Mittwoch, 28. Dezember 2022

Walfang in Deba


Tagelanges Gehen, allein mit sich in der Landschaft, öffnet den Blick für eine andere Wahrnehmung der Welt. Wer geht, befreit sich vom Diktat der automatisierten Fortbewegung, und nähert sich seiner wahren Natur. Gehen überlässt dem Menschen wieder die Initiative, und zählt zum Essentiellen des Menschseins. Auch dann noch, wenn wir davon nichts mehr wissen. Immer wieder denke ich über Titsangs Antwort nach. Wenn die Dinge so einfach lägen, wie diese paradox klingende Sentenz eines Zen-Meisters.

In einem kleinen Buchenwald, der an die Steilküste grenzt, an den Übergang von Land und Wasser, habe ich heute lange über Absicht, Zweck und Ziel meiner Fußreise und ihre Bedeutung für mein Leben nachgedacht. Ich bin ihr immer noch nicht nähergekommen als Fayen. Doch nach wenigen Tagen, im ständigen Auf und Ab der baskischen Berge, verlieren solche Gedanken schnell ihre Relevanz. Das tägliche Gehen entwickelt eine eigene Struktur, an die ich mich allmählich anpasse, die den Weg zum Ziel macht. Gehen ritualisiert mein Handeln und mein Denken. Beides bekommt eine ungewöhnliche Tönung. Gehen gewinnt neuen Sinn: Aufbrechen, das eben noch Präsente zurücklassen, unterwegs sein, die liminoide Phase des Tages, ankommen, die Re-Intergration in das Herbergsleben, darin besteht mein Tagesablauf. Das Wanderritual auf einen minimalen Kern reduziert: Gehen, Essen, Schlafen - die elementaren Aktivitäten meiner Fernwanderung. Das tagfüllende Programm einer Fußreise drängt jeden Gedanken an ein fernes Ziel in den Schatten. Der Dreiklang des Wanderns, das in Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen gegliedert ist, bestimmt mein Denken und Fühlen.

Morgens um halb sechs bin ich bereits wach. Es ist noch dunkel draußen und in dem kleinen Schlafsaal kalt. Außer mir ist noch niemand aufgestanden, also lege ich mich wieder ins Bett, und lese. Als ich aufstehe, brechen die ersten Pilger in der Dämmerung bereits auf. Wieder bin ich der letzte, der die Herberge verlässt. Ich packe zusammen, nehme meine Stöcke aus dem Ständer und ziehe die Türe hinter mir zu. Durch menschenleere Gassen gehe ich hinunter in den Ort und suche eine offene Bäckerei oder Bar, um zu frühstücken. Alles ist still und die Läden sind noch geschlossen. Ich bummele durch Zumaia, bis die erste Bäckerei öffnet. Milchkaffee und ein Croissant für den Weg. Mein Knie schmerzt, meine Schultern und Rückenmuskeln sind verspannt, in meine Oberschenkel ist ein Muskelkater eingezogen. Die ungewohnte Anstrengung der letzten Tage fordert ihren Preis. Das ist nicht ungewöhnlich, denn Muskelkater habe ich in den ersten Tagen einer Wanderung immer. An Gelenkprobleme glaube ich nicht. Die vom langem Bewegungsmangel verklebten Faszien reißen auseinander und schmerzen. Mehr nicht! Nur weitergehen verspricht Besserung.
Noch bin ich unentschieden, ob ich in Zumaia bleibe oder weitergehe. In der Bäckerei frage ich nach der Touristeninformation, aber die öffnet erst um zehn Uhr. So lange will ich nicht warten, und breche zur nächsten Unterkunft auf, zur touristischen Herberge Santa Klara, einen Kilometer entfernt, wo schon im 17. Jahrhundert Pilger aufgenommen wurden. Ich überlasse die Entscheidung meinem Knie, denn im Kloster dürfen Pilger nur eine Nacht bleiben. Meine erste Krise scheint überwunden. Meine Euphorie ist zurück, ich fühle mich glücklich und zufrieden. Ich kann später immer noch entscheiden, ob es sich gut geht.
Nicht weit entfernt von der Pilgerherberge führen Dutzende Treppenstufen zu einer Kapelle hinauf. Von einer Bank in der Morgensonne habe ich einen schönen Blick auf Zumaia, der sich bis an den Yachthafen ausdehnt, wo Masten im Wind sachte schaukeln. Am oberen Ende der Treppe steht ein Pilger, sicher in meinem Alter, der schwer atmend eine Weile verschnauft. Ich habe es nicht eilig weiterzugehen, bin zufrieden in der warmen Morgensonne zu sitzen, und den Tag auf mich zukommen zu lassen. Die Herberge Santa Klara liegt einladend auf einen Berghang in der Sonne. Ich frage mich, ob der Aufstieg dorthin lohnt. Irina kommt die Treppe hinauf. Auf ihrem dunkelblauen Kleid leuchten die roten Rosen. Sie hat es erst gestern Abend im Kloster gewaschen. Sie geht langsam, wie es ihre Art ist, konzentriert, Stufe um Stufe, als ob sie jeden Schritt gesondert bedenken muss oder genießt. Immer wieder bleibt sie stehen und schaut sich gemächlich um. Als sie mich auf der Bank sitzen sieht, winkt sie mir lächelnd zu, steigt die restlichen Stufen hinauf und verschwindet in der Kurve hinter der Kapelle. In den vielen Wochen, die folgen, bin ich Irina nicht mehr begegnet, und frage mich gelegentlich, was wohl aus ihr geworden ist. Es irritiert mich jedes Mal aufs Neue, jemanden auf einem markierten Weg für immer zu verlieren. Ich bleibe nicht lange auf der Bank sitzen, die vorbeikommenden Pilger ziehen mich unaufhaltsam mit. Der Küstenweg nach Deba steigt stetig an. Über die Landstraße aus Zumaia hinaus, vorbei an der Herberge Santa Klara, zu der ein Weg steil hinaufführt, den ich nicht gehen will. Ich überhole den Pilger, den ich eben an der Kapelle gesehen habe, und sehe, dass er sehr viel älter ist als ich. Er imponiert mir, und denke, alles ist Gewohnheit, und überhole meinen Mitpilger auf eine Piste, die schließlich auf einen Feldweg abbiegt. Auf den steilen Hängen grasen Esel, Pferde und Kühe. Der nächste steinige Weg auf eine weitere Anhöhe. Oben fotografieren zwei Pilger das grasende Vieh. Seit Elorriaga wendet der Camino del Norte der Küste immer mehr den Rücken zu, führt landeinwärts in die Berge. Ich klettere höher und höher hinauf, und der Ausblick auf die Biskaya wird spektakulärer. Auf den Pisten und kaum befahrenen, asphaltierten Straßen, komme ich gut voran, steige dreihundert Meter hoch, auf einen Weg zwischen Berg und Meer. Immer wieder endet die Landstraße, und ich wandere auf schönen, aber steilen und steinigen Waldwegen. Die Wege sind schlammig vom letzten Regen, und das Profil sieht aus, als fließe bei heftigen Niederschlägen ein Bach den Weg hinab. Dennoch ist es ein Genuss auf dem schmalen Pfad zwischen Bäumen zu gehen, auf denen unbekannte Vögel sich zum Konzert versammelt haben. Die idyllische Stimmung bleibt, bis ich bei Itzlar das enge bewaldete Tal auf einem steilen Anstieg verlasse. Ein Stacheldrahtzaun versperrt den Weg auf eine breite, verkehrsreiche Nationalstraße. Steil führt sie hinauf in den Ort. Ein großartiges Panorama, ein Blick auf die Biskaya, eine viel zu große Kirche und eine kleine Taverne, das ist Itzlar.
Es ist Mittagszeit und Zeit für eine Rast. Die Bar ist dämmrig und leer, und auf der Terrasse sind alle Tische unbesetzt. Ich versorge mich mit zwei Bocadillos und einem Glas Bier. Gestärkt, erhole ich mich von dem langen Anstieg, den mein Knie erstaunlich gut überstanden hat. Es ist zwölf Uhr mittags. Ich sitze in der Sonne und genieße die Pause. Am Nebentisch haben sich Frauen des Orts versammelt. Sie plaudern so laut, dass ich glaube, sie wollen den ganzen Ort unterhalten. Seine Größe lässt das zu. Ihre Kleinen spielen inzwischen auf der Terrasse und in der Gasse. Vom Geplauder der Frauen und Gekreische der Kinder angelockt, kommt ein Großvater aus dem Haus gegenüber, sammelt die Kinder ein, und erzählt ihnen eine Geschichte von einem Riesen, der ich nicht folgen kann. Ich verstehe zu wenig und döse, vom melodiösen Klang des Erzählers schläfrig geworden, in der warmen Luft ein. Ein Tagtraum gaukelt mir Bilder von baumlosen Almen vor, die an Abgründen enden, zwischen denen Wolken wie Wattebäuche schweben.
Zwei Drittel des Wegs nach Deba liegen hinter mir. Besser gelaunt als gestern, nehme ich den restlichen Weg unter die Sohlen. Sie ist offen, die große Kirche, die einen anderen Ort erwarten lässt. Schnell werfe ich einen Blick in den innen reich dekorierten Bau, nicht mehr. Sein abweisendes Äußeres, die gespeicherte Kälte im Innern, verlockt mich nicht. Ich fühle mich viel zu sonnig. Neben der Kirche liegt ein Friedhof, auf dem die Toten, wie im Leben, in engen Quartieren liegend ruhen. Block neben Block in Dreierreihen, nebeneinander und übereinander. Unwillkürlich muss ich an die Etagenbetten in den Herbergen denken, und ein kühles Schaudern kriecht mir unter die Haut. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es noch höher hinaufgeht, aber nach Deba steigt der Camino del Norte noch einmal zügig an, ohne dabei die Biskaya aus dem Blick zu verlieren. Zuerst geht es moderat auf Asphalt bergauf, dann weiter auf einem steinigen Maultierpfad. Ein steiler Abstieg, der mich an jeder Ría erwartet, und ich stehe am Ortsrand von Deba, vor einer langen Treppe, die über drei Ebenen hinab in die Bucht führt. Den Aufzug sehe ich erst, als ich unten ankomme. Deba, das kleine Städtchen am gleichnamigen Fluss, der in einer schmalen Ría in die Biskaya mündet, entspricht ganz meinen Vorstellungen von einem nordspanischen Dorf. Der monumental wirkenden Kirche ist das Mittelalter anzusehen. Sie steht neben einer quadratischen, von Häusern eingefassten Plaza, die ein überdachter Eingang vom Fluss trennt, das Tor in die historische Altstadt. Mit seinen engen, schattigen Gassen, den kleinen Läden und Bars, verbreitet der Ort am frühen Nachmittag eine entspannte, fast träge Stimmung, der ich mich schwer entziehen kann. Es herrscht Siesta. Der Ort liegt still und verlassen, kaum jemand ist in den Gassen der Altstadt anzutreffen. Sie wirken geräuschvoll leer. Dumpf reflektiert das Pflaster meine Schritte und meine Gedanken klingen mir in den Ohren.
Karla treffe ich auf der Plaza Mayor beim Mittagsimbiss, als ich mit Bananen und einer Flasche Limonade aus einem der Supermärkte komme, die heutzutage als einzige während der Siesta geöffnet haben. Wir schauen uns die Kirche Santa Maria an, bewundern die prächtigen Altarretabeln, auf denen ein unbekannter Künstler ganze Geschichten ins Holz geschnitten hat. Etwas abseits in einer Nische treffen wir einen hölzernen Jakobus in seiner Rolle als Pilger, mit andächtig gehobenem Blick. Er trägt den Hut, dessen vordere Krempe hochgeklappt ist, eine Pelerine, auf der zwei Muscheln prangen, hält Wanderstab und Kalebasse bereit. Ein kleiner Hund begleitet ihn, wie auch der Narr des Tarots. Der schöne Kreuzgang besitzt keinen begrünten Innenhof, wie anderswo für eine Rast. Die Kirche schließt über Mittag und wir suchen uns einen Platz am Brunnen vor der Kirche.

Deba besitzt eine neue, moderne Pilgerherberge in den beiden oberen Etagen des über hundert Jahre alten Bahnhofs. Schon der Name Geltokia, Station, erinnert an die frühere Funktion. Ihr gehobener Standard erinnert an eine Jugendherberge. Im Mittelalter war die Hafenstadt Deba ein bedeutender Sammelplatz für die Pilger, die zu Fuß oder mit dem Schiff im Hafen ankamen, um weiter nach Santiago de Compostela zu gehen. Mehrere historische Gebäude, der Santixo-Bauernhof, das Sasiola-Klosterhospital und das Sindica-Haus, erinnern noch immer an eine Epoche, in der Deba von Pilgern überfüllt war. Inzwischen erreichen Deba wieder täglich Pilger auf dem Camino del Norte, sodass der Umbau des Bahnhofs in eine Pilgerherberge mit 56 Betten erforderlich wurde. Wer in Deba übernachten will, muss sich einem ungewöhnlichen Ritus unterwerfen. Bevor er in die Pilgerherberge einziehen, und sein Bett belegen kann, erwartet man von ihm, dass er sich an die Touristeninformation wendet. Dort wird er registriert, bekommt seinen Stempel, einen eigenen Schlüssel und die Einmalbettwäsche, um Kopfkissen und Matratze zu beziehen. Ausdrücklich weist man ihn darauf hin, den Schlüssel, der an einem klobigen Holzstück hängt, morgens nicht mitzunehmen, sondern in den bereitstehenden Kasten zu legen. In Deba sind Pilger ausdrücklich erwünscht, anders kann ich mir diesen eigenartigen Brauch nicht erklären. Um zur Touristeninformation zu gelangen, muss der Pilger, verschwitzt, staubig und bepackt wie er ist, durch die Gassen der Stadt ziehen, quer über die Plaza Mayor und an der Kirche vorbei. In Deba wird der Pilger wieder als Individuum sichtbar, die Bewohner erleben ihn mitten unter sich. Nach der tagelangen Einsamkeit der Wanderung und den abgelegenen Herbergen wird er in Deba wieder öffentlich, und Mensch unter Menschen. Nur wer während der Siesta in Deba eintrifft, dem wird diese Gunst versagt.
Den Nachmittag verbringe ich auf der Plaza Mayor, dem zentralen Platz, der sich spätnachmittags allmählich füllt. Während ich satt und entspannt in der Menge sitze und dem bunten Treiben um mich herum zusehe, merke ich, wie wohl ich mich in diesen kleinen spanischen Städtchen fühle. Immer wieder ziehen schwer bepackte Pilger allein oder in Zweier- oder Dreiergruppen über den Platz. Sie bleiben stehen, schauen sich verwirrt um, wählen eine der vier Straßen aus, und ziehen weiter. Sie sehen müde und nach langem Wandern aus.

Am Tresen einer Bar treffe ich Miguel, einen ausgemusterten Seemann, der wie Inventar lässig an der Theke lehnt. Obwohl er Baske ist, trägt er keine Baskenmütze, das hätte vom Klischee zu viel verlangt. Sein Haar ist bereits grau, doch noch dicht. In seinem Bart erwarten letzte dunkle Strähnen ihr Schicksal. Aus seiner Hemdtasche ragt ein Pfeifenstiel, von Zahnspuren markiert, und vor ihm steht das obligatorische Glas Cidre. Als ich auf ihn zu komme, entblößt er sein gelbverfärbtes Gebiss und lächelt mich einladend an. Er ist jahrelang zur See gefahren und sein Englisch ist gut verständlich. In Deba, verrät er mir, erinnert man sich gut an Wilhelm von Humboldt, und Miguel weiß einiges über ihn zu erzählen. In einem Frühling kam der Linguist und Politiker Wilhelm von Humboldt nach Deba, nicht auf Schusters Rappen, sondern auf Pferdes Rücken, nicht als Pilger, sondern als Wissenschaftler, der die baskische Sprache studieren wollte. Auf einer Spanienreise verbrachte Humboldt zwei Tage im Baskenland, um die baskische Kultur kennenzulernen. Ein Jahr später kehrte er für zwei Monate zurück, um über die Basken, deren Sprache, Sitten und Geschichte zu forschen. Ergebnis dieser Studienreise sind seine damals sicherlich Aufsehen erregenden Texte über die damals weitgehend unbekannte Sprache und Kultur der Basken: Die Vasken, oder Bemerkungen auf einer Reise durch Biscaya und das französische Basquenland sowie sein Tagebuch aus dem gleichen Jahr. Von Deba aus folgte er den Pilgern auf dem Camino del Norte nach Markina, wo er sich mit Juan Antonio Mogel anfreundete. Der baskische Schriftsteller und Priester war Experte auf dem Gebiet der baskischen Geschichte und Kultur, sowie der Frage, die damals bereits jahrhundertelang diskutiert wurde: Wer sind die Basken? Woher kommen sie? Politisch gehört das Baskenland, mit eigener Sprache und Kultur, zu Spanien und zu Frankreich. Während alle anderen europäischen Sprachen zu einer größeren Sprachfamilie gehören, ist die baskische Sprache, das Euskara, eine isolierte Sprache, die mit keiner anderen rezenten Sprache genetisch verwandt ist. Die ethnische Eigenbezeichnung Euskaldunak, Baskischsprecher, stammt aus dem Lateinischen vascones, das ursprünglich für keltiberische Gruppen benutzt wurde. Der Indogermanist Hans Krahe entwickelte die umstrittene vaskonische Hypothese einer alteuropäischen Sprache, die vor der indoeuropäischen Migration in Europa gesprochen wurde. Er leitete seine Hypothese von Gewässernamen ab, die seiner Meinung nach vorindoeuropäisch sind und deren Reste auf die keltischen, italischen und baltischen Sprachen sowie auf die ausgestorbene illyrische Sprache verweisen. Eine alteuropäische Sprachschicht gilt linguistisch als gesichert. Auch der deutsche Linguist Theo Vennemann vermutet, dass diese Gewässernamen nicht indoeuropäisch sind, sondern aus Sprachen stammen, die mit einer baskischen Sprachgruppe verwandt sind. Vaskonisch nennt er deshalb eine Sprachfamilie, deren einzig erhaltene Tochtersprache das rezente Baskisch ist. Die vaskonische Hypothese geht von der Vermutung aus, dass sich ein Bevölkerungsrest am Ende der letzten Eiszeit vom heutigen Aquitanien ausgehend in Europa ausbreitete, die ihre Sprache, das Alteuropäische, mit in die neu besiedelten Regionen brachte. Als erste Siedler benannten sie alle Landmarken, Ebenen, Täler, Flüsse und Berge, deren Spuren sich in den modernen Toponymen erhalten haben. Grundlage für diese Annahme ist der Sachverhalt, dass europäische Flur-, Orts- und Gewässernamen Wortkerne enthalten, die auch im Baskischen anzutreffen sind.
Die Plätze in der Bar sind knapp geworden, und während die Erwachsenen reden, essen oder Kaffee trinken, toben ihre Sprösslinge über den Platz. Nach Geschlecht getrennt: die Jungen spielen Fußball, die Mädchen stehen in Gruppen zusammen und palavern gestenreich. Tauben auf Nahrungssuche entern die freien Plätze unter den Tischen, fliegen zwischen den Gästen umher, ohne dass jemand sie beachtet. Später sitzen wir draußen am Brunnen. Unseren Cidre haben wir mit ins Freie genommen, was niemanden stört. Miguel erzählt Anekdoten aus Debas Geschichte, die er, in Fahrt gekommen, gestenreich ausschmückt. Einst war Deba Zentrum des baskischen Walfangs und eine so bedeutende Hafenstadt, dass selbst Humboldt im fernen Berlin davon hörte, und sich auf den Weg machte. Nachdenklich kaut Miguel auf seinem Pfeifenstiel, pafft ein paar Schwaden in die Luft, bevor er die Pfeife am Brunnenrand ausklopft und zu Zigaretten wechselt. Endlich hat er jemanden getroffen, der sein Wissen aufsaugt, wie ein Schwamm. Die Walfänger von Deba, Getaria und Itzlar, erzählt Miguel, fuhren bereits im frühen Mittelalter auf den Atlantik hinaus, um die mittlerweile fast ausgerotteten Glattwale zu jagen. Ob die vielen eiligen Pilger, die oft an den Besonderheiten des Jakobswegs achtlos vorbeigehen, sich bewusst sind, was sich einst in Deba zugetragen hat? Der Ort muss ein Schlachthof gewesen sein. An den Gestank möchte ich gar nicht denken. Lembata, eine kleine Insel in Ostindonesien, ist wie Deba einst, die letzte Region des Walfangs mit einfachen Mitteln. Gut vorstellbar, dass der Wal in Deba einst auf die gleiche Weise gejagt wurde. Auf eine ökologisch sanfte Weise jagen sie den Pottwal, die Existenzgrundlage ihres Dorfes. Sie sind keine Reisbauern wie ihre Nachbarn, sondern leben von einer archaischen Jagd, eine Tradition, die sie streng bewahren. In einfachen Ruderbooten, inzwischen mit einem Außenbordmotor versehen, stellen die Waljäger von Lamalera dem Wal in der Sawusee nach. Ganz vorne im Bug steht der Harpunier, der mit einem kühnen Sprung hoch in die Luft, dem Wal seine Harpune ins Herz stößt. Anschließend benutzt er die Harpune wie einen Hebel, um sich wie ein Stabhochspringer aus der Gefahrenzone zu katapultieren. Ein Viertel in Deba heißt Labatai, Ofen-Tor, ein zusammengesetztes Substantiv aus den baskischen Wörtern labea, Ofen, und atari, Tor. An diesem Ort, der einst vor den Stadtmauern, aber in der Nähe des Stadttors lag, standen die Öfen, in denen der Blubber, die mehrere Zentimeter dicke Fettschicht des erlegten Wals, ausgekocht wurde. Die Kolosse wurden mit der einlaufenden Flut an Land gezogen, und dort, wo die Öfen standen, an Ort und Stelle zerlegt. Schon vor mehr als tausend Jahren erkannten die Basken die lohnenden Ressourcen der Glattwaljagd. Sie entwickelten mit ihren Waffen die Grundlagen für den Walfang des 20. Jahrhunderts. Anfangs jagten sie in kleinen Booten in Küstennähe mit einer Harpune Wale, die von den Basken Euskal Balea, Biskayawal, genannt wurden. Es waren die schwarzen, atlantischen Nordkaper, Bartenwale, und verwandt mit dem Grönlandwal, die den mutigen Harpunenfischern zum Opfer fielen. Dieser atlantische Glattwal wird fünfzehn bis zwanzig Meter lang und kann bis zu hundert Tonnen wiegen. Die Tiere zogen einst im Herbst aus den subpolaren Regionen des Nordatlantiks in ihre gemäßigten, südlichen Winterquartiere, am weitesten südöstlich gelegen, der Golf von Biskaya. Ihre Ankunft im kantabrischen Meer wurde ungeduldig jeden Oktober erwartet, wo sie bis im Frühling überwinterten. Das aus dem Blubber durch Auskochen gewonnene Walöl war wegen seiner langen Brenndauer in Lampen äußerst begehrt. Es gab ein helles Licht und verbrannte rauch- und geruchlos. Mit Ausnahme der Zunge, die bei den Basken einen hohen Preis erzielte, oder des Fleischs der Kälber, aßen die Basken kein Walfleisch, sondern exportierten es gepökelt nach Frankreich. Die Barten, die vom Oberkiefer anstelle von Zähnen herabhängenden Hornplatten, sowie bestimmte Knochen des Wals, wurden in Korsetts und zur Dekoration von Möbeln verwendet. Bereits im 15. Jahrhundert wurden die Glattwale in der Biskaya immer seltener und die baskischen Walfänger dehnten ihre Fanggründe nach Asturien und Galicien aus. Schließlich folgten sie den Wanderrouten der Wale bis nach Island und Neufundland. Deba war in diesen Jahrhunderten ein bedeutender Umschlagplatz für die Produkte aus der Jagd auf die Glattwale. Die gesamten Erzeugnisse des baskischen Walfangs im Nordatlantik wurden über den Hafen von Deba abgewickelt, ins spanische Hinterland und bis nach Frankreich und England gehandelt. Zuletzt haben die Fangschiffe des industriellen Walfangs den Nordkaper im östlichen Teil des Atlantik vollständig ausgerottet. Die rezenten vierhundert Glattwalindividuen im Atlantik sind die durch eine gnadenlose Jagd drastisch reduzierte Restpopulation, die seit 1935 auf internationaler Ebene geschützt ist.

Auf dem Camino del Norte herrscht Betrieb. Nach dem einsamen Einstieg auf dem Berg Jaizkibel hat es keinen Tag mehr gegeben, an dem ich nicht in einer Gruppe gepilgert bin. Vor und hinter mir gehen täglich andere Pilger in die gleiche Richtung, immer den gelben Pfeilen nach, oft in Sichtweise. Nicht nur ich, sondern auch andere sind der überlaufenen Pilgerautobahn des Camino Francés ausgewichen. Die Pilgerherbergen sind abends belegt, wer zu spät kommt, hat schnell das Nachsehen. Unterwegs begegne ich allen möglichen Pilgern. Vielleicht sollte ich mich gleich daran gewöhnen, sie Wanderer zu nennen, denn von religiösen oder spirituellen Motiven höre und spüre ich wenig. Vielmehr bekomme ich den Eindruck, dass der Jakobsweg für viele, besonders für die jungen Pilger, ein billiger Urlaub oder ein sportlicher Event geworden ist. Sie haben es oft erstaunlich eilig, gehen viel schneller als ich, täglich oft doppelt so viele Kilometer, wobei ich mit zwanzig Kilometern schon mein Maximum gegangen bin. Ich sehe sie oft so sehr mit einander beschäftigt, dass ihnen für die Umgebung keine Aufmerksamkeit mehr übrigbleibt. Auf dem Camino del Norte gerät das kontemplative Pilgern durch sportlichen Ehrgeiz und westliches Leistungsdenken unter Druck, eine Lebensweise, vor der ich mich zurückziehen will. Ich habe gehofft, dem Besser, Schneller, Höher und Weiter, das unsere Kultur fordert, zu entkommen. Das Wort „geschafft“, wenn jemand über seine Tagesleistung spricht, löst mittlerweile Unmut in mir aus. Ich muss mich zunehmend auf meine Motivation besinnen, Entschleunigung und Ruhe zur Kontemplation zu finden. Gespräche darüber, wie weit und wie schnell gegangen werden muss, damit Abends noch ein Bett frei ist, lösen bei mir unangenehme Gefühle aus. Es fällt mir plötzlich schwer, mich nicht von diesen negativen Energien beeinflussen zu lassen, damit mir genügend Gelassenheit bleibt. Ich will das alles loslassen, wenigstens eine Zeitlang, die Sicherheiten und das Vorsorgedenken, die Gedanken an das, was andere tun, erwarten und was mich an ihnen stört. Jetzt ist meine Zeit und mein Weg, und das, was ich daraus mache, suche und finde. Dem was später am Abend oder erst morgen kommt, möchte ich jetzt keine allzu große Bedeutung beimessen. Ich finde es gar nicht so einfach, diese Reden als unerhebliches Plappern vorüber ziehen zu lassen.
Abends genieße ich den Luxus der im modernen Gewand glänzenden Herberge. Milano und ich, den ich in der Touristeninformation kennengelernt habe, teilen uns Waschmaschine und Trockner. Er ist ein sprachgewandter junger Deutsch-Italiener der in Mailand lebt. Nach seinem Studium ist er aufgebrochen und allein auf dem Jakobsweg unterwegs. Wie Irina und ich, ist er vor ein paar Tagen in Irún gestartet. In T-Shirt und Shorts liegen wir entspannt auf unseren Betten im Acht-Bett-Zimmer und warten darauf, dass unsere in wenigen Tagen mehrfach durchgeschwitzte Kleidung geruchsneutral und sauber wird. Der Nachmittag ist frei, die heutige Etappe absolviert. Nach einem warmen Tag mit blauem Himmel, dem Tang-Geruch, der vom Meer herüberzieht, und dem erdigen Duft der Waldwege, ist es kühl geworden. Ich friere in meinem dünnen Hemd. Der Himmel ist gleichmäßig grau, eine geschlossene Wolkendecke, die Regen verspricht. Karla und ich machen uns Sorgen um Irina. Sie ist nicht in Deba angekommen. Eine andere Herberge gibt es zwischen Zumaia und Deba nicht, und die nächste Herberge befindet sich in Markina-Xemein. Wir können schwer glauben, dass Irina an einem Tag so weit gekommen sein soll.


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