Freitag, 30. Dezember 2022

Vom intensiven Gehen


Meine mäßige Kondition und die fantasierte Unsicherheit, abends eine Unterkunft zu finden, haben auch etwas Gutes. Beides hilft nicht weiter, und ich muss lernen, es loszulassen. Die kleinliche Sorge um das Dies und Das, die müßigen Gedanken, was auch immer kommt oder was werden wird, das alles verstellt meinen Blick auf die Gegenwart und den Augenblick. Nimmt mir die Initiative, und bindet mich an meine inneren Dämonen. Was ist gewonnen, wenn ich mich, Tag ein und Tag aus, mit diesen Gedanken beschäftige? Ändert sich am Ende des Tages deshalb etwas? Es schadet nicht, mir zu vertrauen, und auf das, was werden kann. Der Tag wird mir gelingen, was auch immer mir zufällt. Alles, was ich dazu brauche, liegt in mir. Zu Fuß zu reisen ist einfach schön. Ich bin auf das, was mir begegnet, nicht vorbereitet. Nichts ist vorhersehbar wie daheim. Immer gibt es etwas zu entdecken, das mich aus meiner Alltäglichkeit und Routine heraushebt und ablenkt, solange, bis die Gefühle wechseln.

Früh um sieben Uhr sind die meisten Pilger bereits aufgebrochen. Ich bin seit einer halben Stunde auf den Beinen, trotzdem bin ich wieder der letzte auf dem Weg. Es ist mir recht, und ich frühstücke zuerst in aller Ruhe, stimme mich auf die nächste Etappe ein. Frühstücken, das habe ich gestern herausgefunden, kann ich in einer Bar gegenüber. Einfacher geht es nicht, und ich komme immer noch zeitig genug auf den Küstenweg. Später wandere ich an den Gleisen entlang durch einen Park, schmal wie ein Badelaken. Eine Brücke quert die Deba ans andere Ufer, das bis ans weit entfernte Meer reicht. Der nächste steile Weg verlässt die Ría auf den nächsten Berg, durch einen Wald und noch höher hinauf, wo noch mehr Berge vor mir liegen. Der Camino del Norte wendet der Biskaya den Rücken zu, biegt südlich ins Landesinnere ab. Die Bäume stehen dicht auf den Hügeln und versperren plötzlich die Sicht aufs Meer. Der Himmel ist bedeckt. Wie es gestern endete, beginnt es heute. Der Küstenweg steigt immer höher hinauf. Anhöhe folgt auf Anhöhe, Tal auf Tal. Die Wolken hängen tief und regenschwer. Es ist feucht geworden, und ein nasser Film bedeckt Kleidung und Rucksack. Der Wind bläst mir kalt entgegen. Die Luft fühlt sich kälter an, als sie ist. Der Schweiß, der gestern schnell in der Sonne trocknete, kühlt mich heute ab. Trotzdem klebt mir das Hemd am Rücken, mein Hosenbund ist nass und die Anstrengung treibt mir den Schweiß aus allen Poren. Ich friere, obwohl ich schwitze. Noch mehr anziehen kann ich nicht. Ich habe keine Kleidung übrig. Ich werde schneller gehen müssen, um warm zu bleiben.
Unterwegs treffe ich Milano. Er sitzt an einer Kreuzung auf einem Baumstamm und blättert in seinem Wanderführer. Plaudernd machen wir uns auf den Weg nach Olatz. An einer Kreuzung öffnet gerade eine einsame Bar. Drinnen belegt eine Gruppe spanischer Pilger lautstark alle Tische. Ich hole mir einen heißen Milchkaffee, um mich aufzuwärmen, während Milano weitergeht. Als ich mit meinem Becher auf die Terrasse komme, sitzt Karla auf einer der Bänke und frühstückt ihr heiliges Brot. Der Kuckuck ruft mir sein Mantra hinterher. Es klingt nach „Free Your Mind!“ Zieh weiter, verstehe ich, und verlasse Karla nach ein paar Worten und eile Milano hinterher. Wo du gestern warst, ist vergangen, und nicht mehr so wichtig. Einige Gedanken haben überlebt, viele sind es nicht, vielleicht reichen sie für einen Eintrag ins Tagebuch.
Es gefällt mir, in der Fremde zu wandern, durch unbekannte Landschaften, ohne zu wissen, was hinter der nächsten Kurve auf mich wartet. Die Fremde schützt mich vor Enttäuschungen, die ich in Ländern erlebte, in denen ich mehr als einmal gewandert bin. Die Illusion, das Erlebte könnte sich noch einmal wiederholen, zerbricht an der aktuellen Realität. Ich liebe meine Erinnerungen, aber wiederholen muss ich sie nicht. Die Benutzung des eigenen Körpers als Fortbewegungsmittel, gepaart mit der intensiven, leiblichen Berührung durch die Umgebung, in der Ferne oder im Nahraum, die Abwesenheit von gemessener Zeit, entwickelt ein hohes Maß an Sensibilität und affektivem Betroffensein. Ich denke selten an den Apostel und seine Stadt. Immer nur an den gegenwärtigen Pfad, den Weg oder die Straße. Daran, was hinter der nächsten Biegung zu finden und zu erleben ist. Daran, am Nachmittag anzukommen, etwas zu essen und ein Bett zu finden. Über dieses Ziel hinaus gehen meine Gedanken selten. Viel öfter denke ich rückwärts, und an das, was mein Leben ausmacht. Immer weiter gehen, kein unmittelbares Ziel zu haben, daran erkennt man den Pilger, der ein Suchender ist. Täglich begegnen mir Menschen aus ganz Europa, auch aus den beiden Amerika sind welche gekommen, selbst aus Fernost. Nur aus Afrika begegnet mir niemand. Ich treffe neue Pilger, die von gestern sehe ich oft nicht wieder. Morgen werde ich andere kennenlernen. Die Pilgergemeinschaft auf dem Camino del Norte ist vielfältig. Immer häufiger begegne ich mir noch unbekannten Männern und Frauen jeden Alters. Die Jüngsten unter ihnen sind noch in den Zwanzigern, die Ältesten schon in den Achtzigern.
Sechsundachtzig war die Älteste von ihnen, zweiundzwanzig der Jüngste, die ich getroffen habe. Es mag jüngere geben, doch über neunzig Jahre alt war niemand. Leben jenseits der Neunziger, wem dass vergönnt ist, scheint anderen Bedürfnissen zu folgen. Frauen bilden die Mehrzahl unter den Pilgern, meist sind sie zu zweit oder zu dritt, selten allein. Das Alter spielt keine Rolle. Paare, dominieren die Jakobswege. Ob schwul oder transgender, sieht man niemandem an. Häufig überreden die Frauen ihre Männer, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Es gibt auch solche unter ihnen, die ihre Frauen nicht allein gehen lassen wollen, und sie begleiten, damit sie die lange Fußreise heil überstehen. Galante Ritter und Alltagshelden. Etwas Kontrolle ist auch dabei. Männer ohne Begleitung gibt es in jedem Alter. Die meisten sind deutlich jenseits der Fünfzig. Jede soziale Schicht ist vertreten: Claudine, eine wohlhabende Rentnerin aus Toulouse, geht den ganzen Tag, zehn Stunden lang, langsam, mit kleinen Schritten, aber immer an die dreißig Kilometer täglich. Ihr Gepäck trägt sie selbst. Abends gehört sie zu den entspannten, gut gelaunten Gästen in den Herbergen. Sie lässt sich die Anstrengung, die ihr Gang unterwegs verrät, nicht anmerken. Am anderen Pol wandert Werner aus Stuttgart, gerade fünfundsiebzig Jahre alt geworden, täglich die zwanzig Kilometer, die er zuhause trainiert hat. Sein Gepäck wird transportiert, seine Unterkunft hat eine Agentur gebucht, die auch seine Pilgerreise geplant hat. Eine Badewanne für die müden Knochen inklusive. Ohne die geht es nicht, verrät er mir. Nun hastet er hightech-gekleidet, mit leichtem Rucksack für Proviant und Regencape, über den Jakobsweg. Er legt großen Wert darauf, jeden Kilometer selbst gegangen zu sein. Er erinnert mich an die Adeligen früherer Jahrhunderte, die den Jakobsweg mit allem Luxus absolvierten. Manche von ihnen schickten sogar einen Stellvertreter auf die Reise. Werner nennt sich selbstkritisch, mit einem Zwinkern, einen Edelpilger. Sven, aus Schweden, Wikingertyp und Pfeife rauchend, mit über die Schultern fallenden Zöpfen, lebt seit Jahren ohne Geld auf den Jakobswegen. Er ist einer der Originale unter den Pilgern. Auf unerfahrene, junge Wanderer wirkt er unheimlich; sie verstecken ihr Geld vor ihm. Doch er strahlt die Gemütlichkeit eines Großvaters aus, dem ich, ohne zu zögern meine Kinder anvertrauen würde. Oder Ralf, ein Hesse aus Marburg und Frührentner, mit bescheidenen finanziellen Mittel, der davon träumt, in Galicien zu bleiben, es aber wegen seines fünf Monate alten Enkels, der wie ein Sohn für ihn ist, nicht tut. Suzanne, Heiltherapeutin und Schamanin aus Oxford, wo sie eine spirituell orientierte Praxis betreibt, schöpft auf Jakobswegen jährlich Kraft. Unterwegs reinigt sie sich von den negativen Energien ihrer Patienten. Seamus, aus Dublin, berät Unternehmen, übernachtet nur in Hotels, und braucht eine Auszeit. Marius, nicht Westernhagen, verrät er mir, als ich ihn beim Pilgermenu treffe. Er ist Manager in Wolfsburg, nennt sich selbst einen Camino-Sammler. Ich kenne kaum einen der vielen Jakobswege mit Namen, die er bereits gegangen ist. Inzwischen hat er begonnen, sie rückwärtszugehen, weil kein anderer übrig geblieben ist, den er noch vorwärts gehen kann. Ich habe keinen anderen Pilger getroffen, der so leistungsorientiert ist, obwohl die meisten es ein bisschen sind. Aufgedreht wie ein Kokser, spricht er davon, süchtig zu sein. Er kann nicht mehr aufhören, obwohl seine Familie damit nicht glücklich ist. Auch Miranda aus Rumänien ist unterwegs, Eventmanagerin und Freelancerin, gerade einmal Mitte zwanzig, und bereits weit gereist. Jetzt geht sie das erste Mal im Leben zu Fuß. Auf den Jakobsweg hat sie gefunden, ohne genau zu wissen, was das für sie bedeutet. Sie ist einer Faszination erlegen, von der ihr andere erzählt haben. Nach wochenlangem Gehen freut sie sich auf Bilbao, ihr nächstes Ziel, und darauf, wieder einmal richtig zu feiern. Sie ist international, die Pilgergemeinde, friedensbewegt und umweltbewusst. Imagine ist ihre Hymne. Jenseits aller individuellen religiösen, spirituellen und sportlichen Motive folgt die Gemeinde der Pilger diesem Ideal. Pilgern ist zu einer Metapher für ein Wandern für den Frieden geworden, grenzenlos und idealistisch, wenn das auch nicht jedem bewusst ist, widerspricht doch niemand. Gäbe es diese eine Welt, von der Lennon singt, besitzlos, ideologielos und brüderlich, viel wäre gewonnen. Die Möglichkeiten liegen wie immer bei den jüngeren Generationen, wenn sie ihre Erfahrungen in der Liminalität des Pilgerns in ihr zukünftiges Alltags- und Berufsleben übertragen. Hoffentlich verspielen sie diese nicht zwischen Egoverhaftung, Konsum und Gleichgültigkeit. Ihnen allen schwebt die andere, bessere Welt vor. Wer wochenlang zu Fuß gegangen ist, dem fällt es schwer, plötzlich stehen zu bleiben. Es scheint, niemand will auf die Glücksgefühle verzichten, die das Wandern hinterlässt. Die Kunst besteht darin, das Erworbene mit nach Hause zu nehmen, sich nicht nahtlos in die alten Routinen zu integrieren, sondern sich Nischen zu schaffen, in denen neue Gefühle und Ideen wachsen können. Zu bewahren, was in Wochen ergangen und erfahren wurde.

Obwohl es auf dem Küstenweg voll geworden ist, wandere ich stundenlang allein durch die Küstenlandschaft, die immer nach Meer riecht, auch wenn ich es nicht sehen kann. In irgendeinem der Täler weit vorne, muss Markina-Xemein liegen. Weiter werde ich nicht gehen, doch es wird Abend bevor ich hinabsteige. Manchmal fühle ich mich wie der einzige Mensch auf dem Camino und bin doch in einen Schwarm eingebunden, in ein Netzwerk von Menschen, die in der gleichen Richtung unterwegs sind. Nach Markina, wo ich sie wiedersehen werde, wenn auch nicht sicher. Selten kommt mir jemand entgegen, manchmal ein Dorfbewohner mit seinem Hund, oder eine Kuhherde, die ein Bauer von der Weide in den Stall treibt. Die meisten Beziehungen zu anderen Pilgern sind lose, oft flüchtig, und von den Ereignissen des Tages geprägt, die immer wieder ausgetauscht werden. Dennoch: Nobody Walks Alone! So hat es jemand an die Wand einer Unterführung gesprüht.
Anorpe ist ein kleines, uninteressantes Dorf. Abseits vom Küstenweg schmiegt es sich in eine Mulde. Die Pfade bleiben steil und steinig, Maultierpfade, auf denen früher Händler und Schmuggler reisten. Ich treffe keinen von ihnen, dafür zahlreiche Schafe und Ziegen, die das spärliche Gras zwischen den Steinen ausrupfen. Für Menschen, die in ihrem Leben mehr saßen als gingen, sind diese Pfade nicht gedacht. Das Wandern auf ansteigenden, unebenen Wegen wird immer anstrengender. Die nicht endende, fantastische Aussicht in die Bergwelt entschädigt mich für diese Kletterei durch die baskischen Berge. Die Schönheit der Landschaft, und die Endorphine, die die Anstrengung freisetzt, lassen leicht vergessen, was der Körper leistet. Wenn ich mich umschaue, mäandert der Küstenweg hinter mir durch die grünen Hügel. Eine herrliche Mittelgebirgslandschaft im trüben Licht eines sonnenlosen Nachmittags. Dafür leuchtet es in mir. Die Farben des Waldes: Grün, Ocker und Braun. Der Weg schlängelt sich aufwärts, wenige Kilometer später hinab in die nächste Senke. Und dann steige ich wieder bergauf.
Milano wartet an einem Kreuzweg auf mich. Er sitzt auf einem grün bemoosten Felsblock, und lädt mich ein, ihm Gesellschaft zu leisten. Wir teilen ein Stück altes Weißbrot, einen Rest Käse, ein paar Schluck Wasser. Die letzte Achthundert-Meter-Steigung. Er zeigt mir das Höhenprofil auf seinem Smartphone. Ab morgen meint er, geht es nicht mehr so hoch in die Berge, doch erst ab Bilbao wird es flacher. Erfreulich, und zugleich schade, denn ich beginne die baskischen Berge zu mögen. Der weit schweifende Blick über die Gipfel, die einsamen Höfe in den Bergtälern, der eine oder andere bewaldete Hügel, die prächtigen, solitären Bäume und das Netz der rechteckigen Steinwälle, die die Landschaft wie ein Schachbrett gliedern. Die ausgedehnten Blumenwiesen mit Dutzenden verschiedenfarbigen Blüten. Als Kind habe ich zuletzt eine solche Blütenpracht gesehen. Ich bezweifele, dass es so etwas in Deutschland noch gibt. Vielleicht in den abgelegenen Wäldern und Bergregionen, wo für Menschen nichts zu holen ist, nichts, dass sich profitabel vermarkten lässt. Die fetten grünen, mit Gras, das bis an die Waden reicht, bewachsenen Wiesen, die vielen weidenden Esel, Schaf- und Pferdeherden, und immer wieder die Täler unter mir, mit Bächen und kleinen Flüssen zwischen den unterschiedlich grün gefärbten Hängen. Das Baskenland ist unbeschreiblich schön. Oft fehlen mir die Worte. Es ist ein Privileg inmitten dieser Berge zu wandern, in einer Natur, der trotz sichtbar landwirtschaftlicher Nutzung ein Rest von Ursprünglichkeit anhaftet.
Für den Hochgebirgskletterer Reinhold Messmer sind Achttausender das, was für mich die baskischen Achthunderter sind. Ich übertreibe, doch mir kommt es so vor. Nicht die Herausforderungen sind es, die eine Landschaft bietet, es ist die Anstrengung, die es kostet, sie sich zu erschließen. Es kommt nicht auf die Höhe eines Berges an, nicht auf körperliche Kondition oder Hochleistung, nicht auf Prestige und Statusgewinn. Jeder kann durch jede Landschaft wandern, nur Übung, Disziplin und Geduld braucht es dazu. Es ist das Erlebnis, die Intensität des Empfindens, das zählt, das individuell und subjektiv am eigenen Leibe spürbar wird. Diese Erfahrungen sind unlöschbar. Niemand denkt genauso darüber, jeder empfindet es anders und macht eigene Erfahrungen, bringt seine Voraussetzungen mit. Es kommt darauf an, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sich an ihnen zu freuen, und die Herausforderung anzunehmen, die sie mit sich bringen. Es ist ein erhebendes Gefühl, nach einem mühsamen Aufstieg endlich oben anzukommen und hinabzuschauen: On Top Of The World zu sein. Ich glaube nicht mehr, dass dieses Gefühl von einer Herausforderung und dem Schwierigkeitsgrad abhängt. Es kommt nur darauf an, dass sie bewältigt wird. Ein Augenblick des Einsseins und des Einverstandenseins mit sich, mit allem, was ist. Irgendwo dort oben in den Bergen, wo die Provinz Gipuzkoa endet, treffe ich die beiden Dortmunder wieder. Nur noch einen Schritt weiter und ich bin in Bizkaia. Àlava, die dritte baskische Provinz liegt nicht am Camino del Norte. Eine kurze Rast, Fragen nach dem Befinden, dem Woher und Wohin. Während die beiden korpulenten Pilger vom gerade erst bewältigten Aufstieg mit hochrotem Kopf noch keuchen, zünden sie sich bereits ihre nächste Zigarette an. Bei mir führt das tagelange Gehen zu einer anderen Sucht. Intensives Gehen fördert, richtig betrieben, wie jede andere Sportart, das Bedürfnis weiterzugehen. Nur die körperliche Kondition setzt die individuelle Grenze. Eine Grenze für die rauschhaften Gefühle und die psychische Befindlichkeit gibt es nicht. Die anhaltende, gleichmäßige Bewegung des Gehens verbürgt den intensiven Kontakt mit der Umgebung. Der nur durch die Übernachtung in einer Herberge unterbrochene Aufenthalt im Freien ist für mich ungewohnt. Fast schon außergewöhnlich. Ich bin erstaunt, die unterschiedlichen Stimmungen, Nuancen und Färbungen der Natur um mich herum noch spüren zu können, ihren Duft zu riechen und ihre Geräusche zu hören. Ich habe diese Intensität nicht erwartet, gewundert hätte es mich nicht, wenn sie mir im urbanen Leben verloren gegangen wären. Noch sind meine Sinne nicht so abgestumpft, wie ich befürchtet habe. Es lässt sich viel zurückgewinnen. Trotzdem bin ich ein Anfänger, ein Lehrling, der unterwegs seine Aufmerksamkeit und Empfindungen schult. Die Konzentration auf das Wesentliche in der Anstrengung des Gehens überschwemmt mich mit Glücksgefühlen. Der Mensch beginnt bei den Füßen, schreibt André Leroi-Gourhan in seiner Studie Hand und Wort. Als der Mensch sich aufrichtete, sich auf zwei Füße gestellt hat, befreite er gleichzeitig Hand und Blick. So förderte er das Wachstum seines Gehirns. Was das für das menschliche Bewusstsein bedeutet, will ich hier nicht erwähnen. Gehen ist zuallererst eine körperliche Aktivität, die sich psychisch auswirkt. Unter freiem Himmel gehen ist die beste Therapie gegen Depressionen. Gehen heißt, durch den Körper wahrnehmen, zu spüren und zu empfinden. Gehen fördert und schult die sinnliche Wahrnehmung, und öffnet unser Bewusstsein für unsere Umgebung, für die Welt. Gehen ist meditativ, und es kommt nicht selten vor, dass ich mich nach einer Wanderung verändert fühle. Gehen ist nicht allein eine Vorwärtsbewegung durch den Raum, Gehen führt den Fußgänger auch wieder zu sich zurück. Ganz nebenbei, ohne sich darum zu bemühen, fördert Gehen Selbstbestimmung und Selbstsorge. Gehen ist Arbeit an der eigenen Lebenskunst, die dem Leben einen Sinn geben kann: Übungen, die dem Leben eine Form geben, Formung von Gewohnheiten, Umgang mit Ängsten und Schmerzen, mit dem Phänomen der Zeit, seinen Affekten, seinen Widersprüchen, negativen Gedanken, seiner Melancholie und Gelassenheit. Während einer Fußreise gibt es immer wieder neue Erfahrungen zu riskieren. Wer in dieser Hinsicht unterwegs ist, steht mitten im Leben; oder sollte ich besser sagen: geht mitten durch sein Leben. Lebenskunst ist nicht das, was wir haben, sondern das, was wir immer aufs Neue erwerben müssen, um Selbstmächtigkeit zu gewinnen, uns selbst, das eigene Leben zu formen, zu transformieren und leiblich zu vollziehen. Der Moment, in dem uns das gelingt, ist der Ewigkeitsmoment, der dem reinsten Glück am nächsten kommt. Wir dürfen ihn nicht ungenutzt verstreichen lassen. Doch worin besteht der richtige Gebrauch der Zeit, die wir haben?
Im Zeitalter der Hypermobilität sind Fußreisen subversiv. So sahen es die Wandervögel und frühen Anarchisten, die amerikanischen Hobos und Beatniks sowie die nach ihnen kommenden Hippies, die auch moderne Fortbewegungsmittel nutzten, weil sie weiter fortwollten als die Wandervögel, die im Nahbereich unterwegs waren, jemals gekommen sind, weiter fort als alle anderen, und manchmal sogar von sich selbst. Vor allem eins wollten sie sein: frei und selbstbestimmt leben, auch wenn sie dazu auf den höchsten Berg steigen oder bis ans Ende der Welt reisen mussten. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor. Teilhabe statt Besitz. Bewegung statt Konsum. Eine innere und äußere Balance von Natur und Kultur: nachhaltig, ökologisch und friedlich. Eine Welt, die so beschaffen ist, bildet eine sozial gerechte Lebenswelt. Die modernen Pilger setzen diese Tradition als dritte Generation fort. Die Renaissance des Pilgerns findet ganz und gar nicht in mittelalterlicher Frömmigkeit statt. Es geht auch nicht länger um eine Beziehung zu Gott, die modernen Pilger wollen das Joch des Materialismus abschütteln, sich mit der Natur verbünden, gegen deren Ausbeutung und die Entfremdung von sich selbst. Sie träumen von dem viel beschworenen, sanften ökologischen Fußabdruck, der Verweigerung des immer weiter so des Neoliberalismus, aus der die Alternative erwächst, die das Wort für eine andere Zukunft ergreift. Immer wieder muss dem dekadent gewordenen Establishment, das nichts so sehr hasst wie Veränderungen und das Glück aller, ein Spiegel vorgehalten werden. Einer Bourgeoisie, die unsere Welt zerstört, um ihre Destruktivität als Norm durchzusetzen. Politiker und Wirtschaftsbosse, die die Welt durch ihre eigene Unfähigkeit, das Gute zu sehen, der Habgier ausliefern, erklären uns gebetsmühlenartig, dass wir immer mehr brauchen, noch mehr von dem Konsum, der uns verdummt und verfettet, uns immer weiter von uns selbst entfremdet. Was wir benötigen, ist die Umkehr zu einem ökologischen, sozialen Paradigma, zu einer wirklichen Alternative. Aber die finden wir nicht auf dem Arsch sitzend. Wir brauchen keinen neuen Jesus, keinen Che Guevara und auch keinen Ghandi. Wir brauchen keine Sozialrevolutionäre oder weitere Heilsbringer und deren Fehleinschätzungen. Nicht der Cyborg ist das Modell der Zukunft, sondern der Fußgänger. Wer das nicht glaubt, der frage Schneemensch, den Anti-Helden in Margaret Atwoods MaddAdam-Trilogie.
Das moderne Pilgertum lässt sich am besten als eine intelligente Schwarm-Bewegung verstehen. Der Pilgerstrom auf der Pilgerautobahn verhält sich kollektiv intelligent, nicht rational-analytisch, eher intuitiv-emotional. Ohne es sich bewusst zu machen, es verbal zu äußern, wissen die modernen Pilger, die zahlreich auf dem Weg sind, dass Gehen eine Alternative darstellt; eine heilsame physisch-psychische Wirkung ausübt. Der kollektive Superorganismus Pilger erprobt neue Lösungen zur Bewältigung von sozialen Anforderungen. Am besten gelingt das im liminoiden Grenzbereich. Der Schwarm, der die Individuen wie Zellen miteinander verbindet, ist das Nervensystem dieses kollektiven Organismus, der gemeinsame, konsensbasierte Entscheidungen trifft. Der Einleibungseffekt, wie Vertreter der Neuen Phänomenologie dies nennen, hat für die Mitglieder der kritischen Masse Pilgerbewegung eine transformierende Wirkung. Der ökologische Fußabdruck des Gehens besitzt in unserer postmodernen Gesellschaft die Bedeutung einer Überlebensstrategie, die das apokalyptische Ende des aufrechten Gangs abwendet.
Auf schmalen Pfaden gehe ich noch immer durch den Bergwald, bis er schließlich an einer steilen, abwärts führenden Betonpiste hinunter nach Markina-Xemein endet. Ohne Kurven fällt die Straße fast einen Kilometer abwärts, bis mein Knie, das schon schmerzfrei war, wieder schreit. Unten angekommen, bin ich stolz und zufrieden mit mir und allem, was war. Welch ein Tag! Welch eine überwältigende Natur! Am Ortsrand von Markina empfängt mich eine ungewöhnliche mittelalterliche Kapelle, San Miguel de Aretzinaga, die sich über drei Megalithen erhebt. In dem schmucklosen Innenraum lehnen die drei Felsen aneinander, unter ihnen ein einfacher Altar mit einer Holzstatue des Heiligen Michael von Aretzinaga. Der Heilige, dem seine Lanze abhandengekommen ist, besitzt nur noch einen weißen Schild mit dem roten Kreuz der Santiago-Ritter. Er blickt mich an, wie der sympathische Junge von nebenan. Unbeteiligt, mit gelangweiltem Blick, steht er auf dem halbmondförmig gekrümmten Drachen wie in einem Boot. Auch der Drache besitzt nichts von der Gefährlichkeit seiner Gattung, er wirkt harmlos, nicht schrecklich wie das Ungeheuer, das er ist. Sankt Michael muss ihn wohl gezähmt haben. Auf dem Vorplatz der Kirche hat eine kopfsteingepflasterte Ochsenrennbahn die Zeiten überdauert. Ochsenrennen sind eine traditionelle Sportart im ländlichen Baskenland, bei der die trägen Ochsen unter dem anfeuernden Gebrüll ihrer Besitzer schwere Steine über das Kopfsteinpflaster ziehen müssen. Die passenden Steine liegen am Rand der Bahn noch bereit, aber ich glaube nicht, dass vor der Kirche noch solche Rennen veranstaltet werden. Mir gefällt es, dass die Ochsen schwere Steine schleppen, was ihrer ungeheuren Kraft viel besser entspricht, als als Stier mit bunten Banderillas im Leib im Sand einer Arena ihr Leben ausbluten.
Die Pilgerherberge von Markina-Xemein befindet sich im Convento de los Padres Carmelitas. Im Kloster der Karmelitermönche ist heute deutsche Welle. Spöttisch weist mich der nicht sehr freundliche Bruder an der Rezeption gleich mehrfach darauf hin, dass er so viele deutsche Pilger merkwürdig findet. Er sagt das mit einem so süffisanten Unterton, dass ich mich stigmatisiert fühle. Was der Mönch nicht weiß, habe ich unterwegs erlebt: Mir folgen noch viel mehr Deutsche hierher. Ich habe nagenden Hunger. Mehr als zwanzig Kilometer mit einem Croissant und etwas Brot und Käse ist wohl doch zu wenig. In der letzten Bar in Olatz war ich noch nicht hungrig, und seitdem bin ich nur durch Wald gegangen. Schnell eingecheckt, ein Bett, kein Etagenbett, im Schlafsaal D gesichert und in die nächste Bar. Ein paar Pintxos, und schon geht es mir besser. Am Tresen gegenüber sitzen drei Schwaben beim Bier, die sich ihrer heutigen Großtaten rühmen. Ungeniert zeigen sie öffentlich den Zustand ihrer Füße vor und diskutieren ausführlich über Blasen und Hornhaut. Ich kann verstehen, dass die Füße das wichtigste Gut eines Wanderers sind, aber den Kult, der auf den Jakobswegen um die Füße betrieben wird, finde ich befremdlich. Ich frage mich bereits, ob meine Füße wohl ganz anders auf den Weg reagieren, ob sie weniger empfindlich sind als die der anderen Pilger. Ich empfinde nicht das Bedürfnis jeden Abend als erstes meine Füße zu erkunden. Bei der Ankunft sind sie müde gelaufen, sicher, das stimmt, doch eigentlich fühlen sie sich ganz normal an. Die drei Schwaben, in modischer Freizeitkleidung, wie man sie auch auf einem Tennis- oder Golfplatz findet, sind keine Pilger. Sie gehören zur Gruppe der Wandertouristen, die heutzutage den Camino del Norte erobern. Schlagartig verstehe ich jetzt auch den spöttischen Kommentar des Karmelitermönchs.

Es gehört zum Reisen, sich anzusehen, was andere Menschen, Einheimische oder Wanderer, treiben. Manchmal fühle ich mich als Voyeur, und etwas schuldbewusst. Doch ich reise, um zu lernen, zu verstehen, und weiterzugeben. Immerhin bin ich ein schreibender Voyeur, der nicht nur nimmt, sondern auch zurückgibt. Am liebsten sind mir die wenig frequentierten Gegenden, in denen die Menschen ihr herkömmliches Leben führen. Ich kann besser verstehen, wo ich bin, wenn ich nicht auf Schritt und Tritt Menschen meines Schlags begegne. Wer von den vielen ist ein wahrer Pilger? Gibt es ihn noch zwischen all den modernen Wanderern, die sich Pilger nennen? Auf dem Küstenweg sind die unterschiedlichsten Fußgänger unterwegs. Vielleicht ist der eine oder andere von ihnen ein Pilger, der auf dem Weg zu Gott ist, oder zum Heiligen Jakobus, von dem er etwas Wundertätiges erwartet, wie den Ablass seiner Sünden. Der eine oder andere wird gläubig sein, und religiös bewegt. Daneben bilden die zahlreichen touristischen Pilger die Mehrheit, die auf dem Jakobsweg ihren Urlaub verbringen. Für sie ist Wandern eine Freizeitbeschäftigung. Muskelgestählt und bergerprobt, sind sie bestens ausgerüstet. Paul Theroux ist diesen Wanderern in Mallorca begegnet, und denkt bei ihrem Anblick weniger an Wandern als an eine Invasion. Oder die große Schar junger Menschen, die von den vielen preiswerten Herbergen angelockt werden, und um die Wette wandern. Immer wieder sehe ich Wanderer, die sich ihren Rucksack von einer Herberge zur anderen befördern lassen, um unbeschwert spazieren zu gehen. Nur wenige von ihnen sind körperlich eingeschränkt, und auf diesen Service angewiesen. Die meisten dieser rucksacklosen Pilger sind jung und besitzen eine gute Kondition. Die Sport-Pilger, die den touristischen Pilgern ähneln, bringen eine andere Motivation mit. In narzisstischer Manier wollen sie sich beweisen, Leistung bringen und gewinnen. Mit Pilgern hat das alles nichts zu tun. Und ich? Bin ich ein Pilger? So einfach ist die Antwort nicht, die von den Umständen abhängt, die sich ständig ändern. Ich bin ein Pilger, ein Wanderer und ein Tourist. Allen, denen ich begegne, und mit denen ich spreche, haben berechtigte Gründe und Motive. Wir sind aufgebrochen, um zu Fuß zu gehen, sind glücklich und zufrieden, sind die alltäglichen Rituale daheim eine Zeitlang losgeworden, und gewinnen neue Perspektiven. Reicht das nicht aus, sich Pilger nennen zu dürfen.
Abends gehe ich einkaufen, frage mich zu einem Tante-Emma-Laden und zur Apotheke durch. Ich brauche ein Frühstück, Wasser, Erdnüsse und Bananen für unterwegs. Mein Spanisch wird selbstständiger, wenn ich auch die Antworten nur zum Teil verstehe. Gerade genug, dass ich erraten kann, was man mir sagt und rät. Als ich kurz vor zehn ins Kloster zurückkomme, schaffe ich es gerade noch in den Schlafsaal, als hinter mir der Bruder von der Rezeption schimpfend das Licht ausschaltet. Im Convento de los Padres schließt man die Pilger für die Nacht ein. Mein Bett finde ich nur mit Hilfe anderer, die ihre Taschenlampen einschalten. Es ist nicht einfach, sich im Stockdunklen für die Nacht fertigzumachen.


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