Lauf nicht dahin, man weiß nicht,
ob Sankt Jakob oder ein toter Hund daliegt.
Martin Luther
Damals schien das Universum lebendig zu sein.
Überall waren Botschaften, die zu deuten waren.
Philip Pullman
Vorbemerkung
Die Beschäftigung mit dem Phänomen »Jakobus« gleicht einem Tanz auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Spekulation, zwischen Faktum und Fiktion, zwischen Geschichte und Fantasy. Seine Vita ist legendär, und von seinem Leben handeln Legenden, mit denen der Apostel seine Anhänger inspiriert, motiviert oder unterhält, deren historische Evidenz aber mehr als fraglich ist.
Eine Legende ist eine Textsorte, die mit der Sage verwandt ist, denn ihr ursprünglicher Autor ist ein prime speaker, der in diesem Fall mit dem Autor einer Legende identisch ist. Er hat seine Erzählung um historische Ereignisse komponiert, die im Prozess der Sinnpflege immer wieder an die Lebenswirklichkeit ihrer Rezipient*innen angepasst wurde, die um spätere Hinzufügungen, Neu-Interpretationen, überhöht oder verfälscht tradiert wird. Weitläufig ist sie auch mit dem Märchen verwandt, integriert sie doch volkstümliche Motive. Anders als Märchen oder Sage ist die Legende ausnahmslos eine literarische Textsorte, die auch mündlich überliefert wird, doch ist ihr Ursprung immer schriftlich. Ihr Name leitet sich von legenda ab, das, was zu lesen ist, und bezieht sich in der westlichen Kultur in der Regel auf die Vita von Heiligen (Hagiographie). Legenden sind streng biografisch angelegte Lebens- und Leidensgeschichten, deren Protagonist meist deutlich religiöse Züge trägt. Im Bereich der Dichtung können Legenden auch Erzählungen mit parabolischem, wunderbarem oder märchenhaftem Inhalt sein, was sie von realistischeren Kurzgeschichten, Lehrfabeln und Parabeln abgrenzt, die nicht die Ebene wirklicher Märchendichtung erreichen. Legenden erzählen ebenfalls von weltlichen Persönlichkeiten, deren Charisma und soziale oder politische Leistung normal Menschliches überragt, wie die Überlieferungen des neutestamentlichen Apostels Jakobus, des englischen Rebellen Robin Hood oder des brittonischen Königs Arthur, denen ihre Mitmenschen und Zeitgenossen mit großer Ehrfurcht und großem Respekt begegneten, dass ihr Leben zum Vorbild und in eine Legende gewürdigt wurde.
Gegenstand meiner Studie, Die Causa Jakobus, sind die populären, mittelalterlichen Legenden, die sich um das Leben des Apostels ranken, dessen Relevanz für seine Anhänger ungebrochen ist. Sie fragt nach der Historizität des neutestamentlichen Apostels Jakobus, dessen schillernde, mysteriöse Aura die Jahrhunderte durchzieht. Sie wirft Fragen nach seiner realen Existenz auf, deren Beantwortung zeitgenössischen Moden und Trends unterliegt, die zwischen fiktional, pseudo-historisch, quasi-historisch und historisch schwanken.
Die vielen narrativen Versionen und wissenschaftlichen Untersuchungen, die der Biografie des Jakobus des Älteren gewidmet sind, seiner reale Existenz oder dem Spannungsfeld von Legende versus Historizität, wirken wie ein verwirrendes Labyrinth von Texten, in dem es ohne roten Faden schnell ungemütlich werden kann. Um auf dem Weg durch die Spekulationen, Vermutungen und Analysen nicht die Orientierung zu verlieren, hilft die Frage nach der Textsorte, die über Jakobus berichtet. Die nähere Betrachtung der Quellen offenbart allerdings, dass eine solche Suche auf unterschiedliche Textsorten trifft.
Eine zweite Frage, die den Gegenstand meiner Studie betrifft, ist die Vermutung, dass sich Legenden an realen, historischen Persönlichkeiten entzünden, deren gesellschaftlichem Wirken ihre Zeitgenossen mit Bewunderung und Respekt begegneten, deren persönliches Charisma so außergewöhnlich war, dass sie unvergessen blieben. Darüber hinaus bringen die Protagonisten einer Legende die zeitgenössischen Bedürfnisse und Notwendigkeiten in ihrer Person und ihrem Handeln stellvertretend zum Ausdruck. Um diese These zu belegen, drängt sich die Legende um Jakobus auf. Anhand der verfügbaren mittelalterlichen Diskurse lassen sich die zentralen Ereignisse der Legende überprüfen, auf denen seine Vita basiert:
- die neutestmantliche Überlieferung der Apostelgeschichte;
- eine vielfältig ausgeschmückte, volkstümliche Heiligenvita als Basis eines theologisch-wissenschaftlichen Diskurses;
- die Entdeckung eines mysteriösen Grabs im neunten Jahrhundert am Ende der Welt, von einem göttlichen Zeichen, nicht von wissenschaftlichem Studium sanktioniert.
Das besondere am Apostel Jakobus ist seine jahrhundertelange, bis in die Gegenwart anhaltende Popularität, die in einem Fall zu einer Wallfahrtstradition geführt hat, zu der jährlich weltweit Millionen Pilger aufbrechen, im anderen Fall zu einer literarischen und wissenschaftlichen Textproduktion, die bis heute nicht zufriedenstellend beantwortete Fragen aufwirft. Viele Glieder in der Kette der Argumentation schließen gelehrte Spekulationen, obgleich die Plausibilität dieser Spekulationen oft nicht von der Hand zu weisen ist. Letzten Endes bleibt ein Rest, wie in so vielen Fällen lange zurückliegender Ereignisse, der sich weder durch eine ausführliche Recherche noch durch die sorgfältigste Analyse restlos aufklären lässt. Abgesehen von jedem wissenschaftlichen Diskurs, oder jeder gelehrten Spekulation, bietet das Leben von Jakobus den Stoff, aus dem Legenden sind.
Ralf Legler eröffnet seine Studie Sternenstraße und Pilgerweg mit einer kurzen Skizze vom Leben und Tod der Diana Frances Spencer, Fürstin von Wales und ehemalige Ehefrau des britischen Königs Charles III. Bereits zu Lebzeiten wurde sie zur Lady Di, zu einer Medienikone, und weltweit so populär, dass sie zeitweise die berühmteste und am häufigsten fotografierte Frau der Welt war. Rolf Legler schildert in seiner Jakobsweg-Studie an Ihrer Person auf faszinierende Weise den Prozess einer modernen Legendenbildung: Rund zwei Millionen Briten säumten den Weg, den der Katafalk mit der Toten nahm. [...] Die Trauerfeierlichkeiten für Lady Diana Spencer waren mit 2,5 Millionen Zuschauern in 187 Ländern das größte Fernsehspektakel aller Zeiten. Das bis dahin größte TV-Ereignis hatte sich sechzehn Jahre zuvor ebenfalls in Westminster Abbey angespielt: die Traumhochzeit des Jahrhunderts zwischen Prinz Charles und Lady Di. Damals saßen gerade mal 700 Millionen Menschen vor dem Bildschirm. [...] Noch im Tod siegte die „Königin der Herzen“ mit ihrer „Revolution der Gefühle“ über die vorher bei ihrem Volk so beliebte Queen, die nun zur bösen Schwiegermutter wurde (Legler, Sternenstraße, 1999:16-17). Rolf Legler benutzt dieses Medienereignis um exemplarisch prinzipielle Merkmale der Legendenbildung und der sich daraus entwickelnden Wallfahrt zum Schloss Althorp, Lady Dianas Elternhaus, offenzulegen. Er formuliert drei universelle Kriterien, die für dieses Phänomen verantwortlich sind:
- erstens Verklärung des Anbetungsgrunds - das geschieht im Regelfall durch Mythenbildung;
- zweitens materielle Interessen - diese können geschäftlicher oder politischer Natur sein;
- drittens Wunderwirksamkeit der Andachtsstätte oder des Verehrungsgegenstandes (Legler, Sternenstraße, 1999:17).
Wie das Beispiel Lady Di zeigt, sind Legenden kein Phänomen der Vergangenheit, etwas aus fernen Epochen Überliefertes, in denen die Verfügbarkeit über Informationen, über Zeitgenossen oder ein übergeordnetes Geschehen sowie die zwischenmenschliche Kommunikation, nicht durch eine breit aufgestellte Medienlandschaft erzeugt wurden. Legendenbildung findet jederzeit statt, wie Rolf Leglers Beispiel zeigt, weil sich Menschen nach Vorbildern, Idolen oder Modellen sehnen, an denen sie ihr eigenes Leben ausrichten können. Legenden tragen zur Stiftung von Sinn und Identität bei, ihre Protagonisten spiegeln den zeitgenössischen Way of Life. Sie fassen allgemein verbindliche Normen und Werte, denen wir alle unterliegen, in einen narrativen, tradierbaren Rahmen. Meine bisherigen Ausführungen verdichten sich zu einer Hypothese, die im Weiteren untersucht werden soll: Krisenzeiten, wie die Invasion der Mauren auf der Iberischen Halbinsel (8. Jahrhundert), fördern durch die sozialen und politischen Umwälzungen ein gesellschaftliches Klima, das die Entstehung von sinnstiftenden Narrativen begünstigt. Zeiten verunsicherter kultureller oder ethnischer Identität entwerfen narrative Modelle und kulturelle Marker eines neuen Wir, an denen sich eine Gesellschaft wieder ausrichten und stabilisieren kann. Die Bildung von Legenden, wie solche von Jakobus, gehören zu den Diskursen, beziehungsweise Narrativen, die diesem Prozess der Erneuerung inspirieren (Zum Weiterlesen).
Die Causa Jakobus
In Ermangelung weiterer authentischer Daten
müssen wir uns an die Überlieferung halten.
Santiago de Compostela, Kathedraladminstration
Norman Mailer nennt die Legendenbildung um amerikanische Schauspieler, die aus einem wahren Kern, Beschönigungen und Fantasiegebilden konstruiert werden factoids, und versteht darunter eigentlich unzulässige Informationen über Ereignisse oder Personen, die immer und immer wieder wiederholt werden, bis sie als Fakt, als Tatsache, allgemein akzeptiert werden. Michel Foucault spricht im gleichen Zusammenhang von Diskursen, die Macht akkumulieren und politische Herrschaft sichern, was diese Diskurse systemstabilisierend wirksam macht. Neuerdings betreiben Soziale Medien dieses Phänomen als fake news. Diese Methode der Erfindung und Verbreitung von Informationen ist nicht so neu, wie mancher glauben mag. Bereits bei einem obskuren Reliquienfund des neunten Jahrhunderts (um 820) im äußersten Nordwesten Europas, auf der iberischen Halbinsel, spielten Norman Mailers factoids die entscheidende Rolle.
Am Ursprung der Jakobuslegende, die Gläubige aus aller Welt für die historische Wahrheit halten, steht ein christlicher Märtyrer des 4. Jahrhunderts, keiner, den heidnische Römer auf dem Gewissen haben, sondern einer, den die katholische Kirche selbst als Häretiker in Trier auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Doch ein Schritt nach dem anderen.
Im achten und neunten Jahrhundert eroberten die islamischen Mauren den größten Teil der Iberischen Halbinsel. Die anscheinend seit dem siebten Jahrhundert kolportierte Überlieferung, dass Jakobus der Ältere im heutigen Spanien missioniert haben soll, fand Eingang in einen religiös-politischen Diskurs, der dem unter ideologischen und territorialen Druck geratenen, abendländischen Christentum zu einer Identifikationsgestalt verhalf. Während der Regierungszeit des asturischen Königs Alfonso II. wurde, wahrscheinlich zwischen 818 und 834, angeblich ein mysteriöses Grab in der Nähe der ehemaligen römischen Stadt Iria Flavia im nordwestlichen Spanien gefunden, dem modernen Pádron. Den besonderen Umständen einer historischen Übergangszeit geschuldet, erklärten theologische und politische Autoritäten das vom Eremiten Pelayu entdeckte Grab zur letzten Ruhestätte des Jakobus. Eine dubiose Quelle, in der Folge von Bischof Theodemir von Iria Flavia in einem prophetischen Traum sanktioniert, steht am Beginn der Jakobus-Pilgerfahrten, die Luther intuitiv verwarf, denn evidente Quellen besaß auch er natürlich nicht. Ein ideologisch motivierter Coup. Die größte Schwierigkeit der mit der Entdeckung des Grabes vorangetriebenen Legendenbildung, wie sich im Folgenden zeigen wird, besteht in der Translation des Leichnams des Jakobus von seiner Hinrichtungsstätte in Jerusalem zu seiner Grabstätte in Galicien. Meine Behauptung, jede Legende enthält einen historischen Kern, die sich als schriftliche Überlieferung um reale Persönlichkeiten rankt, stößt in der Causa Jakobus auf die üblichen Schwierigkeiten: die Widersprüchlichkeit der Quellen mit den Behauptungen eines legendären Narrativs.
Wie steht es nun um die Historizität der Grablegung des Jakobus als Ursprung der Legende um die Wallfahrt nach Santiago de Compostela? Wieweit lässt sich die Quellenlage überzeugend erklären beziehungsweise interpretieren? Das Neue Testament hüllt sich über die Biografie von Jakobus dem Älteren, Sohn des Zebedäus und der Salome, weitgehend in Schweigen. Nur wenig wird erzählt, und das wenige ist dazu noch fragmentarisch. Die Bibel erwähnt lediglich zwei Ereignisse: seine Berufung zum Jünger sowie seine Hinrichtung. Den Beginn und das Ende einer Karriere als Apostel. Jakobus gehört zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johannes zu den ersten Jüngern von Jesus und zu dessen Lieblingsjüngern. Das Neue Testament überliefert, dass Jesus die beiden Brüder Boanerges nannte, Donnerskinder oder Donnerssöhne, was nach Markus 3.17 auf das aramäische Söhne des Zorns zurückgeht, und sich auf deren Feuereifer bei der Verbreitung der neuen Lehre bezieht (Lukas 9.54; Markus 9.38) bezieht. Der Zebedäus-Sohn Jakob, latinisiert Jakobus, wurde gleichzeitig mit seinem Bruder in die Gefolgschaft des Nazareners aufgenommen (Matthäus, 4.21-22). Seinen Tod überliefert die Apostelgeschichte (12.1-2) in knappen Worten. Dort heißt es, Jakobus wurde von Herodes Agrippa I. enthauptet, wodurch er der erste christliche Märtyrer wurde. Seine Hinrichtung soll sich in Jahr 44 in Judäa zugetragen haben. Vor seinem Tod, so tradiert seine Heiligenvita, missionierte er in Jerusalem sowie in der Gegend des heutigen Schomron, dem nördlichen Teil des Westjordanlandes. Seine Gebeine wurden im Jahr 70 auf den Berg Horeb ins Jakobskloster gebracht. Nach Aktenlage der Apostelgeschichte mündet die Spur des Jakobus ins Ungewisse. Von einer Verehrungstradition, wie bei seinem Bruder Johannes, ist nirgendwo die Rede, und ein Evangelium, auch kein apokryphes, ist von ihm bekannt. Seine Missionstätigkeit in Spanien wird im Neuen Testament und den Fragmenten einer frühen, wohl mündlichen Überlieferung, mit keinem Wort erwähnt. Soweit die Hinweise, die mit großen Vorbehalten als historisch seriös akzeptiert werden können. Allerdings lässt sich vermuten, dass die Exegese und Überlieferung der frühchristlichen Ereignisse in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten im Rahmen der textuellen Sinnpflege mindesten teilweise manipuliert wurden. Dass jede historische Überlieferung lediglich ein Abbild des zeitgenössischen herrschenden Diskurses ist, stellt eine selbstverständliche Voraussetzung dar. Sie gilt für jede historische Überlieferung, sodass nie ganz sicher ist, was wirklich geschah. Widersprüchliche Quellen sind in der Causa Jakobus die Regel, und die unzuverlässige Quellenlage kann eine mögliche Beziehung des Jakobus zu Spanien nicht zweifelsfrei klären.
Auf sehr unterschiedliche Weise berichten apokryphe Quellen von der Mission des Jakobus auf der Iberischen Halbinsel um das Jahr 40, von der Entdeckung seines Grabes im neunten Jahrhundert durch den Eremiten Pelayu auf dem Sternenfeld (dessen Name wahrscheinlich auf den westgotischen Soldatenheiligen Pelagius zurückgeht) sowie der Gründung einer ihm geweihten Kathedrale in Santiago de Compostela durch die asturischen Könige Alfons II. und Alfons III. Obwohl die Echtheit der Apostelreliquie, und die Historizität der Überführung des Leichnams und dessen Beisetzung bisher nicht aufgeklärt werden konnte, haben der Jakobuskult und die Wallfahrt zu seinem Grab nichts an Anziehung verloren. Die irrationale, mysteriöse Aura, die religiös motivierte Hoffnung auf einen absoluten Sündenablass, sowie spirituelle Bedürfnisse oder modische Trends, bilden die Mischung der anhaltenden Attraktivität der Jakobuswallfahrt. Im Heiligen Jahr 1993, in einem Jahr, in dem der 24. Juli auf einen Sonntag fällt, dem Jahresfest des Heiligen Jakobus, veröffentlichte die Kathedraladminstration die folgende, irgendwie hilflos klingende Erklärung: In Ermangelung weiterer authentischer Daten müssen wir uns an die Überlieferung halten. Diese historisch wenig verlässliche Evidenz, die hier beschworen wird, beruht auf mehreren antiken Quellen als Ursprung der Jakobuslegende: auf der Goldenen Legende (Legenda Aurea), der Historia Compostela, den Traditiones Hispanicae sowie dem Breviarium Apostolorum.
Die Legenda Aurea ist eine Kompilation von 182 Traktaten, die 1264 von dem Dominikaner Jacobus de Voragine verfasst wurden. Die Sammlung enthält alle damals gängigen Heiligenlegenden und avancierte in ihrer Zeit zu einem weit verbreiteten geistlichen Volksbuch des Mittelalters. Die Version der Vita des Jakobus in der Goldenen Legende erzählt von den folgenden Ereignissen: Jakobus missionierte nach Jesu Himmelfahrt in Juäda und Samaria, ging aber später nach Spanien, um das Wort Gottes unter den dort lebenden Heiden zu verbreiten. Zurück in Jerusalem wurde er verhaftet, hingerichtet und sein Körper vor der Stadtmauer wilden Tieren zum Fraß überlassen. Seine Jünger nahmen den Leichnam, brachten ihn auf ein Schiff und überführten ihn mit Hilfe eines Engels des Herrn nach Galicien. Dort landeten sie im Reich der keltischen Königin Lupa, legten den Leichnam auf einen Stein, der nachgab, und den Körper des Jakobus wie einen Sarg umgab. Lupa verweigerte den Jüngern das Begräbnis und ließ sie in den Kerker werfen. Erneut tritt ein Engel des Herrn auf, öffnete die Kerkertür, befreite die Jünger und tötete ihre Verfolger. Scheinbar gab Lupa nach, erlaubte das Begräbnis, und stellte ihnen wilde, ungezähmte Stiere zur Verfügung, um den Karren mit dem Leichnam zu ziehen, in der Hoffnung, diese würden die Jünger töten. Doch diese machten das Kreuzzeichen über die Stiere, und auch über einen Drachen, der sie zusätzlich bedrohte. Die Stiere zogen willig den Karren mit dem Steinsarg, die Königin gab nach und beschloss ihr Leben mit guten Werken. Soweit in aller Kürze die Jakobus-Version der Legenda Aurea.
Eine vergleichbare Entwicklung nahm seit dem 14. Jahrhundert das brandenburgische Dorf Wilsnack, zu der bis heute der Brandenburgische Jakobsweg von Berlin führt. Dieser Brandenburgische Jakobsweg endet heute im modernen Bad Wilsnack in einem ehemals zentralen, nordeuropäischen Wallfahrtszentrum mit einer Heilig-Blut-Reiquie, wo er in das europäische Jakobswegenetz übergeht. In der 169jährigen Wallfahrtsbewegung, von 1383 bis 1552, bildete er das Ziel von Pilgerströmen aus Nord- und Osteuropa: von den Britischen Inseln, Flandern, über Skandinavien und dem Baltikum, aus Polen, Tschechien und Ungarn. Mit den Pilgern kam der Wohlstand in die Stadt an der Karthane und nach dem Fund der Heilig-Blut-Reliquie bekam das einstige, unbedeutende Dorf in der Prignitz, durch den Coup eines geschäftstüchtigen Pfarrers, sehr schnell den Status eines bedeutenden Wallfahrtsortes. 1383 brannte der Raubritter Heinrich von Bülow das Dorf Wilsnack nieder. Der Pfarrer Johannes Cabbuez fand am darauffolgenden Tag drei rot gefärbte Hostien in der Ruine der abgebrannten Dorfkirche auf einem weißen Leinentuch, denen der Brand nichts anhaben konnte. In der Folge führte der Fund der Blutreliquie zu einer spirituell-religiösen Bewegung in deren Zentrum die Wunderblutkirche in Wilsnack stand. Soweit in Kürze die Legende. Ob Johannes Cabbuez die Leichtgläubigkeit der Menschen ausnutzte oder ob sich irgendein mysteriöser Hostienfund wirklich zugetragen hat und er ernsthaft an das glaubte, was er gefunden hatte, lässt sich nicht beurteilen, obwohl bereits zeitgenösssische Theologen und Wissenschaftler an das Wunder von Wilsnack zweifelten und einen Pilz für die Rotfärbung verantwortlich machten (Herbert W. Jardner, Wunderblut und Ablasshandel). In der Filmsatire Pampa Blues versucht Joachim Król in der Rolle des Gasthausbesitzers Maslow sein Dorf Endlingen nach dem Vorbild der US-Stadt Roswell, wo 1947 ein UFO gesichtet worden sein soll, bekanntzumachen und zu Wohlstand zu verhelfen. Damit die Öffentlichkeit auf das Dorf aufmerksam wird, entwirft er nach dem Vorbild der Roswell-Legende ein UFO in seiner Garage. Dieses Raumschiff lässt er nachts vor den Fenstern ausgewählter Dorfbewohner herunter, die später bezeugen, ein UFO gesehen zu haben. Natürlich gibt es ein Happy End, denn aufgrund bestimmter Umstände gelingt Maslows Plan, der in Endlingen Hochzeiten organisiert und ein mit Hochzeitssuiten ausgestattetes Hotel betreibt, von dem alle Dorfbewohner profitieren.
Ein anderes Beispiel einer mittelalterlichen Legendenbildung, die sich zwischen frühchristlichen, apokryphen Testamenten und volkstümlichen Traditionen bewegt, ist der ebenfalls in der Legenda Aurea überlieferte Annenkult, der in Norddeutschland große Popularität erlangte; und in Verbindung mit einem Blutkult die Heilig-Blut-Wallfahrten Nordeuropas inspirierte. Die christliche Ikonographie verwendet den Bildtyp Anna selbdritt, der zu den Andachtsbildern gehört, für eine Darstellung der heiligen Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind. Der Name selbdritt ist eine veraltete Bezeichnung und bedeutet Teil einer Dreiergruppe oder einfach nur: zu dritt. Der Bildtyp Anna selbdritt ging aus dem volkstümlichen, mittelalterlichen Annenkult hervor. Biblische Quellen über die Eltern Marias, Anna und Joachim, zu denen später noch Annas Mutter Emerantia kam, existieren nicht. Die vielen künstlerisch gestalteten Themen des Marienlebens, zu denen auch Anna selbdritt gehört, gehen auf das apokryphe Protoevangelium sowie erwähnt auf die Legenda Aurea zurück, der auch Jakobus von Santiago seine legendarische Aura verdankt. Anders als das Neue Testament enthält ein Protoevangelium keine Darstellung des Lebens Jesu, wie für die vier kanonisierten Evangelien üblich, sondern schildert das Leben der Maria. Der Autor der Erzählung der Geburt und Herkunft Marias – Offenbarung des Jakobus, wie der Text ursprünglich hieß - ist der sogenannte Bruder von Jesus, auch Herrenbruder oder Jakobus der Gerechte genannt, dessen Vita sich nicht immer eindeutig von der des Apostels Jakobus trennen lässt. Als Bruder Jesu war er eine einflussreiche Persönlichkeit in der Jerusalemer Urgemeinde. Ob Bruder leibliche Verwandtschaft impliziert, oder ein Terminus zur Bezeichnung enger Vertrauter untereinander auf einem gemeinsamen Weg ist, wie das afro-amerikanische Brother, bleibt trotz verschiedener Hypothesen ungeklärt. In diesem Protoevangelium berichtet der Herrenbruder von dem betagten Tempelpriester Joachim, der nach langer Ehe mit seiner Frau Anna kinderlos blieb. Schließlich erschien beiden ein Engel, der ihnen die Geburt ihrer Tochter Maria weissagte, wie im Neuen Testament Maria die Geburt Jesu vorausgesagt wird. Vor diesem Hintergrund führte Papst Sixtus IV. einen Anna-Tag in den römischen Heiligenkalender ein, der den Annenkult in Europa institutionalisierte. In West-, Mittel- und Osteuropa verbreitete sich daraufhin der Annenkult sprunghaft und Annenaltäre und -kapellen, in denen häufig Statuen der Anna selbdritt aufgestellt wurden, spielten eine große Rolle in der Volksfrömmigkeit (Herbert W. Jardner, In inneren und äußeren Räumen).
In einer modernen, wissenschaftlichen Perspektive bewertet, ist die Jakobusvita der Legenda Aurea das, was sie vorgibt zu sein: eine volkstümliche Sammlung kompilierter Heiligenlegenden, die eine wahrscheinlich historische Persönlichkeit mit vielerlei fiktionalen Details bekleidet. Das trifft auf alle folgenden Quellen, die sich zur Causa Jakobus äußern, nicht in gleichem Maße zu. Diese erheben insgesamt einen historischen Anspruch, ohne ihn wirklich einzulösen. Doch vorerst zurück zu der Frage, was von den Ereignissen zu halten ist, die die Legenda Aurea über Jakobus erzählt; und damit zurück zu Rolf Leglers Merkmalen zur Bildung einer Legende:
- Jakobus als der Jesus nahestehende Lieblingsjünger, der mit Feuereifer engagierte Verkünder einer neuen Lehre und erste christliche Märtyrer, unzweifelhaft ein beeindruckender Mann mit charismatischer Persönlichkeit (die Jakobusreliquie als Leglers zu verehrender Gegenstand);
- die Translation des Leichnams in einen (steinernem) Boot mit Hilfe eines Engels des Herrn sowie die Deponierung der Leiche des Apostels auf einem Stein, der seinen Körper wie ein Sarg umschloss (Leglers Verklärung des Anbetungsgrunds durch Mythenbildung). Ein weiteres, steineres Boot einer parallelen Jakobslegende landete im nördlich von Santiago gelegenen Fischerdorf Muxía bis wohin sich die Jakobuspilgerfahrt inzwischen ausgedehnt hat (Herbert W. Jardner, Die letzten Schritte);
- die Gefangennahme und Einkerkerung der Jakobus-Jünger durch die keltische Regentin Lupa, die von einem Engel, wie Daniel aus dem Feuerofen, befreit werden (Dan 3.49-50) sowie die Zähmung wilder Tiere, die im Auftrag der Lupa die Grablegung verhindern sollen (Stiere und Drachen), die an eine Prüfung aus der Argonautensage erinnern (Leglers Wunderwirksamkeit des Verehrungsgegenstands);
- Lupas Versuch ihre Macht zu sichern, und als das erfolglos blieb, schließlich den Leichnam des Jakobus für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (Leglers materielle beziehungsweise politische Interessen);
- die politisch-theologische Konzeption und Entwicklung von Wallfahrt und Sündenablass zur Sicherung kirchlicher und weltlicher Macht (Leglers Wunderwirksamkeit der Andachtsstätte).
Nach einer kritischen Betrachtung der Legenda Aurea können mit gutem Willen nur diejenigen Angaben als historisch seriös gelten, die aus dem Neuen Testament bekannt sind: die Mission des Jakobus in Palästina sowie seine Hinrichtung durch Herodes. Bei den anderen Details der Legenda handelt es sich um alle möglichen Zusätze, wie sie in unterschiedlichen Kontexten auch in anderen mediterranen Überlieferungen vorkommen (biblisch, griechisch oder keltisch). Allerdings ist die Legenda Aurea, mit ihren für eine Erbauungsliteratur üblichen Ausschmückungen und Mirakelberichten, nicht die zuverlässigste und auch nicht die früheste Quelle, die vom Leben und Sterben des Jakobus berichtet. Sie ist eine Kompilation, die aus vorausgegangenen Texten geschöpft hat.
Während die Legenda die Jakobus-Vita als zeitgenössische Heiligenvita präsentiert, der kaum Historisches zuzumuten ist, existieren andere Quellen, die in knapper zurückhaltender Berichterstattung den Eindruck einer historisch seriösen Chronik wecken. Die Narrative der Historia Compostela fassen die Jahrzehnte zwischen 1108 und 1140 zusammen. Sie ist die erste offizielle Geschichtsschreibung der Kathedrale von Compostela, die als Auftragsarbeit von Diego Gelmirez entstand, des kirchenpolitisch bedeutsamsten Bischofs der Kathedrale. Über Jakobus berichtet die Historia Compostela von Christus Aufforderung an seine Jünger vor seiner Himmelfahrt, das Evangelium im ganzen Erdkreis zu verkünden (Markus 16.15). Während die anderen aufbrachen, blieb Jakobus in Jerusalem zurück, um dort zu predigen, was zu seinem Märtyrertod führte, wie Lukas in der Apostelgeschichte überliefert hat. Seinen eigenen Jüngern, so erzählt in der Historia Compostela, befahl Jakobus vor seinem Tod, seinen Leichnam in die damalige römische Provinz Hispania auf die Iberische Halbinsel zu bringen, um ihn dort zu begraben. Sie fanden ein von Gott vorbereitetes Boot am Strand, überwanden die Gefahren der Überfahrt, und bestatteten den Leichnam an einem Ort mit Namen Liberum Donum, dem heutigen Compostela. Während der maurischen Invasion wurde das Grab vergessen, und erst durch den Bischof von Iria Flavia, Theodemir, wieder populär gemacht.Soweit die Informationen der Traditiones, die sich nicht sehr von der späteren, viel weiter verbreiteten Legenda abheben.
Die bereits erwähnte Textbearbeitung der Kathedralverwaltung zum Jubeljahr 1993 bezieht sich dagegen weitgehend auf die diversen, willkürlich zusammengestellten Überlieferungen der sogenannten Traditiones Hispanicae, eine Kompilation, die vom Grab des Apostels in (oder bei) Archa Marmorica berichtet, ein umstrittener Beleg, der Marmorboden bedeuten könnte, sich aber auch auf einen nicht mehr identifizierbaren Ort beziehen kann. Die Traditiones erzählen ebenfalls von der in der Legenda Aurea erwähnten, galicischen Königin Lupa, die auch hier als Stifterin des Jakobus-Grabs genannt wird, das nach römischer Sitte aus zwei Kammern bestand. Die topografischen Angaben, die in diesem Zusammenhang auch in der Historia Compostela gemacht werden, die Steinbrücke und die Stierweide, sind inzwischen in der Umgebung von Compostela verifiziert: die Puente Pias über den Tambre sowie die Fuente del Franco bei Fonseca. Die Traditiones Hispanicae enthalten lokale Überlieferungen einer frühen Jakobusverehrung, zu denen auch schriftliche Zeugnisse gehören, die vor allem seine Missionstätigkeit betreffen. Diese Kompilation einschlägiger Quellen stammt voraussichtlich aus dem neunten Jahrhundert, und, was wichtig ist, es handelt sich bei ihnen um die ersten lateinischen Überlieferungen von der Mission des Jakobus in Spanien. Die älteste Quelle der Traditiones, die Schrift De ortu orbitu Patrum des Isidor von Sevilla, behauptet bereits zwischen 598 und 615, dass Jakobus der Ältere in Spanien und den westlichen Gegenden missioniert hat, von Herodes enthauptet und in der Archa Marmarica bestattet wurde. Die Entstehung von Isidors Schrift, eine exegetische Broschüre, die aus einer Sammlung kleinerer Biografien besteht, geht auf das Prophetarum vitae fabulosae zurück, das ausgehend von einem hebräischen Original ins Griechische übersetzt wurde.
Seit dem 6. Jahrhundert kursierten in der griechischsprachigen, Welt die sogenannten Apostelkataloge (Breviarium Apostolorum), die spätestens im 7. Jahrhundert auch bei den westlichen Mittelmeer-Anrainern Anklang fanden. Eine adaptierte Version der ins Lateinische übersetzten Apostelkataloge entstand wahrscheinlich im südgallischen Raum. Erst diese verbreiteten als wesentliche Neuerung die Spanienmission des Jakobus im Westen. Der offiziellen Doktrin der Vertreter der Amtskirche, die sich bis dahin zu diesem Thema geäußert hatten, fehlte jede Vorstellung einer Jakobusmission im Westen des Kontinents. Keiner von ihnen berichtet von einer Missionstätigkeit des Heiligen auf der Iberischen Halbinsel oder von irgendeiner Verehrungstradition. Der einzige Missionar Galiciens sei Martin von Braga gewesen, verlautet es unisono aus diesen Kreisen. Auch das dritte Konzil von Toledo (589) kennt keine diesbezügliche apostolische Tradition, die ab der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts allmählich aus dem südgallischen Raum in die Iberische Halbinsel einsickerte. Die islamischen Mauren hatten bereits den größten Teil des modernen Spaniens und Portugals eingenommen, und von Jakobus noch keine Spur auf der Halbinsel. Und noch im 13. Jahrhundert, als die europäischen Pilger bereits zahlreich zum Grab des Apostels pilgerten, witzelte das IV. Vatikanische Konzil: Die Behauptung, das Jakobus in Spanien missioniert habe, ist eine Gutenachtgeschichte für Nonnen. Erst Papst Urban VIII. (1568-1644) sanktionierte auf Betreiben des französischen Königs Philipp III., in einer Revision des Breviarium Romanum, die spanische Darstellung der Mission des Apostels Jakobus auf der Iberischen Halbinsel als historisch authentisch. Eine weitere Quelle der Traditiones, die ins achte Jahrhundert datiert ist, und eine direkte Verbindung zwischen Jakobus und der Iberischen Halbinsel herstellt, ist die Hymne O Dei verbum auf den asturischen König Mauregatus. Jakobus wird in der zehnten Strophe des Hymnus jetzt erstmals als tutorque nobis et patronus, als Beschützer und Patron, gelobt, dessen Stellvertreter der politische Potentat ist.
Soweit die unterschiedlich relevanten, mittelalterlichen Quellen, die vorgeben seriöse, historische Informationen über eine mögliche Historizität des Jakobus und seines Wirkens auf der Iberischen Halbinsel zu sein. In ihren Kernaussagen stimmen sie, bis in die eindeutig volkstümliche Legenda Aurea, weitgehend überein. Sie wirken wie eine Serie von Variationen des gleichen Themas, und bestätigen per kirchlicher Autorität, und gegen viele berechtigte Zweifel von Zeitgenossen, manchmal auch auf Umwegen, Jakobus und seine Spanienmission als historische Fakten. Ein Blick auf die große Zahl mittelalterlicher Heiligenlegenden und wundermächtiger Reliquien offenbart, dass diese Quellen nach einem Modell konstruiert wurden, dem sich die Heiligenvita des Jakobus ohne Schwierigkeiten zuordnen lässt.
Was bedeutet unter diesen Umständen der beschriebene Sachverhalt in Bezug auf ein mysteriöses Grab am Ende der Welt als Grund und Sinn einer jahrhundertealten Wallfahrt auf dem Camino de Santiago? Worin bestand der Grund und die Notwendigkeit für die Konstruktion des Narrativs Jakobus im achten Jahrhundert? Die Entdeckung des angeblichen Jakobusgrabs in Galicien, der Kult um den Apostel sowie die Entstehung des Jakobswegs im neunten Jahrhundert sind ein Resultat der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei Religionen. Die Missionierung des Christentums durch iroschottische Mönche war im westlichen Europa zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert fast abgeschlossen, als der mit Feuer und Schwert vordringende Islam die Iberische Halbinsel flutete, wo das arianische mit dem römisch-päpstlichen Christentum konkurrierte. Ein Zusammenprall zweier, monotheistisch geprägter Kulturen, ein fanatisch ausgetragener Konflikt zwischen Orient und Okzident, der sich in mehreren Jahrhunderten zu einem militärischen Dschihad auf Gegenseitigkeit entwickelte. Die Legendenbildung um Jakobus Zebedäus, sowie der Beginn der Wallfahrt zu seiner Begräbnisstätte, ereignete sich in einer für das soziale, religiöse und politische Leben auf der Iberischen Halbinsel dramatischen historischen Situation.
Anfang des achten Jahrhunderts hatten maurische Araber und Berber unter Führung des Truppenführers Tāriq ibn Ziyād den letzten Westgotenkönig Roderich in der Schlacht am Río Guadalete, in der Nähe des heutigen Jerez de la Frontera, besiegt und den Untergang des Westgotenreichs, das von 418 bis 711 auf der Iberischen Halbinsel bestand, besiegelt. Die letzte Bastion, die Europa vor dem Griff des Islams geschützt hatte, lag am Boden. Das Tempo und die militärische Wucht der maurischen Invasion muss atemraubend vonstattengegangen sein, und hat die christlichen Reiche völlig überrumpelt. In nur zwanzig Jahren standen sie im Südwesten Frankreichs und nur dem fränkischen Hausmeier Karl Martell, den die Zeitgenossen Martellus den Hammer nannten, gelang es, zu verhindern, dass ganz Westeuropa in diesen Jahren islamisch wurde. Er drängte die vorrückenden Mauren in der Schlacht bei Tours und Portiers (732), die die arabischen Chronisten die Schlacht an der Straße der Märtyrer genannt haben, hinter die Pyrenäen zurück, wo ihr spektakulärer Vormarsch endete, und ihre Eroberung auf die Iberische Halbinsel beschränkt blieb. Mit einer einzigen Ausnahme: Das in den schwer zugänglichen Bergen der kantabrischen Kordillere liegende asturische Königreich, zu dem damals auch Galicien und der Norden Portugals gehörten, behauptete seine Unabhängigkeit. Allmählich gelang es dem asturischen Adel, der sich der westgotischen Tradition verpflichtet fühlte, den Widerstand der Reconquista zu organisieren, in der die Jakobuslegende ein zentraler Baustein war. Die Vita des Apostels Jakobus, besonders aber der Fundort seines Grabs, ist, wie gezeigt, widersprüchlich und höchst spekulativ. Ebenso verhält es sich mit den überraschend zur richtigen Zeit aufgetauchten sterblichen Überresten des Apostels, die als Jakobusreliquie unter dem Altar der Kathedrale in Santiago de Compostela in einem silbernen, aufwändig gestalteten Reliquiar bewahrt wird, deren Authentizität Luther mit seinem vulgären Bonmot bestritt. In einem anderen Zusammenhang habe ich bereits von der ersten Pilgerfahrt des Alfonso II. erzählt, der sich sofort nach der Entdeckung des Grabs des Apostels von Uvieo (heute Oviedo in Asturien) auf den Sternenweg begab und ins heutige Santiago de Compostela pilgerte, um dem Apostel seine Verehrung zu bezeugen (Herbert W. Jardner, Im Gefolge des ersten Pilgers). Alfonos Wallfahrt eröffnete die bis heute lebendige Tradition des Jakobuspilgerns, die nur ein einziges Mal, in der frühen Neuzeit, verursacht durch den Verfall der Pilgerbewegung durch die Reformation und den Französisch-Spanischen Krieg, unterbrochen wurde, aber schon Mitte des 17. Jahrhundert einen neuen Aufschwung erlebte. Heutzutage spricht jeder vom Jakobsweg, fast liebevoll, vom Camino, ohne weitere Gedanken daran zu verlieren, welche historische Tiefe diese vereinfachte, alle Feinheiten nivellierende Bezeichnung verdeckt. Vom Sternenweg habe ich unterwegs niemanden sprechen hören, und auch in den einschlägigen Erzählungen über individuelle Pilgerfahrten kommt diese Bezeichnung nicht vor. Ich habe diese Bezeichnung erst in der wissenschaftlichen Literatur gefunden, wo sie vielfältig diskutiert wird. Deutlich zeigt dieser Sachverhalt die Definitionsmacht des Papsttums und der katholischen Kirche über Jahrhunderte hinweg, trägt doch der Sternenweg heidnisches und häretisches Gedankengut im Gepäck. Martin Luthers Skepsis an der Authentizität der Jakobusrelique, der im 16. Jahrhundert gegen jede Pilgerfahrt polemisierte, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Erstaunlicherweise wurde auch das vergessen, denn die protestantische Kirche propagiert das Pilgern inzwischen genauso begeistert wie die katholische.
Der Zweifel an der Echtheit der Jakobusreliquie, sowie der sie legitimierenden Diskurse, entzündet sich besonders an einer religiösen Bewegung des vierten Jahrhunderts, deren Vertreter an grundsätzlichen Dogmen der katholischen Kirche rüttelten. Die Recherchen von Rolf Legler, und in dessen Nachfolge Ralf Pochard, legen nahe, dass die Tradition des Jakobswegs und der Fundort des angeblichen Jakobusgrabes ihren Ursprung in der Lehre und Hinrichtung des Mystikers Priscillian im vierten Jahrhundert in Trier haben könnten (Ralf Pochard, Asturien. Sierra del Sueve, 2014:30-36). Priscillian und seine Anhänger propagierten die Lehre von der Priorität des Heiligen Geistes, die sie schnell mit dem Papsttum in Konflikt brachte. 385 wurde Priscillian in Trier als Ketzer verbrannt. Seine Anhänger, so wird überliefert, brachten seine Leiche - über den Sternenweg - in die ehemalige römische Provinz Gallaecia, d.i. das heutige Galicien und nördliche Portugal, wo sich im vierten Jahrhundert eine Hochburg des Priscillianismus befand. Der Bischof von Braga (Nordportugal), sowie der Heilige Martin von Tours, das ist belegt, sympathisierten mit Priscillians Lehre, die sich durch die Katharer und durch neugnostische Strömungen auf dem ganzen modernen Jakobsweg verbreitete. Der Clou besteht darin, dass Priscillian durch Vermittlung der nordspanischen Suevenkönige sein Grab in Galicien fand, möglicherweise dort, wo Jahrhunderte später die Jakobusreliquie gefunden wurde. Aber auch diese interessante These bleibt unbelegt, da viel zu spärlich dokumentiert und untersucht. Doch was den sogenannten Sternenweg betrifft, sind die Belege zahlreich und weisen in die Richtung anzunehmen, dass der Camino de Santiago schon lange existierte, bevor er zum Jakobsweg wurde.
Fazit
Wie die zitierten Quellen zeigen, handelt es sich höchstens bei dem neutestamentlichen Jesus-Jünger Jakob um eine reale Persönlichkeit. Was diese Quellen betrifft, ist nichts, was sie tradieren, wissenschaftlich belegt. Dennoch sind die Indizien verblüffend, die andeuten, dass der Jakobsweg schon immer weit mehr war als nur ein christlicher Pilgerweg. Es handelt sich bei diesem Weg vielmehr um eine symbolisch aufgeladene, mentale Landkarte, um einen Weg, dem seit Jahrtausenden spirituelle Wirkungen zugetraut werden, die mit der psychischen Entwicklung des Individuums und der Förderung esoterischer und ethischer Werte zusammenhängen. Legendenbildung, wie die um den Apostel Jakobus waren im Mittelalter nichts Besonderes. Einige Argumente, die dazu führten, habe ich in dieser Studie erörtert.
Die Jakobusreliquie, zu der jedes Jahr Hunderttausende in die Provinz Galicien aufbrechen, beruht auf einem politischen Diskurs, erfunden im Auftrag theologischer und politischer Interessen, die zu einer Legende führte, zu einem Set theologisch-politisch konstruierter Fake News, konstruiert um die europäische Christenheit gegen die islamische Bedrohung zu vereinen. Reste dieses Diskurses haben bis heute in der modernen Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit europäischer Nationen überlebt.
Und was den Sternenweg betrifft, auch diesbezüglich ist die historische Quellenlage nicht eindeutig. Es werden Legenden erzählt, wie die über den Feldzug Karls des Großen, der das Jakobusgrab von den Mauren befreien wollte. Die mittelalterliche Chronik Historia Karoli Magni et Rotholandi ist eine im 12. Jahrhundert verfasste Fälschung, die Legenden über den Spanienfeldzug Karls des Großen zusammenfasst. Jakobus der Ältere erscheint Karl im Traum und fordert ihn auf, die Mauren aus Spanien zu vertreiben. Karl führt sein Heer nach Santiago de Compostela, besetzt die Stadt und erobert die ganze iberische Halbinsel. In Wirklichkeit wurde Karls Kriegszug nach anfänglichen Erfolgen abgebrochen. Die misslungene Eroberung von Saragossa und die Plünderung der baskisch-navarrischen, christlichen Stadt Pamplona während Karls Rückzug über die Pyrenäen nach Frankreich bildet den Inhalt eines der ältesten Chansons de geste, des altfranzösischen Versepos Rolandslied. Roland von Cenomanien, Markgraf der bretonischen Mark des Frankenreichs, Held des Lieds, sicherte die Nachhut des Heeres in einer engen Passage zwischen hohen Bergen. Bei Roncevalles geriet er zusammen mit seinen Rittern in einem Hinterhalt der baskischen Guerilla, die Rache für das Massaker in Pamplona forderten, unterlag, und fand den Tod.
In der mittelalterlichen Überzeugung verläuft der Weg nach Santiago de Compostela über einen doppelten Sternenweg. Diese doppelte Straße befindet sich auf dem Karlsschrein in Aachen, wo Karl der Große am Ende dieses Weges ein Engel oder Jakobus selbst erscheint. Doch die sogenannte Jakobusreliquie wurde erst nach Karls Tod entdeckt, sodass weder Karl noch der Handwerker, der das Relief auf dem Schrein anfertigte, etwas von einem Jakobsweg gewusst haben kann. Aus diesem Grund wurde der Schrein mit der doppelten Sternenstraße erst angefertigt, als der Jakobsweg bereits eröffnet und das hermetische Wissen, das bis heute um ihn kreist, bereits bekannt war. Den Schöpfer des Karlsschreins muss man deshalb wohl im Umfeld der Templer suchen, die im 13. Jahrhundert, als der Schrein entstand, über große finanzielle Mittel und eine einflussreiche, theologische Autorität verfügten.
Bei der Überlieferung, die bis heute über den Apostel Jakobus erzählt wird, handelt es sich um eine Legende, wenn man so will, um eine Heiligenvita. Diese Legende rankt sich um einen (vielleicht nur) quasi-historischen Kern, den das Neue Testament tradiert. Um den Fokus der Bibel haben sich Lauf der Jahrhunderte weitere Motive versammelt, die den Eindruck erwecken, aus Sage oder Märchen zu stammen, besonders eindrucksvoll in der Legenda Aurea. Die wundersamen Ereignisse, die plötzlich aus dem Nordwesten der Iberischen Halbinsel gemeldet wurden, waren vor diesem Hintergrund nicht nur von theologischer Bedeutung. Im Gegenteil, zu Beginn waren sie ein Politikum, ein historischer Prozess um Macht, Territorialbesitz und religiöse Vorherrschaft. Die Begegnung der beiden Religionen auf der Iberischen Halbinsel mündete in einen jahrhundertelangen Religionskrieg, in dem es nur einen Überlebenden geben durfte. Die Kriege gegen die Mauren bildeten den historischen Rahmen des Skripts und der Apostel Jakobus wurde schließlich, neben seinen Rollen als Missionar und Pilger, der Matamoros, der Maurentöter, der als Kriegerapostel noch heute in vielen Kirchen und Kapellen an den Jakobswegen als hölzerne Skulptur hoch zu Ross über den Altären thront, das Schwert zum Schlag erhoben, unter den Hufen seines Pferdes zu Tode getrampelte Mauren. Als integrierendes Element in diesem Konflikt repräsentiert er auf der Seite der christlichen Reiche Europas die gottgegebene Rechtmäßigkeit der Reconquista. Die meisten in der Causa Jakobus mit seiner Person verknüpften Informationen sprechen im besten Fall für eine historisierte, pseudowissenschaftliche, wenn nicht völlig fiktionale Gestalt. Was die Ereignisse um den Apostel betreffen: Kaum etwas wird so gewesen sein, wie es überliefert wird. Schon der historische Prolog des Jakobswegs klingt heute nach historischer Fantasy.
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