die Nähe der Kathedrale komme. Im strömenden Regen irre durch Portos belebte Straßen. Die Türme der romanischen Kirche sind klein, und tanzen im hügeligen Porto auf und ab, sodass ich sie manchmal sehe, doch im nächsten Moment verbergen sie sich erneut hinter den Häusern. Meine Fragen in Spanisch bleiben ohne Antwort, Englisch versuche ich erst gar nicht.
Schließlich habe ich eine der beiden Herbergen gefunden, auf einem großen Umweg am Río Douro entlang, auf dessen Oberfläche die Regentropfen Kreise malen. Dass ein Bus auf dieser Strecke verkehrt, hat mir niemand in den beiden Touristen-Informationen gesagt. Die Herberge im Seminário de Vilar, Casa Diocesana, ein kleines Steinhaus hinter und einige Meter unterhalb des Seminargebäudes, billig, aber für den Standard noch zu teuer. Ich musste an eine Hundehütte denken, die man etwas abseits vom hochherrschaftlichen Haus unterbringt. Innen klein, beengt und feucht - zwölf Schlafplätze, ein Bad. Immerhin, sagte man mir, darf ich, der Pilger, in der Kantine im Hauptgebäude preiswert essen, und an der Rezeption kostenloses Wi Fi nutzen. Als ich später etwas zu Abend essen wollte, war niemand mehr da, und eine Kantine habe ich keine gefunden.
Zwei deutsche Mädels, gerade Abitur, und ein Italiener, sitzen in der Herberge im Regen fest und warten auf besseres Wetter. Ein kurzer Small Talk - Caminolatein - alles sehr distanziert. Aber erst einmal bin ich im Trockenen, alles andere interessiert mich im Moment nicht. Abends unter der Dusche bücke ich mich ungünstig nach der Seife - ein Schmerz wie ein Stromstoß, und alle meine Pläne rinnen mit dem abgeduschten Schweiß den Abfluss hinab. Hexenschuss! Ein Tag, der so erwartungsvoll und enthusiastisch begann, endet im Dilemma. Dauerregen und ein eingeklemmter Nerv im Ischiosakralgelenk. Doch wäre ich auf dem Camino Sanabrés weitergegangen, nass wäre ich auch dort geworden. Am Abend vermisse ich schmerzlich meine Mitwanderer.
Tagelang bin ich durch das galicische Hinterland gestreift. Durch enge Täler, über Pässe, zwischen 900 und 1000 Meter hoch, und durch kleine, abgelegene Dörfer, denen die Bewohner allmählich ausgehen. Tagsüber war ich allein mit mir und der Landschaft. Doch ich war mir bewusst, dass irgendjemand hinter mir wandert: You never walk alone! Landschaft in Galicien ist zweierlei: Bergwald oder Heide, je nach dem, wie hoch ich gerade unterwegs war. Je höher ich kam, desto weiter reichte mein Blick über aneinandergereihte, sanft geschwungene Hügelketten, die tief eingeschnittene Täler trennten, in deren Sohle Bäche rauschten. Bäume gab es so weit oben nicht mehr viele, aber jetzt, im Frühling, ein Meer von gelb- und lilablühenden Sträuchern. In den Tälern dehnte sich Bergwald aus – Eichen, Kiefern, Kastanien und immer wieder Eukalyptus – die Stämme mit graugrünen Flechten bewachsen, die Pfade schmal zwischen den Bäumen mäandernd oder in Korridoren, die zwischen Steinmauern verliefen, die aus grauen, moosbewachsenen Bruchsteinen aufgetürmt waren. In diesen Wäldern herrscht grün-silbriges Licht, dämmrig, wenn sich die Sonne hinter Wolken verkriecht, leuchtend grün, wenn sie wieder hervorkommt, und ihre Strahlen durch das Blätterdach den Boden treffen. Ein gezähmtes Land sicher, überall vom Eingriff des Menschen gezeichnet, eine Kulturlandschaft, und dennoch schön, mit Einsprengseln von Ursprünglichkeit, die Fantasien wecken, wie das Land einst gewesen sein mag. Ich werde traurig, aber ich wollte unbedingt ans Meer.
Der Nachmittag bleibt trübe und grau, das wenige Licht regenverhangen. Fast stufenlos dämmert es, und elektrische Beleuchtung ersetzt das schwache Sonnenlicht, das eben noch kaum durch Wolkendecke gedrungen ist. Passanten unter Schirmen und Regenkleidung kommen in sich zurückgezogen eilig vorüber, und es ist schwierig, sie nach der Richtung zu fragen. Von einer Kathedrale ist weiter nichts zu sehen. Mehrstöckige Gebäude ringsumher versperren mir die Sicht.
Der Stadtplan ist mittlerweile durchweicht, in den Falten eingerissen und kaum noch lesbar. Ich gehe nach Gefühl, oft falsch, und auf meine Frage nach dem Weg, werde ich in alle möglichen Richtungen geschickt. Meine Sicht ist von Kapuze und nasser Brille eingeschränkt, und unter dem gummierten Poncho läuft mir der Schweiß den Rücken hinab. Inzwischen ist der mittelalterliche Aufruf von der Stadtluft, die frei macht, ad absurdum geführt. Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei, sondern krank, und zwar nicht nur physisch. Die Propheten des Aquarius, des Zeitalters des Wassermanns, verkündeten schon vor Jahrzehnten eine Zeitenwende. WendeZeit nannte Frank Capra Anfang der 1970er Jahre sein programmatisches Buch. Ist sie, von mir unbemerkt, inzwischen eingetreten? Ich erinnere mich fünfzig Jahre zurück, von einem Paradigmenwechsel keine Spur. Dann stelle ich den mittelalterlichen Slogan, nur für mich, eben vom Kopf auf die Füße und behaupte: Landluft macht frei! In einer Zeit urbaner Enge und sozialer Kälte wäre das ein lohnender Paradigmenwechsel. Menschen, die sich aufmachen und zu Fuß durch Landschaften ziehen. Unterwegs treffe ich viele von ihnen - aus aller Welt. Es braucht eine verbindende Idee, wie die Gebeine eines Phantoms, und schon geht es los. Warum sind Gedanken von Konsumverzicht und Frieden zur Rettung unseres Planeten nicht Antrieb genug? Wandern für den Frieden, ohne touristische Infrastruktur, einfach und bescheiden, statt hunderte Kilometer weit in eine Stadt zu gehen, in der die Adepten einen vergoldeten Heiligen anbeten, dem alle Sinne fehlen. Ich kann mir nicht helfen, aber ketzerische Gedanken begleiten mich seit meinem Aufbruch vor sieben Wochen, wenn mir zwischendurch bewusst wird, wohin ich unterwegs bin.
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