Erst die Möglichkeit
einen Traum zu verwirklichen,
macht unser Leben lebenswert.
Paulo Coelho
Henry David Thoreau fordert uns in seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern auf, in Richtung unserer Träume zu leben. Dann werden wir Erfahrungen machen, verspricht er, die wir uns gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Pilgerfahrt, die sich in postmodernen Zeiten fast vollständig von konfessionellen Doktrinen gelöst hat. Beim Aufbruch fragte ich mich nicht, ob ich ein Pilger bin, wenn ich auf Pilgerwegen wandere, die von ungezählten Pilgerfüßen in die Landschaft getreten wurden, Spuren, die nicht verwehen; selbst Jahrhunderte später nicht. Ich kam durch Orte und Landschaften, fand Artefakte, denen die Anwesenheit unzähliger Pilger eingeschrieben ist, jahrhundertelang. Durch Dörfer, die vorspiegeln, es gab sie schon immer. Durch Landschaften, deren Transitheiligtümer, Kirchen und Paläste Geschichte atmen. Ich hatte mir eine Fußreise vorgestellt, eine lange Wanderung, die zu einer Pilgerfahrt wurde, anders als ich erwartete. Die vielen Wege, die ich gegangen bin, mündeten wie Flüsse in einen Ozean, ein Strom erweitertes Leben, zu fernen Horizonten, die meinem Blick anfangs verborgen waren, auf ein Ziel gerichtet, das ich selbst war. Solche Ziele liegen immer am anderen Ufer, jenseits des Vertrauten, inmitten der Liminalität. Mittendurch führt der Weg ans Ziel, nicht außen herum. Letztlich ist der richtige Weg unvermeidbar, sonst gilt Adornos Wort, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Zukunft ist Apräsenz! Der erste Schritt einer Wanderung, gleichgültig, wie man sie nennt, führt immer in einen Schwellenzustand. Altes trägt nicht länger, Neues muss erst erworben werden: Abschied und Neubeginn, dazwischen liegt die Gegenwart einer Fußreise, der Wanderung, der Pilgerschaft. Wer sonst bricht zu einer solchen Wanderung auf? Der Wanderer wird zum Schwellenwesen, zum Pilger, wenn er die zwischen den beiden Polen liegende liminale Zone betritt.
Der Fokus des modernen Pilgers liegt auf seinem affektiven Betroffensein von den Atmosphären, die ihm der Weg bietet, zu denen er eine leibliche Beziehung eingeht. Weniger im Besuch von mit Bedeutung aufgeladenen Orten und Gebäuden. Die Diversität moderner Pilger, ihre Herkunft und Motivation, löst sich vielfältig in der Einheit der Pilgergemeinschaft auf, eine Einleibung, die Victor Turner als Communitas beschrieben hat.
Das Wiedererstarken der Pilgerbewegung ist in Bewegung geratene Spiritualität, die sich immer mehr von den Dogmen der katholischen Kirche lossagt. Die zentrale Motivation modernen Pilgerns äußert sich in der Suche nach Sinn in einer globalisierten Welt mit zunehmend entpersönlichten Beziehungen. Dieses Bedürfnis nach Sinn erwächst aus der Entfremdung des einzelnen Menschen von seiner vertrauten Lebenswelt, die zu einer wachsenden Unsicherheit über seine Identität führt, zu Zukunfts- und sozialen Ängste. Rituale der Selbstvergewisserung sind wieder dringend erforderlich, sodass pilgern neben der rituellen auch eine therapeutische Dimension gewinnt, sofern sich beides überhaupt trennen lässt. Pilgern bietet eine rituelle Struktur in einem ahierarchischen und unstrukturiert freiheitlichen Raum für diesen psychischen Entwicklungsschritt. Dieser Prozess entfaltet sich mit den Mitteln der eigenen lebensweltlichen Erfahrung des Pilgers, der Vorstellung sein Leben als Reise aufzufassen, die er seinen eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten entnimmt. Das Ziel dieser Reise ist nicht länger ein geographischer, mit jenseitiger Symbolik aufgeladener Ort, verzeichnet auf einer Landkarte, kartografiert auf einem Straßenatlas. Das Ziel, zu dem sich der moderne Pilger auf den Weg macht, ist ortlos, allenfalls in seiner Innenwelt auf einer psychischen Landkarte symbolisch vorhanden. Das Ziel des modernen Pilgers liegt in ihm selbst. Unterwegs auf dem Weg zu sich selbst, entwirft und verändert er seine eigene Geschichtenkarte, die zugleich die äußere Landschaft beschreibt, sowie die psychische Befindlichkeit und den Erlebnishorizont des Pilgers in ihr thematisiert und markiert. Robert Macfarlane, der diesen Begriff verwendet, erläutert ausführlich, was eine Geschichtenkarte von einer auf Daten reduzierten Karte unterscheidet, die den Raum unabhängig vom Sein erfasst: Geschichtenkarten, argumentiert er, stellen Orte so dar, wie Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden könnte, zeichnen sie einzelne Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des Reisenden, und die in ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus seinem eigenen Gesichtskreis und Erfahrungshorizont. Ereignis und Ort sind nicht klar voneinander trennbar, da sie in Wechselwirkung zueinanderstehen. Die wochenlange Bewegung zu Fuß durch eine Landschaft wirkt magisch und mystisch zugleich. Sie öffnet naturräumliche Dimensionen voller »göttlicher Atmosphären«, die den Pilger psychisch zutiefst betreffen.
Meine Fußreisen auf Jakobswegen ähnelten zunehmend einer Meditation, wurden zu einer Initiation, zu nicht wiederholbaren Ereignissen, die im Gehen ihre eigene Struktur fanden. Meine Gefühle und Gedanken auf diesen Wegen waren einzigartig, aber nicht unteilbar. Diese Mischung aus Einzigartigkeit und Mitteilbarkeit, die sich fern vom Alltag draußen in der Natur vollzieht, bindet die Pilger in eine Gemeinschaft jenseits von Konsum und Instrumentalisierung. Ein Pilger, dem es gelingt, sich der ihn umgebenden Landschaft zu öffnen, sich jedem Leistungsdenken enthält, lässt sich von seinem Weg bestimmen, solange, bis die Grenze zwischen ihm und seiner Umgebung verschwimmt. Er verschmilzt leiblich mit seiner Umgebung und erlebt sich selbst als Integral des Wegs, der Landschaft und der Natur. Um zu erfahren, was ihn ausmacht, muss er seinen Selbstbezug als autonomes Individuum für eine Weile aufgeben. Verweilt er lange genug im liminalen Zustand, gibt er sich freiwillig einem passiven Kontrollverlust hin, weil er ihm selbstverständlich erscheint. Absichtslos fließt er mit dem Weg durch die Landschaft. Für diesen passivischen Pilger fließen die eigenen Emotionen und die naturräumlich gegebenen Atmosphären ineinander. Das daoistische Wu Wei bezeichnet eine Haltung der inneren Stille, die zur richtigen Zeit intuitiv um die richtige Handlung weiß, ohne Anstrengung des Willens. Der Intellekt ist suspendiert, der Pilger handelt ohne geistige Anstrengung wie selbstverständlich an die Situation angepasst. Nicht viel nachzudenken ergibt das beste Handeln. Im Zustand des Lassens ist es sinnlos Energie in unfruchtbaren Gedanken und Handlungen zu erschöpfen: Ohne Absicht bleibt doch nichts ungefördert; denn man ist nie im Zweifel, was man zu tun hat, rät das Yì Jīng, das Buch der Wandlungen. Der passivische Pilger vertraut seinem Selbst, dass sich in leiblicher Kommunikation mit seiner Umgebung öffnet. Unser Leib, das, was wir an uns selbst spüren, ist grundlegendes Medium von wahrnehmen und handeln. Die Aufmerksamkeit für Gefühle und Empfindungen, das leibliche Spüren, ist heute in Misskredit geraten. Mangelnde Achtsamkeit, Überstimulation und Stress sowie zahlreiche persönliche und soziale Unzufriedenheiten, führen zu trügerischen Körperbildern. Richard Shustermans Konzept des Body-Consciousness gibt eine Antwort, da es leibliches Spüren zur Selbstvergewisserung nutzt, um etwas über sich selbst zu erfahren. Fußreisen, Wanderungen oder Pilgerfahrten bilden ein verwandtes effektives Mittel der Achtsamkeit für leibliche und körperliche Befindlichkeiten.
Bereits vor einem Jahr wollte ich auf der Vía de La Plata wandern, von Sevilla bis nach Santiago de Compostela und darüber hinaus ans Cabo de Finisterre. Doch ich entschied mich anders, und fand mich etwas unerwartet auf dem Camino del Norte wieder, und Wochen später auf dem Camino Primitivo, in Spaniens grünem Norden. Mich verlockten das Gehen zwischen Land und Meer, das Baskenland und das galicische Mittelgebirge. Viele Kilometer ging ich über alte Römerstraßen durch Asturien, auf denen als erster Pilger Alfonso II., genannt El Casto, der Keuche, im 9. Jahrhundert zum Grab des Apostels ging. Bis in die galicische Stadt Lugo, deren römische Stadtmauer vollständig erhalten ist und Weltkulturerbe wurde. Mich faszinieren diese alten, von vielen Füßen mit unterschiedlichen Motiven ausgetretenen Wege, die noch immer existieren, und durch die gleiche Landschaft führen, hoffentlich bis in alle Ewigkeit. Unsichtbare Spuren, die sich darauf verstehen, in der Erinnerung lebendig zu bleiben. Cees Nooteboom, der in seinem Buch Der Umweg nach Santiago vorgibt, mit dem Auto in die Jakobusstadt zu fahren, dabei aber kreuz und quer durch Spanien reist, beginnt seine Reiseerzählungen mit einem denkwürdigen Satz: An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind. Ich weiß genau, was er meint, jene Augenblicke, in denen sich die ins Gelände eingeschriebene Geschichte gnadenlos über jede Rationalität und Logik hinwegsetzt. Ich habe auf den Jakobswegen die Atmosphären des Wegs und der Orte gespürt, die durch die Anwesenheit von Millionen von Füßen und Blicken so tief ins Gelände eingedrungen ist, dass sie die Aura meiner Vorgänger ewig ausatmet. Doch sie wahrzunehmen, braucht ein feines Gespür, Neugier und Offenheit für Atmosphärisches, das hinter dem offensichtlich Liegenden wartet, um bemerkt zu werden. Diese Fähigkeit geht in unserer modernen Zeit, mit ihrem Konsum und den mannigfachen Ablenkungen, zunehmend verloren. Cees Nooteboom findet für diese Situation die richtigen Worte, wenn er von einer Seele spricht, die leicht genug ist, einen Widerstand in der Luft zu spüren, fragmentarisch nur, zurückgelassen von denjenigen, die wie ich diese Wege einst beschritten haben, ohne zu wissen, ob sie ankommen oder zurückkommen werden. Wenigsten darüber kann ich mir sicher sein. Karl May vermutet in seiner Reiseerzählung Durch die Wüste, dass man die alte Welt von Hammerfest nach Capstadt von England bis nach Japan durchreisen kann, ohne nur eine Spur von dem zu erleben, was man Abenteuer nennt. Er fordert den Reisenden auf, keinen Dolmetscher und keinen Reiseführer auf eine Reise mitzunehmen, und ist davon überzeugt, dass es auf die Persönlichkeit des Reisenden und die Art und Weise der Reise ankommt. Eine Reise per Entreprise oder mit Rundreisebillet wird sehr zahm sein, selbst wenn sie nach Celebes oder zu den Feuerländern gehen sollte. Paul Theroux, ein moderner Reisender, vermutet deshalb auch: Touristen wissen nicht, wo sie gewesen sind, Reisende wissen nicht, wohin sie fahren.
Dem modernen Wanderer fehlt eine wichtige Bedeutungsdimension. Anders als der mittelalterliche Pilger hat er die Fähigkeit verloren, seine Umgebung und ihre mannigfaltigen Atmosphären unverstellt zu empfinden. Wo die Umwelt einst magisch aufgeladen oder mythisch besiedelt war, findet er nur noch dürre Fakten. Die industrielle Revolution sowie das Informationszeitalter haben das Pilgern säkularisiert und den Wunderglauben des Menschen durch eine entzauberte Natur ersetzt. Wachsendes Wissen und verbesserte Mittel der Naturbeherrschung befriedigen sein spirituelles Bedürfnis nicht länger, sodass er psychisch verarmt. Der postmoderne Mensch hat sich vom Lebendigen dem Toten zugewandt, vernachlässigt seinen Körper und misstraut seinen Gefühlen. Seinen unbewussten Impulsen, seiner Fähigkeit zu Intuition und Imagination, seinem eigenleiblichen Spüren, steht er entfremdet gegenüber. Sein inneres Erleben kolonisieren die äußeren Quellen der Film- und Fernsehindustrie. Die resultierende Naivität und unreflektierte Unbesonnenheit sind zu einer tödlichen Waffe geworden, die zum Ursprung der Zerstörung und Ausbeutung der Natur wurden. An dem ökologischen Fußabdruck, den wir hinterlassen, werden die Nachkommenden unsere Einstellung zu Natur und Landschaft ablesen. Bereits im 19. Jahrhundert fand Thoreau, dass seine Mitmenschen zu hastig lebten. In sein Tagebuch schrieb er, dass wir gar nicht langsam genug leben können. Ich möchte nicht so leben, als hätte ich zu wenig Zeit, um auf jede Erscheinung der Natur zu achten, jedem Gedanken nachzugehen. Thoreau schwärmt von einem Leben als gemächliches Voranschreiten durch die Natur. Wir haben uns sehr weit von dieser Haltung entfernt. Etwas von ihr wiederzufinden, wird der Menschheit und dem Planeten guttun.
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