There`s a natural mystic
Blowin` through the air
If you listen carefully
Now you will hear
Bob Marley
Ich mache keine Reise, sondern viele kleine Reisen, die sich wie ein Puzzle allmählich zu einem Bild fügen. Jeden Tag muss ich mich neu motivieren. Kein Tag ist wie ein anderer. Eine Fernwanderung ist ein Rodeo; einmal bin ich oben, dann stürze ich ab, und ich weiß nie, ob es geschieht oder wann es so weit ist. Deshalb ist es so wichtig, meinen eigenen Rhythmus zu finden, mein eigenes Tempo: physisch und physisch. Es geht mir schon lange nicht mehr um Effizienz. Es geht um Suffizienz, um Genügsamkeit, Selbstbegrenzung, Konsumverzicht, Entschleunigung, ganz allgemein, um das Abwerfen von Ballast. Slow Food / Slow Travel. Im Zeitalter der Hypermobilität ist regelmäßig zu gehen subversiv. Durch das Pilgers habe ich die Langsamkeit wiederentdeckt, schreibt Susanne Laser in ihrem vergnüglichen, und darüber hinaus sehr lehrreichen Pilgerbuch Kein Hawaii, und gespürt, wie zerstörerisch es für den Körper ist, einem fremden Tempo ausgesetzt zu sein. Der Entschleunigung, der Wiederentdeckung der Langsamkeit, hat sich der Verein zur Verzögerung der Zeit verschrieben. Was die anderen tun, das ist, was die anderen tun. Ich kann nur ich sein. Was ich auf einer Fernwanderung lernen kann, denn nichts anderes ist pilgern, ist bei mir zu sein, mich nicht erst zu finden, sondern von Beginn an Ich zu sein. Woher weiß ich, wer Ich bin? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, brauche ich nur nach innen zu spüren. Wer sonst als Ich kennt die Antwort auf diese Frage.
Der letzte Anstieg nach Óbanos, nass, wie ich inzwischen bin, endet in der Bar des Orts, die glücklicherweise bereits früh geöffnet ist. Endlich im Warmen, und nicht zu früh, denn ich habe genug vom Regen, genug gefroren, und will endlich wieder trocken sein. Die restlichen Kilometer nach Puente la Reina sind schnell geschafft. Als ich die gemütliche Bar verlasse, hat der Regen aufgehört, und bis Mañeru nicht wieder eingesetzt. Am Ortseingang von Puente la Reina steht ein Metallpilger auf der Kreuzung von zwei Jakobswegen, und verkündet: Desde aqui todos los caminos a Santiago se hacen uno solo. Was nicht anderes meint, als dass von hier ab der Camino Francés von Saint-Jean-Pied-de-Port über Roncevalles und der Camino Francés von Aragon über den Somport-Pass – uno solo – eins sind.
Puente la Reina, durch das der Jakobsweg immer nur geradeaus führt, entspricht dem Mittelalter-Klischee eines spanisches Cascos Antiguo. Oder wie man die Altstadt heute nennt: Centro Historico. Enge, gepflasterte Gassen ohne Verkehr, in die Jahre gekommene, charmante Fassaden aus einer anderen Zeit, die unaufgeregte Atmosphäre von Zeit haben. Als ich eintreffe, glänzt das Pflaster noch regennass. Es sind kaum Menschen unterwegs, und Pilger, anders als gestern, sehe ich nur gelegentlich. Vor der klassizistischen Iglesia de San Pedro bietet mir ein Mann so nachdrücklich einen Stempel für meinen Credenzial an, dass ich nicht umhinkann, ihm in die Kirche zu folgen. Drinnen ein paar Pilger, die das überladene Dekor des Hauptaltars und der Seitenkapellen bestaunen.
Puenta de la Reina, die Brücke der Königin. Wieder einer dieser Namen, die mich verzaubern. Ohne etwas zu verraten, klingt er magisch, und die Fotos, die ich gesehen habe, verstärken diesen Eindruck noch. Er löst Assoziationen an eine Zeit aus, in der das Leben in Rhythmen verlief, die von den unseren so verschieden sind, dass wir uns nicht einmal vorstellen können, wie sie sich angefüllt haben mögen. Sicher, wir wissen viel über das Hochmittelalter und die Romanik. Aber das sind dürre Fakten, an eine Außenperspektive gebunden, jahrhundertelang nachdem die sich ereignet haben. Was bedeutet dagegen die Farbigkeit und Lebendigkeit der Wirklichkeit; verglichen mit dem alltäglichen Leben wie es war. Wir pflegen fiktionale Vorstellungen, idealisieren und schaffen uns ein Mittelalter á la carte.
Die romanische Brücke des Orts aus dem elften Jahrhundert gehört zu den mittelalterlichen Bogenbrücken, auf die ich während meiner Wanderungen in Spanien oft getroffen bin. Ihr Name ist eng mit dem Namen Muniadona verbunden, Gräfin von Kastilien und spätere Frau des navarresischen Königs Antso Nagusia, alias Sancho III. Mayor, unter dem Navarra im 11. Jahrhundert eine kurze Blütezeit und Vormachtstellung unter den christlichen Reichen Spaniens erlebte. Da im Ort der aragonesische und der navarresische Zweig des Jakobsweges am Fluss Arga aufeinandertreffen, beabsichtigte Munia Mayor den Pilgern nach Santiago mit dem Bau der Brücke der Königin die gefährliche Flussüberquerung zu ersparen; damals als ein gottgefälliges Werk aufgefasst. Allerdings ist nicht völlig gesichert, ob es wirklich Munia Mayor war, die die Brücke in Auftrag gab. Auch ihre Schwiegertochter Estefanía, die Frau von Garcia III., dem ältesten Sohn von Sancho und Munia, kommt als Stifterin in Frage. Nur die Datierung des Baus der Brücke in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts ist gesichert.
Mañeru ist das nächste hübsche kleine Städtchen an der Schnur des Camino Francés, dass seine Stadtrechte (fueros) schon 1193 durch Sancho VI. erhielt, doch bereits in römischer Zeit besiedelt war. Das Zentrum des Dorfs hat seine unregelmäßige, mittelalterliche Stadtstruktur bis heute bewahrt. Ich kann es nicht lassen, und habe es wieder getan. Trotz noch immer schmerzender Muskeln in den Oberschenkeln, war ein Bummel durch Mañeru zu reizvoll. Der Regen hat sich inzwischen verzogen, den blauen Himmel schmücken weiße Wattebäusche, was hoffen lässt. Die Gassen sind eng, fast kann ich die Fassaden mit ausgestreckten Armen berühren. Für Autos keine Chance. Zahlreiche Häuser mit repräsentativen Portalen, über denen ein Wappen prangt - ich kann mir vorstellen, der Stolz Mañerus. Die beiden Tage auf dem Camino Francés haben meine Bedenken ausgeräumt. Ich gehe ohne besondere Schwierigkeiten. Ich fühle mich befreit. Stürmische Böen haben meine Gedanken geklärt und meine Gefühlte gereinigt zurückgelassen. Ich bin zugleich erschöpft und glücklich, keine Zweifel, und erst recht keine kleinlichen Bedenken mehr. Der Sturm ist durch mich hindurchgerast. Hinterlassen hat er ein Gefühl des Neubeginns, in dessen Aura die vergangenen drei Jahre versinken. Es tut gut, endlich wieder unterwegs zu sein.
Als wir uns gestern Abend in der Albergue El Cantero zum Abendessen trafen, ein treffender Name, denn er bedeutet Der Steinmetz, ergab es sich fast von selbst über unser Motiv, auf dem Jakobsweg zu wandern, zu sprechen. Vorgestern Abend saß ich in Uterga, beim Abendessen, in einer Gruppe Amerikaner, die mich zugetextet haben. Heute sind wir international und zugewandt. Jeder von uns war in seinem Leben schon einmal in einer Situation, in der er weder vor noch zurückkonnte, und war als Konsequenz auf dem Jakobsweg gelandet. Nun geht es darum, herauszufinden, was noch gültig ist, um damit neu zu beginnen. Was im alltäglichen Leben wie ein Klischee klingt, kann auf dem Weg nach Santiago zu einer Aufgabe und Herausforderung werden. Es fängt an mit dem täglichen, beharrlichen Gehen; ohne zu wissen, was sich ereignen wird. Das Vertraute ist dem Fremden gewichen, eine spannende Atmosphäre, in der es nun wochenlang weiter gehen kann. Die Gedanken werden assoziativ, und meine Gefühle gelassener. Meine Geschwindigkeit passt sich allmählich diesem Gleichmut an. Ist dieser Dreischritt aus Gehen, Spüren und Denken in den ersten zwei Wochen erst einmal entstanden, geht es sich weiter wie von selbst. Das allein schon ist Aufgabe und Herausforderung genug. Es geht dabei nicht um einen diffusen Sündenablass, weder schriftlich noch mündlich, es geht um den Versuch, mit sich selbst ehrlich in Kontakt zu kommen.
Der Tag sieht vielversprechend aus. Die Sonne geht über Mañeru auf, und wirft ihr Spotlight auf das zwei Kilometer entfernte Cirauqui. Der mysteriös klingende Name bedeutet Kreuzotternnest, und ruft Assoziationen an einstige Hügel mit Heide und Felsbrocken wach, die im Gelände verstreut herumliegen, die Pflanzen krautig, die Blüten von einem zarten Lila. Im Ort, gleich am Jakobsweg, sind die Trailangel schon früh am Werk. In einer Garage haben sie ein Frühstücksbuffet aufgebaut. Mit einer richtigen Kaffeemaschine für einen guten Café con leche. Gute Qualität zu angemessenen Preisen. Als ich um die Ecke biege, ist das ein willkommener Anblick auf nüchternem Magen. Dougal sitzt an einem der Tische und winkt mich zu sich, während aus dem Lautsprecher Bob Marley sein Natural Mystic singt. Völlig anders als gestern Morgen. Heißer Kaffee und ein gut belegtes Bocadillo. Kurzweiliger Small Talk. Kann ein Tag perfekter starten.
Cirauqui liegt auf einem Hügel, wie viele spanische Dörfer. Der Camino Francés mäandert auf und ab durch mittelalterliche Gassen hinaus auf eine römische Straße und hinab ins Tal, deren originale Pflasterung noch vorhanden ist. Unten im Tal quert eine mittelalterliche Brücke ein tief eingeschnittenes Bachbett. Von der Pflasterung der Brücke ist nur eine Doppelreihe Bruchsteine geblieben sind. Der Weg windet sich den nächsten Hügel hinauf, vorbei an einem Kiosk und einem Garten mit blühenden Sträuchern und Blumenrabatten, eine Raststätte für Fußgänger, für geruhsame Leute, die sich die Zeit nehmen, zu bewundern und zu genießen, was Trailangel aus der Umgebung für sie bereitgestellt haben.
Navarra ist eine gezähmte Landschaft. Ein sanft gewelltes Land, gekleidet in Frühlingsfarben. Elegant landschaftlich. Wein, Getreide, Raps. Grüngelb geschmückt, ziehen sich noch immer sanfte Hügel den Camino Francés entlang. Auf lehmigen Wegen, noch feucht vom gestrigen Regen, dann wieder auf steinigen Pisten, immer weiter nach Westen. Dahin, wohin wir alle unterwegs sind. Dann wird der Weg zu einem Tag der vielen Straßen, einer Autobahn, und des Verkehrs. Die Etappe zwischen Puenta la Reina und Estella, so erzählt man, soll einst die schönste Navarras gewesen sein. Nun liegt der ursprüngliche Camino Francés unter dem Fortschritt begraben, der weltweit unsere Welt zerstört. Kilometerweit neben stark befahrenen Straßen zu wandern, mindert Genuss und Kontemplation. Noch sind immerhin längere Passagen in malerischer Frühlingslandschaft geblieben, die ahnen lassen, was verloren ging. Die Hänge und Wegraine protzen dann im bunten Blütenkleid. Klatschmohn und der Kuckuck, für mich Sinnbild des spanischen Frühlings. Beeindruckt von der aufbrechenden Atmosphäre des Frühlings kann ich mir nicht vorstellen, in einer anderen Jahreszeit zu pilgern. Das Erwachen der Natur erscheint mir das ideale Sinnbild für einen Neuanfang zu sein. Während der Kuckuck mir aus allen möglichen Richtungen zuruft, mal ganz nach, dann wieder entfernter, und der Wegrain rot vom Klatschmohn ist, kann ich mir die Welt nicht schöner denken.
Das Dorf Lorca, das seinen Namen mit einem der großen Dichter Spaniens teilt, ist nur eine Episode am Weg. Als ich an der Herberge vorbeikomme, fasst mich der Hospitalero, der gelangweilt im Eingang lehnt, am Arm, und fragt mich in Französisch, was ich brauche. Nach seiner Meinung brauchen Pilger anscheinend immer etwas. Ich brauche Wasser, aber nicht Französisch, und als er hört, dass aus Deutschland bin, hält er auch für mich entsprechende Floskeln bereit. Dass ich das stark gechlorte Wasser aus der Leitung nicht trinken will, ist ihm ein Rätsel, dass ich in dem Sprachengewirr nicht lösen will. Und erneut führt der Weg an einer Landstraße entlang.
Inzwischen wandere ich in einer Gruppe junger spanischer Pilger, die sich lautstark unterhalten. Das ist so seit ich in Pamplona aufgebrochen bin, und wird, befürchte ich so bleiben. Wäre dieses mein erster Pilgerweg wäre ich wahrscheinlich zufrieden, aber ich kann vergleichen, und das macht die Sache komplizierter. Glücklich, wem es gelingt, sich von seinen Erfahrungen zu lösen, um sich unvoreingenommen von Erwartungen einlassen zu können. Ich gerate in den Sog der Gruppe, gehe schneller als mit guttut, immer hinter den anderen her nach Villatuerta an den Fluss Iranzu, den die nächste romanische Bogenbrücke quert. Villatuerta ist keine Reise wert, und auch der Platz vor der Ermita de San Miguel bildet keine Ausnahme. Doch er liegt in der Sonne, hat Bänke für eine Rast, und ich lasse meine Mitpilger ziehen, die das Tempo noch einmal gesteigert haben. Der Titularheilige schaut von einem Transparent auf mich herab, dass vom Glockenturm herabhängt. Dabei verzieht er keine Miene. Etwas weiter entfernt steht er als Skulptur auf einem Sockel, und wendet mir den Rücken zu.
Estella macht sich bereits bemerkbar, noch bevor ich die Puente de Cárcel über den Río Ega am Rand der historischen Altstadt erreiche. Es wird urbaner, und, wie so oft entlang des Jakobswegs, mischt sich die Vergangenheit unter die Moderne. Die Puente de la Cárcel, auch bekannt als Puente Picudo aufgrund ihrer oben spitz zulaufenden Form, überspannt den Fluss Ega und verbindet das Viertel San Pedro de la Rúa mit der Altstadt. Die ursprüngliche Brücke stammt aus dem Mittelalter und zeichnet sich durch einen einzigen Bogen mit bemerkenswerter Höhe in der Mitte aus. Diese architektonische Besonderheit verleiht ihr ein markantes Profil. Ihr Name, Puente de la Cárcel, Gefängnisbrücke, klingt heute merkwürdig, und war in der Vergangenheit bestimmt berechtigt. Im Mittelalter als »Bercas-Brücke« bekannt, verband sie die Städte San Martín und San Miguel, mit dem Fuero-Dekret, dem Recht jeden Donnerstag einen Wochenmarkt abzuhalten. Landbevölkerung und Viehzüchter aus der gesamten Region versammelten sich hier, um ihre Waren zu verkaufen. Da die Franken in San Martín das Monopol auf einen täglichen Markt besaßen, um die Pilger zu versorgen, bedeutete das Überqueren der Brücke, die Grenzen eines Gebiets zu verlassen, das diese durch Fuero-Dekret gewährten Privilegien genoss. Die noch heute am Brückeneingang erhaltene Mauer aus großen Steinen und Schießscharten dürfte eine der ältesten der Stadt sein. Sie war Teil der Stadtmauer San Martíns, der ersten Siedlung des modernen Estellas am Jakobsweg.
Estella war schon immer ein wichtiges spirituelles Zentrum der Jakobuspilger. Noch bevor ein Pilger Estella erreicht, überragt ein hohes düsteres Gebäude den Weg, das einen gewaltigen Schatten über den Camino Francés wirft, und für einen Augenblick die Sonne aussperrt: die Iglesia Parroquial del Santo Sepulcro mit einer symbolüberladenden Fassade mittelalterlicher Steinmetzkunst; aber das sehe ich erst auf den zweiten Blick. Das Gebäude steht am Ende der heutigen Calle de Curtidores, der ehemaligen Rúa de Peregrinos, noch bevor die Häuser Estellas beginnen. Über der Kirche des Heiligen Grabes thront, hoch oben auf einem Hügel, der Estella überragt, der Konvent Santo Domingo, der Teile der alten Burgmauer integriert. Die Kirche war im frühen elften Jahrhundert der Sitz der Hermandad del Santo Sepulcro, der Bruderschaft vom Heiligen Grab, ein Orden, der eine bedeutende Rolle für Pilger auf dem Camino de Santiago spielte, sich um Pilger kümmerte und religiöse Rituale durchführte. Vielleicht gab es sogar Reliquien aus Jerusalem von den Heiligen Stätten, die die Brüder möglicherweise bewachten. Die Iglesia del Santo Sepulcro ist ein historisches Denkmal, die Kirche seit langem verfallen. Zu den architektonischen Überresten gehört die imposante Fassade mit dem Hauptportal, vor der ich fassungslos stehe, beeindruckend finde ich die Arbeiten. Ein Stufenportal mit zwölf spitzbogigen Archivolten mit zoomorph und vegetabil gestalteten Kapitellen. Im Tympanon auf drei Registern das Abendmahl, die drei Marien am Grab Christi, der Abstieg in die Hölle und der Wiederauferstandene vor Maria Magdalena. Darüber Engel mit den Instrumenten der Passion. Wie Portallöwen bewachen Jakobus in Pilgertracht und Martín von Tours im Bischofshabit den Aufgang in die Kirche. Mich faszinieren die mittelalterlichen Steinmetzarbeiten immer aufs Neue, die mir wie die modernen Graphic Novels erscheinen. Mir fehlt das Wissen, um die christliche Ikonografie der Fassade stimmig zu entschlüsseln, und so weiß ich auch nicht, wer die Galerie rechts und links des Tympanons aufreiht, doch die Betrachter von damals, viele von ihnen Analphabeten, lasen sie, wie ich eine Graphic Novel. The Medium is the Message, mit diesem Slogan dachte der Medientheoretiker Marshall McLuhan frischen Wind in eine festgefahrene Diskussion zu bringen. Doch die Bildsequenzen dieser Kirchenfassade belehren mich, dass seine Erkenntnis alles andere als neu ist.
In Estella angekommen, zögere ich nicht lange und checke in der ersten Herberge ein, die am Weg liegt: die städtische Pilgerherberge. Ein großes, geräumiges und helles Foyer, zwei Säle mit den obligatorischen Etagenbetten. An der Rezeption werde ich freundlich empfangen. Eine junge Frau, die aushilft, begleitet mich bis zu dem Bett, das mir ihre Kollegin eben erst zugewiesen hat. Sie ist Studentin, studiert Germanistik, und ergreift spontan die Gelegenheit, ihre Sprachkenntnisse zu trainieren. Sie erzählt mir, dass sie in der nächsten Woche eine Prüfung hat, und befürchtet, sie spricht zu schlecht Deutsch. Doch sie irrt sich, denn ihr Deutsch ist so gut, dass wir uns fließend unterhalten und sie mir das Wichtigste über Estella erzählt, was ein Durchreisender wissen muss. Zum Abschied sage ich ihr: »Wenn ich so gut Spanisch sprechen könnte, wie du Deutsch, hätte ich keinerlei Schwierigkeiten auf dem Weg.« Sie strahlt, schenkt mir ein Lächeln, und überlässt mich endlich dem Ankommen.
Estella wurde 1090 von Sancho Ramírez in der Nähe des Weilers Lizarra gegründet, um den zunehmenden Fluss an Pilgern kontrollieren und lenken zu können. Er errichtete eine Burg, und siedelte eine Gemeinschaft Franken auf dem rechten Ufer des Río Ega an. Nun führte der Pilgerweg an seiner Burg vorbei, und er versuchte Vorbeireisende mit Sonderrechten zum Bleiben zu bewegen. Was Estella interessant macht, sind weniger seine vielen Kirchen und Klöster, sondern seine Besiedlungsgeschichte im Mittelalter, die beispielhaft als Modell für eine Vielzahl anderer Stadtgründungen am Camino Francés dient.
Im 12. Jahrhundert bestand Estella aus drei selbständigen Stadtvierteln (barrios): San Predo de la Rúa, wo Adelige, Handwerker und Händler lebten, San Juan Bautista, mit einer gemischten Bevölkerung und dem Geschäftsviertel, sowie San Miguel, dem Barrio der Franken, die Sancho Ramírez einst hier angesiedelt hatte. Und jeder dieser drei Barrios war ummauert und mit zahlreichen Türmen gesichert.
Nachmittags spaziere ich am Ufer des Río Ega entlang, auf der Grenze zwischen den Barrios San Pedro und San Juan sowie dem der Franken in San Miguél (San Juan), auf der anderen Seite des Flusses. Noch heute begleiten den Fluss auf beiden Seiten die Hauptachsen durch Estellas, die mitten durch die historische Altstadt verlaufen wie die Calle Rú, auf dem linken Flussufer, auf der die Pilger die Stadt durchqueren, die Calle Mayor und die Calle Zapatería, auf dem linken Flussufer, dem ehemaligen Viertel der Schuhmacher (zapateros). Sie ist eine der wichtigsten Straßen im historischen Zentrum von Estella und mündet in die Calle Mayor, heute eine Fußgängerzone, mit vielerlei Geschäften.
Die einzelnen Barrios wurden damals von den verschiedenen Handwerkerzünften organisiert, deren Häuser diese Straßen säumten. Die Schuhmacher versammelten sich in ihrem Turm am Flussufer und bewohnten die parallel zum Fluss verlaufende Straße, die jetzt als Calle Zapatería bekannt ist. Eines der wichtigsten Gewerbe war das der Wollkämmer, die Wolle in den Walkmühlen am Fluss verarbeiten, wo auch der Fluss Ega die Mühle von San Miguel antrieb. Diese modernen Straßen sind Teil des mittelalterlichen Stadtkerns. Biegt man von der Calle Zapatería in die kleine Calleja de Chapitel ein, nur ein schmaler Durchgang mit gemauerten Spitzbögen, ein malerisches Relikt, das man im Gedränge der Fußgängerzone schnell übersieht, gelangt man auf einen kleinen Platz, und ans rechte Ufer der Ega, wo ein Trampelpfad unmittelbar auf dem Ufer flussaufwärts führt. Die Häuser am Ufer der Ega, wie der übriggebliebene Schuhmacherturm, der heute ein Wohnhaus ist, wurden auf den Fundamenten der Reste der alten Stadtmauer errichtet. Die Calleja de Chapitel war im Mittelalter Niemandsland, und die heutige Gasse bildete damals die Grenze zwischen den Barrios San Miguel und San Jose, die zusammen mit der Ortschaft San Martín die heutige Stadt Estella bildeten.
Der Name Estella, fragt man einen Hospitalero, wird mit dem lateinischen Stella, Stern, in Verbindung gebracht. Ursprünglich verlief der Jakobsweg durch den Weiler Lizarra, was im Baskischen Ort der Eschen bedeutet (lizar, Esche). Es war, wie gesagt, Sancho Ramírez der Estella gründete, und der dem Ort auch den Namen gegeben haben soll. Ob nun wahr oder nicht, Legende oder pure Fiktion, Sancho hat damit einen Namen gewählt, der aus allen möglichen Richtungen interpretiert werden kann. Der Jakobsweg, höre und lese ich immer wieder, wurde im Mittelalter auch als »Sternenweg«, Iter Stellarum, bezeichnet, worüber ich in einigen Beiträgen dieses Weblogs geschrieben habe. Der Jakobsweg als »Sternenweg« soll sich an dem Verlauf der Milchstraße (Camino de las Estrellas) orientiert haben, diesem quer über das Firmament gesetzten, milchigen Pinselstrich. Viele Orte und Kirchen entlang des Jakobswegs richten sich an Sternbildern der Milchstraße aus - Pic d`Estelle, Puig Tresetrelles, Les Etielles, Estella-Lizarra, Astorga, Liciella. Der Weg könnte absichtlich entlang einer kosmischen Achse positioniert worden sein, die Ortschaften so ihre Namen erhalten haben, um Pilgern eine himmlische Orientierung zu bieten. Die Verlegung Pilgerwegs durch Sancho, sowie die Namensgebung Estella, lag somit an einer strategisch wichtigen Stelle des Jakobswegs, wurde ein wichtiger Rast- und Handelsort für Reisende aus ganz Europa auf einer kosmischen Achse von Ost nach West, und betonte die Verbindung zwischen Estella und dem spirituellen Weg nach Santiago.
Das Phänomen »Sternenweg«, und zwar in Verbindung mit der Milchstraße und dem Jakobsweg, muss man sich als einen einzigen Weg in verschiedenen Perspektiven vorstellen. Der Camino Francés verläuft auf einem schmalen Band zwischen dem 42. und 43. Grad nördlicher Breite, von Jean-Pied-de-Port (42,160 N) nach Santiago de Compostela (43,880 N) in einer geografisch gerahmten Linie von Ost nach West. Die Koinzidenz von Jakobsweg, Lughweg und Camino Francés hat zu der Vorstellung geführt, dass der Weg, der als »Sternenweg« wahrscheinlich seit dem Jung-Paläolithikum besteht, auf einer Ley-Linie verläuft.
Die Annahme von der Existenz von Ley-Linien stammt ursprünglich aus der Archäologie und wurde 1921 von dem britischen Amateurarchäologen Alfred Watkins in die Diskussion eingebracht. Bei der Untersuchung alter Karten bemerkte Watkins, dass viele prähistorische Stätten - Steinkreise, Hügelgräber, Kirchen, alte Wege - scheinbar auf einer Linie angeordnet sind. Zunächst nannte Watkins diese Linien Old Straight Tracks, und behauptete, dass sie Überreste alter Handelswege oder spiritueller Pfade sind. Später prägte er für diese Verbindungen den Begriff Ley-Lines, um die geradlinigen Verbindungen zwischen historischen Stätten zu beschreiben. Der Name Ley leitet sich vermutlich vom Altenglischen lēah oder ley ab, und bezeichnet alte Wege oder Lichtungen, aber auch alte Bahntrassen.
Watkins verlieh diesen Linien keine esoterische Bedeutung, sondern sah in ihnen das Netzwerk einer geordneten Landschaftsstruktur. In den 1960er und 1970er Jahren griffen Esoteriker sein Konzept auf und erweiterten es um metaphysische Deutungen. Sie nahmen an, dass Ley-Linien nicht nur physische Verbindungslinien sind, sondern energetische Kraftlinien, an deren Kreuzungen besondere spirituelle Energien konzentriert sind. Mit dieser Vermutung knüpften sie an den Sachverhalt an, dass an bestimmten Orten immer wieder »Heiligtümer« entstehen, oder bestehende »Heiligtümer« umgewidmet wurden sowie an die eigenartigen Atmosphären an, die an diesen Orten spürbar in der Luft liegen. Deshalb wurden viele Ritualorte, Kultstätten oder Kathedralen gezielt auf diesen Kreuzungen errichtet. Durch diese Innovation verlagerte sich Watkins Konzept von physisch-geografischen Linien zu »Energieadern« der Erde, unsichtbare Kanäle, durch die eine subtile, lebensspendende Energie fließt. Diese Vorstellung erinnert an die Meridiane der Traditionellen Chinesischen Medizin, durch die die Lebensenergie Qi im menschlichen Körper zirkuliert. In dieser Analogie wird die Erde zu einem lebendigen Organismus, wie die Gaia-Hypothese der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Chemiker und Biophysiker James Lovelock vorschlägt, die Anfang der 1970er Jahre entwickelt wurde.
Besonders bedeutend sind in der esoterischen Adaption die Kreuzungen der Ley-Linien, die als Kraftorte angesehen werden, an denen tellurische Energien besonders intensiv miteinander interagieren. Viele bekannte spirituelle und religiöse Stätten sollen an solchen Punkten errichtet worden sein, darunter der Megalith-Steinkreis Stonehenge bei Amesbury in Südengland, die Ruinenstadt Machu Picchu in den peruanischen Anden, die Pyramiden von Gizeh in Ägypten, die Kathedrale von Chartres in Frankreich sowie die Felsengruppe der Externsteine in Deutschland.
Notre-Dame de Chartres ist eines der markantesten Beispiele für einen Kraftort entlang einer Ley-Linie. Esoterische Theorien behaupten, dass die Kathedrale auf einem alten heidnischen Kultplatz errichtet wurde, der bereits den Kelten heilig war. Die ersten Bauten der Kathedrale sollen Anfang des 12. Jahrhunderts über einem druidischen Ritualort errichtet worden sein, in dem eine unterirdische Quelle als spirituelle Energiequelle verehrt wurde. Diese Quelle existiert tatsächlich, und befindet sich in der Krypta der Kathedrale, seltsamerweise zusammen mit einer Marienskulptur. Geomantische Forschungen gehen davon aus, dass sich unter dem Hauptaltar der Kathedrale von Chartres mehrere energetische Linien mit einer der wichtigsten Ley-Linien Europas kreuzen, die andere spirituell bedeutsame Orte wie Mont-Saint-Michel, Canterbury und Santiago de Compostela miteinander verbindet.
Neben der Quelle in der Krypta der Kathedrale von Chartres, und natürlich seiner Verbindung zum Jakobsweg durch die romanischen Baumeistergilden, gibt es in der Kathedrale zwei äußerst interessante Kultobjekte mittelalterlicher Sakralkunst, die dazu beitragen, Chartres als einen besonderen Ort wahrzunehmen: das Labyrinth im Mittelschiff der Kathedrale mit einem Durchmesser von etwa 12,9 Metern sowie die Schwarze Madonna (Notre-Dame-sous-Terre - Unsere Liebe Frau unter der Erde) in der Krypta der Kathedrale, ein wichtiges christliches Pilgerziel und auch Symbol für vorchristliche, mystische Traditionen.
Das Labyrinth im Mittelschiff der Kathedrale von Chartres ist eines der berühmtesten erhaltenen Bodenlabyrinthe. Das Labyrinth besteht aus einem einzigen, gewundenen Pfad, der zur Mitte führt, ohne Sackgassen oder Verzweigungen, wie es in klassischen Irrgärten üblich ist. Es besteht aus hellen und dunklen in den Boden eingelassen Steinplatten und besitzt elf konzentrische Ringe mit einer Länge von insgesamt rund 260 Metern. In der Mitte befand sich ursprünglich eine Messingplatte mit einem Motiv - möglicherweise Theseus und der Minotaurus - die jedoch verloren ging.
Das Labyrinth wird als metaphorische Pilgerreise gedeutet. Da nicht jeder Gläubige im Mittelalter eine Reise nach Jerusalem oder Santiago de Compostela antreten konnte, bot das Labyrinth eine symbolische Alternative: Die Gläubigen konnten den Weg in der Kathedrale abschreiten und so eine spirituelle Reinigung erfahren. Esoteriker und Geomanten behaupten nun, dass das Labyrinth bewusst über einer starken Erdenergiequelle innerhalb des Ley-Linien-Netzes platziert wurde. Das Abschreiten des Labyrinths war nicht nur eine religiöse Handlung, sondern hatte eine energetische und heilende Wirkung. Da das geometrische Muster außerdem mit der Heiligen Geometrie in Verbindung steht, spiegelt es verborgene kosmische Prinzipien wider. Heutzutage schreiten Pilger und Besucher das Labyrinth als Meditationsweg ab, um innere Klarheit und spirituelle Einsicht zu gewinnen. Immer wieder finden moderne spirituelle Rituale für Pilgerbewegungen sowie esoterische Praktiken statt.
Das zweite Kultobjekt von Chartres, die berühmte Marienstatue der »Schwarzen Madonna unter der Erde«, aus gallisch-römischer Zeit, wurde in der sogenannten Druidengrotte gefunden, in der Krypta, an dem 33 Meter tiefen Brunnen Puits des Saints-Forts. Die Skulptur ist nicht schwarz, sie ist auch keine echte schwarze Madonna, wie beispielsweise die von Loretto oder Einsiedeln, sondern es handelt sich bei ihrer Verfärbung um eine altersbedingte Patina durch Ruß, Kerzenrauch oder Oxidation. Ursprünglich soll es sich um eine vorchristliche Skulptur gehandelt haben, die aus Eichenholz geschnitzt wurde, was aber nicht belegt ist, denn diese Skulptur gibt es nicht mehr. Die Madonna, die heute in der Krypta an der Quelle zu sehen ist, ist eine Mariendarstellung mit dem Jesuskind auf dem Schoß. Es handelt es sich bei ihr um die Kopie des in der Revolutionszeit (1793) verbrannten Originals von 1857 aus Birnenbaumholz. Die Krypta von Chartres gilt als einer der ältesten Marienwallfahrtsorte Europas und soll schon vor der Christianisierung ein heiliger Ort gewesen sein. Darauf beziehen sich esoterische Theorien und beanspruchen diesen Ort als ehemaliges heidnisches Heiligtum, dass einer Erd- oder Fruchtbarkeitsgöttin gewidmet war, als Verkörperung eines göttlich Weiblichen. Zu dieser Vorstellung passt gut ihre Position an der unterirdischen Quelle in der Krypta, als Kraftort auf einer Ley-Linie.
Der Camino Francés, die prominenteste Route des Jakobswegs, verläuft über etwa 800 km von den französischen Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela in Spanien. In der esoterischen und geomantischen Deutung wird der Jakobsweg häufig mit dem Konzept der Ley-Linien in Verbindung gebracht. Diese Interpretation basiert auf mehreren Faktoren: Die Häufung bedeutender Kraftorte – Roncesvalles, die Kathedralen in Burgos und León sowie Santiago de Compostela mit dem Jakobusgrab – sowie ihre Lage auf einer geografisch engen Route, wird als Beleg angesehen, dass zumindest der ursprüngliche der Camino Francés auf einer starken Ley-Linie verläuft – über Mont-Saint-Michel, Chartres und Santiago de Compostela, die schon die Megalithkulturen als Kraftorte erkannten und mit Steinsetzungen markierten. Die Verbindung des Camino Francés, und seine Verlängerung nach Finisterre als eigentlichem Endpunkt, ausgestattet mit alten heiligen Stätten, mit einem keltischen Initiationsweg (Lughweg), der Sonnen- und Erdenergien folgt, und später christlich überlagert wurde, belegt seine Bedeutung lange bevor ihn das Christentum als Instrument der Reconquista für sich entdeckte. Für diese Interpretation spricht eine Gruppe von Kraft- oder Ritualorten, die sich abseits der heutzutage offiziellen Etappe von Fisterra ans Cabo de Finisterre auf dem Monte o Facho befinden. Auch die schon in der Antike geläufige Überzeugung, dass die »Seelen« Verstorbener bestimmten Wegen ins Jenseits folgten, wie beispielsweise einem »Sternenweg«, unterstützt die Hypothese eines kosmischen Energieflusses entlang dieser alten Route. In diesem Kontext erscheint der Camino Francés nur als irdisches Pendant zur himmlischen Milchstraße, wie auf dem Karlsschrein im Dom zu Aachen dargestellt. Zwei Wege, die oben und unten repräsentieren, und die parallel auf das Sternenfeld (Campus Stellae) in Santiago de Compostela führen, ein seit Jahrhunderten tradiertes esoterisches Wissen: Ley-Linien auf der Erde, die Sterne der Milchstraße am Himmel. Zugegeben, ein faszinierendes Thema, in einer Zeit, in der die Welt weitgehend entzaubert ist, ihre Bewohner zunehmend ihren Wurzeln entfremdet wurden, die Wissenschaft empirisch geprägt, nur als wahr gelten lässt, was ihre eigenen Methoden als evident erklären. Sicherlich, eine bedenkenswerte Theorie, für die genau so viel spricht wie dagegen, und von der niemand sagen kann, was real und was fiktional ist. Am wenigsten eine wissenschaftliche Ausrichtung, deren Methoden selbstbeschränkend und eindimensional sind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Obwohl die Argumente für die vorgetragenen Beispiele theoretisch plausibel sind, gibt es erhebliche archäologische Kritik. Die archäologische Theorie der Ley-Linien bezweifelt, dass prähistorische Kulturen ihre bedeutenden Bauwerke entlang geradliniger Achsen errichteten. Alfred Watkins Hauptwerk The Old Straight Track (1925) postuliert ein solch altes Wegenetz, das den Grundstein für spätere archäologische und esoterische Diskussionen über die Ley-Linien legte. Einige Kritiker argumentieren, dass sich bei genügend vielen Punkten in einer Landschaft immer einige auf einer scheinbaren Linie anordnen lassen, sodass eine zufällige Anordnung entsteht, ein klassisches Beispiel, behaupten sie, für die menschliche Neigung, Muster in zufälligen Daten zu erkennen (Apophänie). Andere führen fehlende physische Beweise an, da es keine archäologischen Funde, gibt die belegen, dass solche Linien absichtlich als Wege oder Routen genutzt wurden. Worin solche Funde aussehen sollen, und wie sie über eine Fundstätte hinausgehen, bleiben sie schuldig. Auch das Argument, dass viele der angeblich auf einer Linie liegenden Stätten aus völlig unterschiedlichen Zeitaltern stammen, was gegen eine koordinierte Planung spricht, ist nicht besonders stichhaltig, ist doch bekannt, dass viele dieser Stätten über lange Zeiträume benutzt werden, beispielsweise bauten Christen ihre Kirchen oft auf ehemaligen heidnischen Heiligtümern, sodass diese Stätten eine kulturelle Kontinuität aufweisen. Allerdings kann das auch erklären, warum viele alte Kultstätten in scheinbarer geometrischer Ordnung stehen. Während Watkins Theorie für die Stein- und Bronzezeit problematisch ist, gibt es Belege für die systematische Planung von Wegenetzwerken in späteren Kulturen, etwa die römischen Straßen oder eben die Pilgerwege. Die Archäologie erkennt zunehmend an, dass prähistorische Kulturen ihre Monumente nach bestimmten geografischen und astronomischen Gesichtspunkten anlegten; beispielsweise die Megalithanlagen, die nach Sonnenwenden oder markanten Landschaftsmerkmalen ausgerichtet sind.
Alfred Watkins Ley-Linien-Theorie scheint in ihrer ursprünglichen Form weitgehend widerlegt, da keine direkten Beweise für ein prähistorisches Wegenetz existieren. Allerdings hat die Idee dazu beigetragen, das Verständnis für die Beziehung zwischen prähistorischen Kulturen und der Landschaft zu vertiefen. Während Wissenschaftler die esoterische Deutung der Ley-Linien weiter ablehnen, bleibt die Frage dennoch offen, warum geografische, astronomische und rituelle Überlegungen eine Rolle bei der Platzierung prähistorischer Monumente spielten.
Carnac in der Bretagne ist eins dieser bemerkenswerten, prähistorischen Ensembles von Steinreihen, und ein weiteres gutes Beispiel für die absichtlich geplante, rituelle prähistorische Anlage. Die archäologische Fundstätte Carnac ist eine Megalithanlage der, die zwischen 4500 und 2300 v.Chr., die von der Jungsteinzeit bis in die Bronzezeit, durchgehend benutzt wurde. Carnac ist eine der größten und bedeutendsten Megalithanlagen der Welt. Sie besteht aus über 3000 Menhiren, Dolmen und Steinkreisen. Wie Chartres spielt auch Carnac in der Theorie der Ley-Linien eine zentrale Rolle, denn man glaubt, dass diese Steinanlagen Teil eines weltweiten Energienetzes ist.Die geradlinig angeordneten Alignements von Carnac sind in langen, geraden Reihen über mehrere Kilometer aufgestellt sind. Gerade diese außergewöhnliche Anordnung wird als Beweis für eine bewusste geomantische Planung interpretiert, in der manche Theorien eine frühzeitliche Form von Ley-Linien sehen, die bestimmte Energieflüsse in der Landschaft sichtbar machen oder kanalisieren sollten. Wie für Chartres vermutet die esoterische Theorie auch für Carnac die Verbindung mit anderen bedeutenden Stätten wie Stonehenge, Mont-Saint-Michel, Canterbury und Santiago de Compostela durch Ley-Linien. Carnac, so die These, liegt auf einer alten Energieachse, die von Irland über Frankreich bis nach Südwesteuropa reicht. Die Steinanlage orientiert sich nicht nur an Energielinien, sondern auch an astronomischen Linien, die sich auf Sonnenwenden oder Mondzyklen ausrichten, was für den Steinkreis von Stonehenge bewiesen wurde, und für den Camino de Santiago weiter angenommen wird. Während Archäologen eine pragmatische Erklärung bevorzugen, wie soziale oder religiöse Gründe für die Errichtung der Menhire, vermuten Esoteriker in Carnac einen Energieknoten in einem weltweiten Netz tellurischer Linien. Ob dies einen Widerspruch in sich birgt, kann ich nicht erkennen, denn gerade eine Anlage wie Carnac benötigt eine soziale Gemeinschaft, eine religiöse Überzeugung sowie eine sinnstiftende, politische Ideologie, um ein solches Bauwerk zu errichten.
Die Hypothese, dass der Camino Francés, denn nur von diesem Jakobsweg ist die Rede, entlang einer Ley-Linie verläuft, ist damit weder erklärt noch evident. Wie erläutert, gibt es allerdings viele Argumente, wenn auch nicht unbedingt das der Ley-Linien, die dazu auffordern, das Alter und den Ursprung dieses Jakobswegs gründlich zu hinterfragen. Der Jakobsweg, heißt es, verläuft auf einer geomantischen Linie, korrespondiert mit kosmischen und tellurischen Energien. Der Jakobsweg ist ein Einweihungsweg, der Schwellenpunkte (Energietore) enthält, an denen eine Transformation möglich ist.In diesem Sinne ist Estella nur einer dieser Schwellenorte, an denen Pilger sich auf eine tiefere spirituelle Dimension ihrer Pilgerfahrt einlassen können. Es wird ebenfalls vermutet, dass wichtige Kathedralen und Klöster entlang dieser alten Energieachsen bewusst errichtet wurden, um die Energieflüsse der Erde zu verstärken und nutzbar zu machen. Es darf deshalb nicht unbeachtet bleiben, dass viele der Kathedralen und Transitheiligtümer am Camino de Santiago über alten, vorchristlichen Kultstätten errichtet und umgewidmet wurden. Dass das eine übliche Praxis der christlichen Mission war, ist nicht nur bekannt, sondern kann eindrucksvoll in Cangas de Onís besichtigt werden, wo die Capilla y Dolmen de Santa Crux über einem Dolmen errichtet wurde, der den Namen Altar de la Victoria führt, und der bis heute im Inneren der Kirche als identitätsstiftendes Relikt aufbewahrt wird. Wie der ursprüngliche Grundstein bezeugt, das erste literarische Dokument der Reconquista, wurde der Bau wurde 737 geweiht. Sie gilt als eine bedeutende Stätte spanischer Identität, denn sie hängt mit der Schlacht von Covadonga zusammen, in der Pelayu 722 den Vormarsch des Islams aufhielt. In der Folge wurde das Königreich Asturien gegründet, die Keimzelle des modernen Spaniens. Die Kapelle vom Heiligen Kreuz ist die erste christliche Kirche, die nach der maurischen Invasion errichtet wurde, und das älteste christianisierte Megalithmonument der Iberischen Halbinsel. Sie liegt auf dem künstlichen Hügel eines Dolmens und wurde durch Favila, dem zweiten König von Asturien gegründet. In der Krypta der Kirche befindet sich ein etwa 4000 Jahre alter Dolmenrest, der mit Gravuren und Malereien verziert ist. Die heutige Kapelle ist eine Rekonstruktion aus dem Jahre 1951, die auf demselben Gelände errichtet wurde, auf dem das ursprüngliche, im spanischen Bürgerkrieg zerstörte Gebäude stand.
Estella, ein Anklang an überliefertes geheimes Wissen von den Wegen der Sterne? Estella ein Ort einer an Sternenkonstellationen entwickelten Route, die sich über ganz Europa erstreckt? Estella, ein leuchtender Punkt, ein kosmischer Bezug des Pilgerwegs, der ein spiritueller Weg ist?
Für denjenigen, der nicht nur der Leistung der absolvierten Kilometer wegen auf den Jakobsweg gekommen ist, sondern weil er weiß, dass die Ortschaften, durch die er wandert, eine Zeit in Stein bewahren, die rational nicht zu erfassen ist, wird seine Pilgerfahrt zu einer Reise durch die Zeit. In den Gebäuden, in der Architektur, der Ästhetik und der Ikonographie leben diese vergangenen Zeiten weiter. Und sie erinnern sich noch an die Legenden und historischen Ereignisse, die in ihre Steine geschnitten und in ihr Gemäuer geschrieben sind. Oft erscheint es mir, als ob diese Gebäude und ihr Dekor zu mir von diesen Tagen flüstern, als ob in Estellas geschäftigen Straßen plötzlich eine andere Wirklichkeit herrscht, wie ein Blinzeln zuckt eine Stimmung auf, die mich demütig macht, und auch traurig. Es ist so, als ob mich die steinerne Erinnerung, die an diesen Orten in der Luft liegt, für einen Augenblick gefangen nimmt, bevor sie mich weiterziehen lässt. Estellas historisches Zentrum ist ein architektonisches Museum, in dessen Gebäuden Welt- und Kirchengeschichte weiterlebt.
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