Auf jedem Spaziergang gibt es etwas zu erleben,
und jeder Pfad hat etwas zu erzählen.
Robert Macfarlane
Abschied von Andalusien. Die südspanische Landschaft, nördlich von Sevilla, nur eine kurze Begegnung. Andalusien ist noch viel mehr. Wirklich kennengelernt habe ich die Landschaft dieses Mal nicht. Dazu reichen fünf Tage nicht aus. Meine Erinnerung nehmen die zahlreichen Dehesas ein. Nordwestliches Andalusien - Dehesaland der Stein- und Korkeichen, auf denen ich nach Tieren Ausschau halte, und hin und wieder Vögel sehe, sie meistens nur höre. Ein eingezäuntes Land, das mir seine Tore öffnet, und mich durch die friedliche Parklandschaft einer Baumsavanne wandern lässt, die meine Sinne streichelt und meine Gedanken ruhig werden lässt. Viehzucht und Fleischproduktion dominieren die Landwirtschaft. Selbst die domestizierten Tiere leben in Freiheit: Rinder, Schafe und das schwarze, iberische Schwein. Keine Mastbetriebe, die kommen erst später. Die hügelige Landschaft breitet sich in Wellen aus. Maultierpfade mäandern auf und ab, einmal steil und steinig aufwärts, abwärts und aufwärts, dann wieder schmal und im Gelände kaum auszumachen, dann breite Wirtschaftswege, der Boden von Rädern verdichtet. Morgens begleitet mich mein Freund der Kuckuck unsichtbar ein Stück des Wegs und ruft mir aus der Ferne einen Gruß zu.
Als ich die Herberge verlasse, kommt mir ein schöner Morgen entgegen. Sonnenschein und ein blauer Himmel, über den dünne, fast durchsichtige Cirren schweben. Noch ist es kalt, und ich schließe den Reißverschluss meiner Daunenjacke bis zum Hals. Ein schneller Milchkaffee am Tresen einer schon geöffneten Bar, und ich bin auf dem Weg nach Monesterio. Die letzten Kilometer Andalusien. Von El Real ist es nicht weit in die Autonome Gemeinschaft Extremadura. Kurz darauf mündet die Hauptstraße in einen Feldweg aus dem weißen Dorf. Auf einem Hügel neben dem Weg thront die Silhouette einer trutzigen Burg, schlicht Castillo genannt, hoch über dem Ort errichtet. Ein Scherenschnitt vor der gerade aufgehenden Sonne, die die Burgzinnen rotorange umspielt. Vermutlich eine Festung des Santiagoordens, ein Gedanke, der im Grenzland nahe liegt. Fragen kann ich niemandem. Das liegt nicht an meinem ungenügenden Spanisch, so früh ist noch niemand unterwegs. Santiago-Ritter haben den Ort im 13. Jahrhundert von den Mauren zurückerobert. Die Burg wird eine Festung ihrer Verteidigungslinie gewesen sein.
Der Weg wird breiter und endet an einem kaum fünf Meter breiten Bach, über den weder Brücke noch Trittsteine führen. Er fließt in einer Senke: auf der Grenze zur Extremadura. Der Wasserstand der Furt reicht mir gerade an die Knöchel, als ich barfuß ins kalte Wasser steige. Auf der anderen Seite des Grenzbachs erhebt sich eine weitere, beeindruckende Burgruine, das Castillo de las Torres, die Burg der Türme, einst Pilgerherberge und Schutz der Grenze, der Reise- und Weidewege und zur Erhebung der zahlreichen Abgaben, denen der Santiago-Orden seinen Reichtum verdankte. Extremadura, ein mysteriös klingender Name, der doch nicht mehr als extremos del Duero bedeutet, jenseits des Duero, des drittlängsten Flusses der iberischen Halbinsel, der als Douro in Porto in den Atlantik mündet.
Zuerst siedelten die keltischen Vettonen in dem Gebiet der heutigen Extremadura. Dann kamen die Phönizier und Karthager, schließlich die Römer, unter deren Patronat sich die Extremadura unter dem Namen Hispana Ulterior Lusitana zu einer wichtigen Handelsregion entwickelte. Die einstigen antiken Zentren, Norba Caesarina (Cáceres) und Emerita Augusta (Mérida), sind modernen Touristenzentren geworden, in denen die Ruinen der römischen Bauwerke besichtigt werden können. Ruinen, noch immer beeindruckend, doch vom ehemaligen Glanz bringen sie nur wenig ins Jetzt, es sei denn, raffinierte Beleuchtung und Theaterleben schmeicheln den Sinnen und locken die Imagination. Nach dem Niedergang der römischen Besatzung verlor die Extremadura ihre historische Bedeutung. Während der Reconquista trennte der Duero die muslimische von der christlichen Bevölkerung im Norden. Die Extremadura war Grenzland, ein Gebiet kriegerischer Auseinandersetzungen, wo muslimische und christliche Herrschaft sich häufig abwechselten. Am Ende des Mittelalters wurde sie schließlich zu einem Auswandererland. Die berüchtigten Konquistadoren Francisco Pizarro und Hernan Cortés, mittelose Hildagos, wurden in der Extremadura geboren. Erst nach Francos Tod begann in Spanien die Zeit der Demokratisierung und die Autonome Region Extremadura wurde gegründet. Die beiden Provinzen Cáceres und Badajoz bilden die politische Extremadura, die fünftgrößte autonome Gemeinschaft Spaniens, die größer ist als die Schweiz, Belgien oder die Niederlande.
Durch die Kälte des Bachs erwachen meine Muskeln, und mit ihnen meine Lebensgeister. Allmählich passt sich mein Körper an das tägliche Gehen an. Den jungen Spanier aus Guillena treffe ich an der Burgruine wieder, wo er versucht, die brütenden Störche in ihrem Horst auf einem der Türme zu fotografieren. Es sind die ersten Störche, die ich sehe. In der Extremadura gehören Störche im Frühling zum Landschaftsbild. Der Weißstorch ist ein ausdauernder Langstreckenzieher, der sein Habitat mit den Jahreszeiten wechselt. Aus seinem Überwinterungsquartier kommend überquert er die Sahara. Er spürt den Frühling, und verlegt seinen Horst aus Afrika ins südliche Spanien. Von nun an begegne ich ihm überall. Die majestätischen Vögel, auch Klapperstorch genannt, in ihrem weißen Federkleid mit schwarzen Schwungfedern, ausgestrecktem roten Schnabel und Beinen, schweben graziös in der Luft; über Feuchtweisen oder um Kirchtürme. Die Schwungfedern ihrer über zwei Meter messenden Flügel hat einst ein Vorfahre in schwarze Farbe getaucht; ein Segler, der die warmen Aufwinde der Thermik nutzt. In den Städten besiedeln ihre Kolonien gern Ruinen historischer Gebäude, auf dem Land bauen sie sich ihren Horst auf einem Mast oder in einem Baum. Der Weißstorch der iberischen Halbinsel gehört zu den Weststörchen und erreicht leicht ein Alter von fünfunddreißig Jahren. Er bevorzugt feuchte und wasserreiche Gegenden wie Sümpfe, Seen, Flussauen und Grünlandniederungen, an denen in Andalusien und der Extremadura im Frühling kein Mangel herrscht. Diese sogenannten Weststörche verbringen den Winter vom Senegal bis zum Tschadsee, und kommen im Frühling bei Gibraltar in Spanien an.
Bis Monesterio verläuft die Vía über eine breite, ebene Piste aus verdichtetem Sand. Gemächlich geht es auf und ab, durch die immer gleiche Dehesa-Landschaft mit ihren Olivenbäumen, ihren Stein- und Korkeichenweiden. Die ersten zehn Kilometer auf dem komfortablen Wirtschaftsweg gehen sich fast von selbst. Der Weg, eine Wohltat für meine malträtierten Füße, die, stadtgewohnt, sich noch schwer tun, den ganzen Tag zu gehen. In der Extremadura verläuft die Vía de la Plata meistens über die ursprüngliche römische Straße, die Calzada Romana, oder über die alten königlichen Triftwege, die Cañadas Reales. Die Vía durchquert auf dreihundertvierzig Kilometern größtenteils ebenes Gelände durch sehr einsame Gegenden in nördsüdlicher Richtung, parallel zur portugiesischen Grenze, hinauf in den gebirgigen Norden, mit den über zweitausend Meter hohen Bergen Torreón und Calvitero. Südlich des Tajo, des längsten Flusses der iberischen Halbinsel, ist die Extremadura fast das ganze Jahr trockenes Land mit weiten Ebenen. Irgendwann hat sie sich verwandelt in konturlose Weite, in der sich mein Blick verliert, weil er stundenlang kein Gegenüber findet. Einsamkeit und Monotonie der Landschaft sind die größte Herausforderung für den Wanderer; weniger physisch als mental. Besonders die Extremadura hat mir die Erinnerung gestohlen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich gewandert bin, ohne sie bewusst zu bemerken, den Blick nach innen gewandt. Eine weite, ebene Landschaft, die Vía de la Plata, eine gewundene Linie, die solange schmaler wird, bis ihre Seiten in der Ferne ihre Parallelität verlieren. Irgendwo am Horizont verengt sie sich zu einem Punkt, das Nadelöhr für einen noch bevorstehenden Übergang. Selten ein Baum, manchmal eine Olivenplantage, eine Abzweigung, die sich östlich oder westlich in der Weite nach Nirgendwo verliert. Eine kultivierte Landschaft, intensive Landwirtschaft. Felder und Weinbau auf trockenem Boden (D.O. Ribera del Guadiana), Schweine in den wenigen Steineichen-Dehesas, die sich von Eicheln ernähren. Die wirtschaftliche Grundlage der südlichen Extremadura. Irgendwo dazwischen gibt es den selten gewordenen Pardelluchs. Großtrappe, das Wappentier der Extremadura, Kranich, Schwarzstorch und Wolf leben irgendwo in der dünn besiedelten Landschaft. Nur wenige Siedlungen, die kurioserweise erst nachmittags aus der Weite auftauchen, erinnern mich daran, dass ich nicht allein bin. Menschen zwischen Stein, Beton und Asphalt. Erstaunt stelle ich fest, dass die Rückkehr aus der Landschaft ebenso entspannend ist, dass mein Körper und Geist wieder aus der Lockerung der Weite herausfinden. Während sich mein Körper entspannt, wendet sich mein Geist den vielen Gegenständen der menschlichen Wohnung zu, die Vertrautheit und Sicherheit signalisiert. Geometrische Proportionen erobern meinen Blick zurück. Straßen, die endlich sind, Mauern, die mir die Sicht versperren. Menschengemachte Struktur, Flecken der Ordnung in einer ausufernden Landschaft.
Es ist voller geworden auf der Vía de la Plata. Unterwegs treffe ich immer wieder die gleichen Pilger. Wir kennen uns inzwischen: Nobody Walks Alone! Werner, ein Pilger aus Heidelberg, ist zweiundsiebzig Jahre alt. Er hat die fast eintausend Kilometer seiner Pilgerfahrt akribisch geplant. Er hat ein Reisebüro mit der Planung und Organisation betraut, und weiß nun genau, welche Etappe er täglich gehen wird, wann er wo übernachtet. Reservierung im Hotel inklusive. Er trägt nur einen kleinen Rucksack für das Nötigste, seinen Koffer befördert ein Service; auch dies hat der Reiseveranstalter für ihn organisiert. Werner leidet an Asthma, auch an anderen altersbedingten Gebrechen, und kann nur mit dieser Unterstützung auf der Vía de la Plata wandern. Ich bewundere seinen Mut und seine Beharrlichkeit, sich nicht durch Alter und Krankheit in die Knie zwingen zu lassen, sich die Freiheit zu leben von nichts nehmen zu lassen; immer wieder aus dem Alltag auszubrechen. Zu Alter, Krankheit und Tod zu sagen: Heute nicht! Ihn regenerieren diese Fußreisen, sagt er, darum wandert er seit Jahren auf Jakobswegen in Spanien und Frankreich. Er muss allein gehen, sich beim Wandern zu unterhalten, raubt ihm die Luft. Werner ist ein willensstarker Mann, einst leitender Angestellter einer Umweltbehörde, ein drahtiger, zäher Typ, diszipliniert, mit dem Durchhaltevermögen eines Menschen, der genau weiß, was er will. Mit kräftigem Schritt zieht er immer wieder an mir vorbei. Als Roadrunner der sanften Art, steht er an der Schwelle zur Eile. Nowhere Going Fast! Inzwischen ist er ein professioneller Wanderer geworden, der seinen Takt und Rhythmus gefunden hat. Wöchentlich geht er zuhause zwanzig Kilometer. Ich muss trainieren, sagt er, um in Form zu bleiben. Auch jetzt geht er täglich zwanzig Kilometer, seine Distanz. Andere nennen ihn wegen seiner komfortablen Situation einen Edelpilger, vielleicht weil sie neidisch sind oder Dogmen anhängen. Ihn ficht das nicht an. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen, erwidert er selbstbewusst. Robert Mcfarlane erinnert daran, dass jeder Pfad etwas zu erzählen hat. Den Camino Für Alle gibt es nicht, obwohl manche das behaupten. Der Weg folgt keinen allgemein verbindlichen Regeln der Fortbewegung. Wer sich einer Norm unterwirft, findet seinen eigenen Weg nicht, sondern folgt dem Weg eines anderen. Den Winter verbringt Werner seit Jahren auf Teneriffa; Spanisch spricht er nicht. Englisch, sagt er, ist die Sprache des Camino.
Irgendwann mündet der Wirtschaftsweg in einen schmalen Pfad durch ein Eukalyptuswäldchen, mit der Autobahn auf der einen und einer Landstraße auf der anderen Seite. Er endet am Puerto de la Cruz, einem eisernen Gipfelkreuz, dessen Querbalken ein aus roten Kunstblumen geflochtener Kranz schmückt. Von hier oben sehe ich Monesterio unten im Tal liegen, eine Kleinstadt, aus der Distanz weiß wie die anderen. Eine breite Verkehrsachse teilt die Stadt in zwei Hälften, deren Häuser sich um eine kleine Kirche auf einem Hügel scharen.
Monesterio ist das Zentrum der Schweinezucht der Extremadura, wo der beste iberische Schinken, der Jamón Iberíco de Pata Negra, hergestellt wird. Als Vegetarier kann ich das nicht beurteilen. Andere, die ihn probiert haben, versicherten es mir. Die Stadt tritt mit einer überdimensionalen Schinkenskulptur am Ortseingang, das Original hängt in jeder Bar über dem Tresen, selbstbewusst als ein besonderer Ort auf. Das überaus merkwürdige Museo de Jamón Iberíco konnte mich nicht begeistern. Der Name der Kleinstadt geht auf ein Kloster der Templer zurück. Anfang des 15. Jahrhunderts übernahm der Santiago-Orden die Herrschaft über den Ort, wo er die übliche Pilgerherberge unterhielt. Abgesehen von der Iglesia de San Pedro Apóstol aus dem 15. Jahrhundert hat der Ort keine Spuren der mittelalterlichen Pilgerzeit bewahrt. Die Legende erzählt von einer entscheidenden Schlacht zwischen Mauren und Christen in der Umgebung von Monesterio, in der die Gottesmutter eine entscheidende Rolle gespielt haben soll. Es heißt, dass sie die Kämpfe einen Tag lang anhielt, damit sich die christlichen Ritter neu organisieren und die Schlacht gewinnen konnten. In Erinnerung an dieses Wunder wurde ihr zu Ehren im 13. Jahrhundert das Monasterio de Nuestra Senora Tentudía im Mudéjar-Stil in eintausendeinhundert Metern Höhe errichtet.
Obwohl sie abseits liegt, und ich dazu durch die ganze Stadt gehen muss, wähle ich eine Herberge am Stadtrand. Ich fühle noch mich frisch, und kann mir die Stadt ansehen, bevor ich einchecke. Doch Monesterio begeistert mich nicht, eine langweilige Stadt an einer langen verkehrsreichen Straße, mit wenig Atmosphäre in den wenigen abzweigenden Gassen. Die Herberge entpuppt sich als großzügige Hotelanlage. Doch ich bin zufrieden mit meiner Wahl. Die junge Frau an der Rezeption fragt mich, wie vielen Pilger ich unterwegs begegnet bin. Es ist früher Nachmittag und ich bin der erste Gast. Gestern kamen nur fünf Übernachtungsgäste, erzählt sie mir. Das sind viel zu wenig, beklagt sie sich, lohne den Aufwand nicht, denn sie hat fünfzig Betten zu vergeben. Die Konkurrenz nimmt zu, und der Kampf um die Pilger wird härter. Drei Kilometer vor der Stadt begegnete ich einem Mann, der in seinem Wagen saß und Flugblätter für das Hotel Extremadura verteilt; spezielle Preise für Pilger. Ich frage mich, wie der Santiago-Orden ein viel größeres Pilgeraufkommen mit nur einer Herberge bewältigte. Betten für alle gab es damals sicher nicht. Nur Wasser, eine einfache Mahlzeit, dazu jede Menge geistliche Nahrung. In Zeiten kapitalistischen Konsums verlangt der Pilger einen größeren Komfort, um seine Ansprüche zu befriedigen. Fast kommt es mir vor, eine Pilgerreise ist auch nur eine Urlaubsreise, wenn auch eine sehr spezielle. Reinhard und Sally, die ich in der Stadt treffe, sind im beworbenen Hotel abgestiegen. Sie schwärmen von der Ausstattung des Hotels, in dem es eine Heizung für die noch sehr kalten Abende gibt. Eine Heizung im Süden Spaniens, wie ungewöhnlich. Später treffen noch zwei Japaner und zwei Franzosen ein, alle in meinem Alter. Wieder sind wir unter uns. Abends nutze ich die Gelegenheit meine schlammverschmutzte Kleidung zu waschen. In der Herberge gibt es eine Waschmaschine und einen Trockner.
Mit dem gestern übriggebliebenen Proviant bereite ich mir ein gutes Frühstück. Aber es ist zu viel für mich allein. Ich lasse den Rest im Kühlschrank zurück, und hoffe, dass sich jemand darüber freut. Auf den Schultern tragen will ich ihn nicht, denn unterwegs fehlt mir der Appetit und noch seltener bekomme ich Hunger. Die anderen haben ihren eigenen Proviant, der genau berechnet ist, schließlich müssen sie ihn tragen. Ich habe mir abgewöhnt, sicherheitshalber zu viel zu essen mit auf den Weg zu nehmen; reichlich Wasser, Nüsse, etwas Obst, meistens ein Paar Bananen oder Orangen. Im Frühling in Andalusien sind sie eine saftig-süße Köstlichkeit. Mir kommt in den Sinn, dass die besten von ihnen nicht exportiert werden, so anders schmecken sie mir. Auf einer Fußreise lebt es sich am besten von der Hand in den Mund. Und vielleicht nicht nur dann? Tostados, Tapas oder Bocadillos bekomme ich morgens und abends in jeder Bar. Dazu einen frisch gepressten Orangensaft oder einen Milchkaffee. Überall gibt es sie, die kleinen Lokale. Sie sind mehr als eine Bar, so wie wir das verstehen: sie sind Caféria, Imbiss und Restaurant mit kleiner Karte. Von morgens früh bis spät in die Nacht sind sie geöffnet: der erste Milchkaffee morgens um sieben, das letzte Glas Roten kurz vor Mitternacht. In jedem Dorf mehr als eine; quirlige Orte der Gastlichkeit, Gemütlichkeit, des sozialem Leben. Selbst in der Mittagszeit, wenn Siesta ist. Dann sind sie am leersten, doch den einen oder anderen Gast gibt es immer. Nur gelegentlich komme ich den ganzen Tag durch kein Dorf. Gelegentlich ein Menu del Día zum Pilgertarif. Doch dann muss ich bis abends warten, denn in Andalusien öffnet kein Restaurant vor zwanzig Uhr. Selbst in den kleinsten Orten erwartet mich ein Supermercado, oft nicht mehr als ein kleiner Laden mit begrenztem Angebot und dem großspurigen Namen. Doch immer reicht die Auswahl für meinen Bedarf.
Obwohl die Sonne bereits aufgegangen ist, weht mir ein kalter Hauch entgegen, als ich morgens aufbreche. Hände und Nase fühlen sich nach Winter an. Die Sonne schiebt nur schwache rötliche Strahlen durch das Laub der Eichen. Die Dehesa ist ein lichter Wald, in dem die Bäume respektvoll Abstand halten, und keiner die Aura seines Nachbarn stört. Ihre Verbindung ist unterirdisch, wo ihr Feinwurzelsystem mit den Hyphen von Pilzen ein symbiotisches Netzwerk bilden, ein Mykorrhizen. Neben mir plätschert malerisch ein Bach über weiße Felsen, die gezackt und schartig aus dem Frühlingsgrün des Wiesengrunds starren. Lebhaft plätschert Wasser, begleitet mich eine Weile und untermalt den Rhythmus meiner Schritte. Hinter mir höre ich Stimmen, Pilger, die ich nicht kenne. Lärmend überholt mich eine Gruppe Franzosen, und zerreißt unangenehm die friedliche Stille unter den Bäumen, die dem Morgenlied der Vögel gehört. Der Kuckuck ist mit dabei, und ein anderer Vogel, der mir ständig in den Ohren liegt. Sein Lied klingt wie der Ruf nach der Katze: miez-miez. Wie er wohl aussieht? Ich raste auf einem Stein am Bach und lasse die Gruppe weitergehen.
Nördlich von Monesterio erinnert die Landschaft an die Tage, an denen ich durch Andalusien gewandert bin, obwohl die Baumsavanne offener ist und die Eichenwälder schnell durchquert. Ausgedehnte Weiden und Felder nehmen zu. Durchgehend prägen sie das Landschaftsbild. Wieder ist das Land, durch das die Vía de la Plata führt, eingezäunt. Ich passiere Tore und Trittgatter, die von Besitzverhältnissen sprechen. Die Vía hat sich in eine verdichtete Sandpiste verwandelt; Spuren landwirtschaftlichen Verkehrs. Auf beiden Seiten begrenzen schulterhohe, stacheldrahtbewehrte Zäune meinen Weg. Ich öffne und schieße ein Tor nach dem nächsten. Doch das sind nur die Tore, die dem Wanderer gestattet sind zu öffnen, die meisten Tore entlang des Weges sind durch schwere Ketten und Vorhängeschlösser gesichert. Noch immer begegne ich keinen Tieren.
Unerwartet endet die Baumsavanne hinter einer Wegbiegung. Am Rand eines Hügels bildet der Eichenwald eine scharfe Grenze. Vom Waldrand schweift der Blick über eine weite, offene Landschaft. Die Vía de la Plata führt über die Hügelflanke abwärts. Das schattige Baumland verwandelt sich erneut in eine ausgedehnte, wellige Hügellandschaft. Unter einem weiten Himmel mäandert der sandige Weg zwischen Feldern. Nur gelegentlich erhebt ein Baum seine Krone aus der Weite. Ich kann kilometerweit sehen. Einen Moment zögere ich, den nächsten Schritt zu tun. Die Extremadura bietet meinem suchenden Blick wenig Struktur. Zur Orientierung bleibt nur der sandige Weg unter meinen Füßen. Mit den Augen kann ich ihm weit durch die Hügel folgen. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie lange es dauert, bis ich den ferntsten Punkt erreiche, den ich gerade noch sehen kann. Den Hügel hinab verläuft der Weg in Kurven, doch unten angekommen, streckt er sich in die Länge, führt schnurgeradeaus, bis seine Ränder sich am Horizont vereinen. Solche Wege habe ich nur in Filmen gesehen, in Road Movies, in denen die Protagonisten in großen Straßenkreuzern auf amerikanischen Highway einem imaginären Ziel entgegenfahren. Gegangen bin ich solche Wege noch nie. Die Landschaft ist gewürfelt. Rötliche Brachen umgibt sattgrünes Weideland, dazwischen vereinzelt eingestreut, umgepflügte Felder. Die Scholle frisch aufgebrochen, wartet auf die Aussaat. Krähen kreisen tief, ein einsamer Storch watet durch die lockere Erde. Armageddon für die Käfer und Würmer, die die maschinelle Landwirtschaft unbarmherzig ans Licht gezerrt hat. Über mir dehnt sich der blaue Himmel. Das rotgrüne Land streckt sich dem Horizont entgegen. In der Ferne berühren sich Himmel und Erde. Ein Pferdeland, über das man endlos reiten kann, gäbe es die Zäune nicht. Ein Land für riesige Rinderherden. Doch ich sehe weder Pferde noch Rinder; und erst recht keine Reiter. Eine sicher mehrere hundert Tiere zählende Schafherde grast friedlich auf einem leicht ansteigenden, von vereinzelten Bäumen gekrönten Hang. Noch tragen sie ihr Wintervlies. Unerwartet taucht der Schäfer mit seinen beiden Hunden aus einer Senke auf. Schwarz-weiß gefleckt, mit zottigem Fell, ähneln sie dem Border Collie. Der Schäfer stützt sich auf seinen Stab, der am oberen Ende einen einwärts gebogenen Haken besitzt und an einen Bischofsstab erinnert. Ein Mann mittleren Alters, Gesicht und Unterarme braun, vom Wetter gegerbt, jemand, der die meiste Zeit des Jahres im Freien verbringt. Sein schwarzes Haar ist mit silbernen Fäden durchsetzt, sein Blick hart. Auf den ersten Blick haftet ihm etwas Finsteres an. Doch er scheint konzentriert. Es ist die Spannung des Bevorstehenden, die seine Miene ausstrahlt. Trotzdem nimmt er sich die Zeit für einen kurzen, barschen Gruß. Nicht mehr. Nicht unfreundlich, aber zu beschäftigt.
Nur einen Augenblick später beginnt ein beeindruckendes Schauspiel. Auf einen Pfiff des Schäfers stürmen seine Hunde wie der Blitz unter die Schafe und treiben sie zu einem Kreis zusammen. Eine verblüffend perfekte Form, ein Kunstwerk. Es ist nicht möglich, weiterzugehen. Ich muss dem Treiben zusehen. Den Hunden gelingt es leicht, die Schafe eng zusammenzutreiben, sodass zwischen ihnen kein freier Platz mehr bleibt. In dem engen Rund stößt Schaf an Schaf. Köpfe und Flanken dicht an dicht gedrängt, steigen immer wieder Tiere auf den Hinterhufen hoch, in Panik, wollen sich orientieren, die Situation überblicken, einen Fluchtweg finden. Während die beiden Hunde den Kreis im Uhrzeigersinn umrunden, dreht dieser sich entgegengesetzt, wie ein Karussell um eine zentrale Achse. Ein Meisterwerk der Hütekunst. Jetzt gibt der Schäfer den Befehl zum Aufbruch, und die Herde löst den Kreis wieder auf. Schafe und Hunde bilden eine kooperierende Einheit, alle Tiere wissen genau, was zu tun ist. Sie bilden eine Kolonne, mehrere Reihen, in denen die Tiere geordnet hintereinander gehen, militärisch diszipliniert, glücklicherweise kein Marsch im Gleichschritt, ich würde sonst glauben, in eine andere Welt geraten zu sein. Die Herde schwankt, abwechselnd nach links und rechts, als prüfe sie, in welche Richtung es geht. Gibt es eine Schwarmintelligenz, bietet sie eine Erklärung für diese nonverbale Verständigung, die mit Gesten auskommt. Geknurrt oder gebellt hat keiner der Hunde. Ich lege ein Schritt zu, denn die Herde folgt mir schneller auf dem Fuß, als meine Schritte greifen. Wolfgang überholt mich heute zum zweiten Mal. Er eilt vorbei, ohne seinen Rhythmus zu unterbrechen, wirft nur einen flüchtigen Blick auf dieses Meisterstück. Die Hunde mögen es nicht, bei der Arbeit gestört zu werden, ruft er mir zu, dann beißen sie. Ich stutze, verstehe ihn nicht. Ist denn die Kunstfertigkeit der Hunde, die wie eine Einheit mit den Schafen kommunizieren, eine Selbstverständlichkeit, etwas, das man alle Tage sieht? Ich komme mir einen Moment wie ein Narr vor, weil ich ein solches Ereignis bestaune. Aber nur einen Moment, dann bin ich mir wieder sicher.
Die nächste Furt lässt nicht lange auf sich warten. Die Gruppe Franzosen, die mich vor Stunden überholt hat, taucht von irgendwo auf. Sie erinnert mich an einen Wanderverein. Wolfgang ist schon lange verschwunden. Die Wanderer quälen sich steif und umständlich über unregelmäßige Trittsteine, jeden Moment in Gefahr abzurutschen. Haben sie Angst sich nass zu machen? Ich ziehe mir Schuhe und Strümpfe aus, wundere mich über die Franzosen, und quere die Furt barfuß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Eine willkommene Erfrischung, ein Genuss für meine heißen Füße. Eine der Frauen läuft, stolz platschend, mit Schuhen und Strümpfen durch das Wasser. Goretex verkündet sie strahlend, und ich bezweifele, dass ihre Füße trocken bleiben. Als Kind bekam ich einmal neue Schuhe, die über die Knöchel reichten und von denen meine Mutter behauptete, sie seien wasserdicht. Ich habe ihre Versicherung in dem Fluss, an dem wir damals wohnten, ausprobiert, stand bis über beide Waden mit Wasser und war enttäuscht über meine nassen Füße. Zu Hause bekam ich Ärger, obwohl ich meiner Mutter geglaubt hatte, die nicht verstand, dass ich sie wörtlich nahm. Erwachsene waren damals so. Diese Erinnerung ist plötzlich sehr präsent, während ich der Frau zuschaue, der das Wasser an ihre Waden spritzt. Die anderen Frauen mühen sich gebückt und schwankend über die schlüpfrigen Trittsteine, während ihre Männer am Ufer stehen und diesen denkwürdigen Moment mit ihrem Smartphone festhalten. Mitten in den Aufruhr an der Furt platzt ein Mann, der mit seinem Auto den Feldweg hinab ans Wasser kommt. Der Fahrer hüpft geschickt über die Steine der Furt, als absolviere er diese Übung mehrmals täglich, mischt sich unter den Wanderverein, und zückt Werbe-Prospekte für eine Herberge in Fuente de Cantos. Jedem von ihnen drückt er eins davon in die Hand, fragt nach dessen Nationalität, und notiert sie sich. Für jeden hat er eine laminierte Info-Tafel in der richtigen Sprache mitgebracht, die er mir solange aufdrängt, bis ich nachgebe. Die kopierte Seite eines deutschen Pilgerführers, an der richtigen Stelle aufgeschlagen, ein Kellner, der mir eine Speisekarte präsentiert. Pilgerführer sind ein wirtschaftliches Angebot, das mit der Idee des Pilgerns nichts zu tun hat. Sie bilden eine touristische Infrastruktur mit Wegen und Herbergen ab, und dienen der wirtschaftlichen Entwicklung strukturschwacher Regionen. Mit der spirituellen Dimension eines Pilgerwegs, die auf Unsicherheit, Entbehrung und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten oder auf Gott und den Apostel setzt, hat das nichts zu tun. Die Initiation, die eine Pilgerreise darstellt, ist auf außergewöhnliche physische Herausforderungen und den sie begleitenden, psychischen Bewusstseinszustand angewiesen. Pilgerführer, die auf Sicherheit und Orientierung angelegt sind, fokussieren die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Bedürfnisse und verhindern das Abenteuer, das in den unerwarteten Entdeckungen einer solchen Fußreise liegt.
Bis Fuente de Cantos verändern sich Weg und Landschaft kaum. Die Franzosen haben mich raschen Schritts überholt und werden in der Weite immer kleiner, bis sie verschwunden sind. In der Ferne sehe ich das strahlend weiß in der Sonne leuchtende Städtchen auf einem Hügelkamm liegen. Es ist noch heißer geworden. Die Sonne steht hoch an einem wolkenlosen, blauen Himmel, und ich bin glücklich über jeden schattigen Fleck. Der Regen der letzten Tage und die kalte Morgenfrische haben sich in der Wirklichkeit verloren. Fuente de Cantos, die Quelle der Lieder, schwärme ich still vor mich hin, neugierig auf einen Ort mit einem derartig malerischen Namen. Ein solcher Ort, vermute ich in Vorfreude, kann nur schön sein. Als ich das historische Zentrum erreiche, sind die engen Gassen menschenleer. Hoch am Himmel brütet die Sonne ihren heißen Hauch aus. Schatten gibt es kaum. Ich drücke mich dicht an den gekalkten Hauswänden entlang. In der Stille des Nachmittags klopfen meine Schritte laut auf das Pflaster. Aber den Namen, belehrt mich Cees Nooteboom Monate später, habe ich falsch übersetzt. Quelle der Steine muss es heißen, was nichts daran ändert, dass der Name zu mir spricht, Bilder und Assoziationen auslöst, wie der Ort zu seinem Namen gekommen ist. Irgendetwas Geheimnisvolles bewahren die Worte: die Steine, mit der die Römer die Vía de la Plata gepflastert haben, und die gelegentlich noch zu sehen sind. Die Steine, die sie über die Vía transportierten, um mit ihnen die Gebäude zu errichteten, deren Ruinen als Monumente zurückgeblieben sind. Ihre Sklaven müssen sie entbehrungsreich aus der hitzeflimmernden Landschaft gebrochen und über weite Strecken befördert haben. Mir fallen die vielen Felsen ein, die ich unterwegs gesehen habe, grau-weiße Flecken in der roten Erde der Dehesas. In Almadén de la Plata gab es einst einen Steinbruch an der Vía; vielleicht gab es auch andere.
Es ist früher Nachmittag. Die an der Furt beworbene Herberge liegt im Zentrum der Stadt. Im Atrium lädt ein großer Garten zur kühlen Rast. Die maurisch gestaltete Atmosphäre um den Brunnen erfrischt Körper und Geist an einem heißen Tag. Eine gute Wahl, wenn auch etwas zu kostspielig für mein Budget. Doch ich fühle mich zufrieden, zu Müßiggang aufgelegt, und lasse mich von der angenehmen Atmosphäre des Gartens verführen. Fuente de Cantos ist der Geburtsort des Malers Francisco de Zurbáran, dessen genial gemalten Faltenwurf ich in Sevilla bewundert habe. Die Stadt hat ihrem berühmten Sohn ein Museum eingerichtet. Ich bin der einzige Besucher, den die beiden Damen an der Rezeption empfangen. Es gibt moderne Gemälde zu betrachten, eine Zeittafel und etwas Biographisches, aber keins vom Meister sakraler Kunst. Enttäuscht kehre ich auf die Plaza zurück, an der das Museum gegenüber der Kirche steht. Einen viereckigen Platz umgeben Bänke unter schattenspendenden Bäumen. Matteo sitzt auf einer Bank und beobachtet die Störche, die auch in Fuente de Cantos auf den Vorsprüngen des Kirchturms nisten. Sie säubern mit ihrem langen roten Schnabel ihr Gefieder. Nur gelegentlich breitet einer von ihnen seine großen Flügel aus, erhebt sich in die warme Luft, und dreht klappernd eine Runde um den Kirchturm. Er präsentiert sich, macht auf seinen eleganten Flug aufmerksam, für den er nicht einmal seine Schwingen bemühen muss. Als Matteo schließlich zurück in die Herberge geht, wechsele ich hinüber in eine Bar. Im Schatten unter der Markise steht die Luft still. Kein Wind regt sich, um die heiße Luft zu kühlen. Der Wirt bringt mir das erste kalte Bier des Tages hinaus und stellt mir eine kleine Schale Erdnüsse dazu. Später flaniere ich durch die ausgestorbenen Gassen, vorbei an den in der Sonne leuchtenden, blütengeschmückten weißen Häusern, die mich blenden, sodass ich die Augen zusammenkneife. Die Siesta ist noch nicht ganz vorbei, doch die ersten Passanten haben ihre Häuser bereits verlassen. Nach und nach öffnen die Geschäfte, die in der Mittagszeit geschlossen waren. Die vergitterten Fenster der Häuser zur Straße halten ihre Jalousien noch geschlossen. Erst ab fünf Uhr wird es lebendiger auf Straßen und Plätzen. Es ist noch früh im Frühling, und nicht so heiß wie in den Sommermonaten. Die Siesta stört das nicht.
Mit meinen Einkäufen für den Abend und den nächsten Morgen komme ich in eine belegte Herberge zurück. Ich esse gut, sitze entspannt im Garten der Herberge, und plaudere mit anderen Pilgern über die Erlebnisse des Tages. Neben mir plätschert das Wasser des Springbrunnens und kühlt die Luft. Kalte Getränke und seichte Gespräche. Das Radio trällert schnulzige Waisen; eine Atmosphäre fast wie abends am Lagerfeuer. Ich fühle mich angekommen auf dem Pilgerweg und genieße den Müßiggang, der seinem Namen gerade alle Ehre erweist.
Nachmittags will ich ich Zafra sein, Sevilla Chica, wie sie den Ort liebevoll nennen. Die erste größere Stadt, seit ich ihre südliche Schwester gesehen habe. Als ich morgens in Fuente de Cantos aufbreche, ist es nicht ausgemacht, dass ich schon so früh in Klein-Sevilla auf der Plaza Grande sitze, und auf den Kellner warte, der mich übersehen hat. Eine Wanderung von fünfundzwanzig Kilometern, mit Gepäck auf dem Rücken, ist auch am sechsten Tag für mich keine Kleinigkeit. Himmlische Weite breitet ihren fleckenlosen Mantel über mir aus. Mittags brennt die Sonne auf den kargen Boden, und ich bekomme eine Vorstellung davon, was es bedeutet, diesen Weg einige Wochen später zu beginnen. Wenn es nicht mehr regnet, und sich der Himmel nur noch wolkenlos und ungestört über dem Land ausbreitet. Schon jetzt verbrauche ich zwei Liter Wasser täglich.
Extremadura! Das Land zeigt mir noch immer das gleiche Gesicht. Es dehnt sich um mich aus, lässt mich in seiner Weite verloren zurück, und zeigt mir, wie unbedeutend ich bin. Nicht mehr als eins ihrer Teile, gerade noch hier, im nächsten Moment anderswo. Zuerst ist das Land weit und rotbraun, ein trockener Teint, dann weit und grün, sanft gewellt, störend unterbrochen durch viele Mastbetriebe. Plötzlich gibt es Hunde, die mich verbellen. Gülle stinkt zum Himmel. Schweinemast! Orte der Qual, der Folter und eines langsamen Todes. Weltweit begehrt ist der Schinken. Die schwarzen Schweine der Extremadura zahlen mit Leid und Pein, mit einem Leben, das keines ist, für eine fragwürdige Delikatesse, in Feinkostläden teuer zu bezahlen. Wer definiert eigentlich, was eine Delikatesse ist? Und warum war in der Vergangenheit immer Fleisch daran beteiligt? Das hat sich mittlerweile geändert, und es geraten immer mehr delikate vegetarische oder vegane Köstlichkeiten auf die Speisekarte. Konsumenten, die wir alle sind, sichern die Nachfrage. Viel zu oft blenden wir die Wirklichkeit aus und ignorieren, was wir besser wissen. Tieren wird nicht nur jedes Recht auf ein artgerechtes Leben abgesprochen, wir finden es auch berechtigt, sie diesem Leben auszusetzen. Aus Unfähigkeit, Gewohnheiten zu ändern, wird behauptet, der Homo sapiens benötigte tierische Proteine, als ob wir noch als Predatoren durch Wald und Savanne streiften. Selbst die rezenten Jägerkulturen, deren Überzeugungen die Ethnologie gerade noch dokumentieren und ansatzweise verstehen konnte, begegnen ihren tierischen Mitgeschöpfen mit Respekt. Für sie ist die Jagd und der Verzehr von Fleisch ein sakraler Akt, der von Ritualen umgeben ist, die dem Herrn der Tiere für die getötete Beute danken. Mit Billigung von Staat und Kirche machen wir uns ohne Nachzudenken die Erde untertan. Verantwortung ist so leicht delegierbar. Fernab wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass Tiere Bewusstseinshaber sind, frönen wir archaischen Gewohnheiten, die ihren Überzeugungskontext verloren haben. Der eskalierte Fleischkonsum der westlichen Industrienationen verbraucht gedankenlos die Ressourcen der Welt. Das Resultat: Zivilisationskrankheiten, Klimawandel, Umweltzerstörung, Wasserknappheit und Monokultur, Armut in der Dritten Welt, Missachtung von Tierrechten. Ich glaube nicht, dass die iberischen Schweine mit ihren ungewöhnlich hohen Beinen, die in den kleinen Gehegen am Weg freilaufen, glücklicher sind als die in den riesigen, fensterlosen Ställen, inmitten eines eingezäunten Areals. Betreten verboten! Drohend stehen die blechernen Mastboxen in Sichtweise, in der sie ihre letzten Tage verbringen werden; kurz vor der Schlachtung. Der Boden, auf dem sie leben, ist schmutziggrau, von jeder Vegetation befreit. Menschen essen das erbärmliche Leben und die Angst der Tiere, die in jeder Muskelzelle sitzt. Südspanien ist ein Fleischland, schwierig für Vegetarier. Seit zwei Tagen sehe ich diese Betriebe, höre Schweine quieken und grunzen, die ich nicht sehen kann. Kauf nicht! höre ich mich flüstern, ein Imperativ, der sich wie ein Mantra in meine Schritte drängt. Wir sind die Konsumenten, und wir haben die Macht, das Angebot zu bestimmen. Die Weigerung mitzumachen, ist nicht allein eine moralische Entscheidung. Sie ist zu einer ökologischen Notwendigkeit geworden. Dazwischen Felder, gelegentlich Landwirtschaft, kilometerweit ausgedehnte Flächen mit Weinstöcken. Weinbau als Feldwirtschaft, nicht an steilen Hängen in engen Flusstälern. Weinberge gibt es an der Vía de la Plata keine. Dehesa und Eichen verschwinden immer mehr, nur noch gelegentlich ein Zaun. Führt die Vía in Andalusien durch ein eingezäuntes Land, wirkt die Extremadura jetzt grenzenlos, Felder mit Weizen und Hafer, Rebstöcke und Olivenplantagen am Weg. Die andalusische Parklandschaft liegt hinter Zäunen, in der Extremadura steuern landwirtschaftlich genutzte Flächen meinen Weg. Wasser fließt im Überfluss. Zahlreiche Bäche und Bächlein kreuzen meinen Weg. Sie führen Hochwasser, sind durch den reichlichen Regen der letzten Tage übergelaufen. Sie zwingen mich immer wieder, ihnen auszuweichen, über sie hinweg zu springen, durch sie hindurch zu waten oder über glatte und unebene Trittsteine zu balancieren, die am Wegrand aufgereiht sind. Komfortabel sind die großen grauen Quader, die an größeren Wasserläufen die Überquerung erleichtern. Ich glaube, man hat sie für die vielen Pilger herbeigeschafft. Ich weiß von meiner letzten Fußreise durch Spanien: im Süden steigen die Temperaturen im Sommer bis auf vierzig Grad. Woher nehmen die Bauern dann das Wasser für die riesigen Weinbaugebiete?
Ich habe mir den Verlauf der Vía de la Plata in Andalusien und der Extremadura immer durch eine Ebene vorgestellt. Ich weiß nicht, wie dieser Eindruck entstanden ist. Vielleicht habe ich ein Bild einer der endlosen, schnurgeraden und sandigen Straßen gesehen, rechts und links von Feldern gesäumt, die sich bis an den Horizont ausdehnen. Vielleicht fiel in diesem Zusammenhang das Wort Extremadura. Vielleicht auch eine Imagination dessen, was sich ein Wanderer unter einem Pilgerweg vorstellt? Die Idealisierung des eigenen Lieblingsgeländes? Immer wieder steigt der Weg einen Hügel hinauf, ohne dass sich die Vía de la Plata krümmt oder irgendetwas die monotone Weite der Landchaft stört. Sie behält ihren geraden Weg durch die Extremadura bei. Erst wenn sie höher hinaufklettert, bis auf achthundert Meter, wird sie steil und steinig, von Rinnen durchzogen und gespickt mit Felsbrocken, die stufenartig den Pfad gliedern, erst dann gibt sie ihren geraden Verlauf auf. Wirklichkeit und Vorstellung liegen manchmal weit auseinander. Straßen entlang zu wandern, die endlos scheinen, deren Ende nicht zu sehen ist, nicht einmal zu ahnen, stellen eine psychische Herausforderung dar.
Gelegentlich unterbricht ein Ort die Monotonie der geraden Linien, der ewiggleichen Felder und Plantagen. Cazadillod de los Barros, ein Ort, der kaum Erinnerungen weckt. Er liegt verschlafen in der Morgensonne, als ich eintreffe. Ein Kreisverkehr, den ein Neubaugebiet umgibt. Am Rand der Altstadt, weiße mehrgeschossige Gebäude, nichtsagende, anonyme Fassaden. Matteo steht mit der Gruppe Franzosen vor einem Plan am Ortseingang. Ich gehe grußlos vorüber, während sie vertieft die Route diskutieren. Einen Altar aus Sevillaner Fliesen soll es geben, den schönsten der Extremadura. Doch die Kirche gleicht einer Festung und ist verschlossen. Im Zentrum die obligatorische Plaza de España. Einige Stunden später geht es in Pueblo de Sancho Perés lebhafter und umtriebig zu. Die zentrale Plaza beherrscht die nächste Festung, die trutzige Pfarrkirche Iglesia Parroquial de Santa Lucía aus dem 16. Jahrhundert, die sich über dem Fundament einer älteren Mudéjar-Kirche erhebt. Ob ich es will oder nicht, die spanischen Jakobswege führen mir die großen Kathedralen, Kirchen, Kapellen, Eremitagen und Transitheiligtümer vor. Bedenkt man ihre Geschichte, verwundert das nicht. Niemand kommt an ihnen vorbei, ohne sie wahrzunehmen oder zu besuchen. Sie zu ignorieren fällt schwer. Sie sind präsent wie die Landschaft, sie sind ein Teil von ihr. Sie fordern mich heraus, ich muss mich auf die eine oder andere Weise mit ihnen auseinandersetzen. Als Brennpunkte der Pilgerwege ordnen sie die sakrale Landschaft, durch die die Wege führen. Oft bilden sie das Etappenziel am Ende eines Wandertages.
Um die heilige Lucía, die Leuchtende, die Patronin der Kirche in Puebla de Sancho Pérez, ranken sich unterschiedliche Legenden. Ihre schillernde, schwer fassbare Aura folgt dem Modell der Vita einer katholischen Heiligen. Historisch belegt ist davon nur wenig, doch es kommt ihrer Verehrung zugute, wenn eine numinose Aura die Biografie einer Heiligen in Nebel hüllt. Gesichert ist ihr Geburtsort Syrakus, wo sie als Tochter eines reichen Kaufmanns um 286 auf die Welt kam. Folglich ist sie die Stadtheilige von Syrakus und Venedig, aber auch von Mantua in Oberitalien und Toledo in Spanien. Sie ist eine Märtyrerin, was ihr diese Privilegien verleiht. Heilige eignen sich im Katholizismus besonders gut als Empfänger von Fürbitten, da man sie sich in der Nähe Gottes vorstellt. Um ihr Leben Jesus und den Armen zu widmen, sagte Lucía ihre Hochzeit ab, erzürnte ihren Verlobten, der sie des geächteten Glaubens wegen an die römische Administration verriet. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Sie wurde von einem Ochsenkarren zu Tode geschleift, von mehreren tausend Soldaten in ein Bordell gebracht, mit heißem Öl übergossen und ihre Augen wurden ihr ausgerissen. Doch die Quellen sind sich einig: die Tiere verweigerten ihren Dienst, gegen heißes Öl zeigte sie sich immun und das Ausreißen ihrer Augen überlebte sie als Jungfrau. Im Jahr 304 oder 310 starb sie an einem Schwertstich in den Hals. Ich hätte das Bildnis oder die Statue dieser mysteriösen Frau in der Kirche gerne gesehen, denn die spanischen Heiligenfiguren sind in einem naiven Stil gestaltet, der viel von ihrer Vita spiegelt. Ich verstehe, dass die frühen Christen für die Stärkung ihres Glaubens in dem intoleranten, politischen System der römischen Kaiserzeit diese tröstlich motivierenden Legenden brauchten, um ihren Glauben nicht aufzugeben, doch auch das damalige Christentum war alles andere als duldsam, was fremde Götter betraf. Die neue Religion erwies sich schon sehr früh als politische Macht, von der sich Rom bedroht fühlte. Was schwerer zu verstehen ist: Warum sind diese widersprüchlichen Heiligenviten in unserer aufgeklärten Zeit attraktiv geblieben?
In der Bar El Pito, an der zentralen Plaza gegenüber der Kirche, treffen nach und nach meine Mitpilger ein. Die Bar hatte eine ausgezeichnete Tortilla im Angebot: ein Omelett, dicht belegt mit grünem Spargel, abgerundet mit einer Copita Tempranillo aus der Matanegra-Traube der Region D.O. Ribera del Guadiana, die stark vom Weinbau geprägt ist, nur unweit von Puebla de Sancho Pérez. Die Lebenshaltungskosten des Pilgers sind vergleichsweise niedrig: Tortilla, Wein und Milchkaffee kosten zusammen sechs Euro, was für spanische Verhältnisse allerdings nicht preiswert ist. Doch wer ist dieser Sancho Pérez, der diesem Dorf seinen Namen gab? Das gute Omelette hat meine Aufmerksamkeit korrumpiert, ich habe nicht gefragt. Es gibt Momente, da hilft die Imagination, eine Leerstelle zu füllen. Ein dubioser Held wie Sancho Pansa, dessen Name sich immer wieder in den Vordergrund drängt? Ein ehrenwerter Förderer der Gemeinde, vielleicht ein Gründerheros? Die Familie eines ersten Siedlers? Oder ein berühmter Torero, der hier einst einen großen Auftritt hatte? Das Dorf besitzt nämlich eine besondere Attraktion: eine viereckige Stierkampfarena aus dem 14. Jahrhundert, die älteste Arena in Spanien; manche behaupten weltweit. Der berühmte Matador Alejandro Talavante soll in dieser Arena dem Stier gegenübergestanden haben. Der Matador ist, neben den Picadores und Banderilleros, der Star der Manege, der zentrale Torero des grausamen Spektakels; spanisch matar, töten, lateinisch muctator. Ein Schlächter, der für den Todesstoß am Ende einer Corrida verantwortlich ist. Alejandro Talavantes Stil gilt als einfach aber gestenreich. Sein gelassenes und nachdenkliches Spiel vor dem Stier vermittelte dem Publikum den Eindruck gesammelter Ruhe, was seinen Stil einzigartig machte. Während der linke Arm des Matadors auf seinem Rücken liegt, hält die rechte Hand das rote Tuch. Wenn der Stier die Muleta angreift, hebt er sie über die Hörner, und vollführt eine vollständige Drehung auf der Stelle in die entgegengesetzte Richtung, um ihn mit dem Degen zu töten. Ich bin versucht zu bleiben, die Atmosphäre des alten Gemäuers auf mich wirken zu lassen, denn neben der Arena gibt es eine Pilgerherberge. Ich frage mich oft, was mich an historischen Hinterlassenschaften oder an Ruinen fasziniert? An Gegenständen, die in meiner Lebenswelt nur einen Ort besitzen, wenn ich ihre Existenz mit Bedeutung auflade. Mit Gefühlen, die sich aus dem Wissen speisen, das ich über diese Ort habe. Rose Macauley spricht in ihrem Buch Zauber der Vergänglichkeit von dem fast mystischen Eindruck, den die Überreste gewaltiger Vergangenheit im Gemüt des Menschen hervorrufen, einer Vergangenheit aus Geschichte, Sage und Mythos, real und phantastisch zugleich. Sie nennt diese Anziehung Ruinenlust, eine Einstellung, die Schönheit im Verfall sieht, Hoffnung in der Zerstörung und eine Renaissance im Tod. Ein beunruhigender Gedanke, besonders wenn es sich dabei um eine Stierkampfarena handelt, einen Ort sinnloser Grausamkeit.
Es ist erst Mittag und heller Sonnenschein, und nachdem ich gut gegessen habe, zieht es mich weiter. An einer Tagesetappe gemessen liegt Zafra um die Ecke; fünf Kilometer auf einer kleinen Landstraße, die durch ein Gewerbegebiet führt, ein spanisches Edgeland, wenig malerisch. Es kann nicht immer der verführerische Schein vermeintlich unberührter Landschaft sein. Am Rand von Zafra wandere ich widerstandslos auf zerstörtem Boden. Die Stadt begrüßt mich mit dem eintönigen Neubaugebiet spanischer Städte am Ortsrand: Industriegebiete, Parkplatzareale, Brachen oder gesichtslose, mehrstöckige Wohnhäuser, die in krassem Kontrast zu den gepflegten Altstädten stehen, die spanischen Ortschaften ihr Gesicht geben. Zu einer Perle entfaltet sich Zafra erst im Zentrum: eine gemütliche Kleinstadt in andalusischem Flair; eine mittelalterlich verwinkelte Altstadt weißer Häuser; eine mittelalterliche Burg und eine rustikale Kirche, dazwischen die große und kleine Plaza, umgeben von einem Netzwerk enger, schattiger Gassen; weiße Häuser, wo die Stadt auf ihrer alten Struktur beharrt; das Zentrum der Stadt ein Conjuncto histórico-artístico; Siesta, wenn die Sonne hoch am Himmel steht; rege Lebendigkeit, wenn sie sich auf ihren Untergang vorbereitet, kurz: eine spanische Kleinstadt wie ich sie liebe; fast 17 000 Einwohner. Als ich eintreffe, steht die Sonne hoch an einem strahlend blauen Himmel. Jemand hat es sich nicht nehmen lassen, in die eisige Kälte des Firmaments zarte Cirruswolken auf das blaue Strahlen zu sprühen. Erst Stunden später sind sie verweht.
Schon in der Antike lag Zafra an der Vía de la Plata, die Verbindung zwischen Hispalis und Asturica Augusta, dem modernern Astorga, im nördlichen Kastilien-Léon. Auffällig ist, dass von Kelten und Westgoten jede Spur fehlt, und Zafra erst im achten Jahrhundert wieder eine Rolle spielt, als die Stadt von den Mauren überrannt wurde. In der römischen Epoche hieß der Ort Julia Restitua, die Mauren benannten sie um: Safar. Auf der Grenze von zwei kleinen, arabischen Königreichen gelegen, den Taifas Sevilla und Badajoz, erhielt die Stadt im 11. Jahrhundert eine Wehrburg. Erst im 13. Jahrhundert wurde Zafra von Ferdinand III. von Kastilien-Léon zurückerobert und christlich. Mehr als hundert Jahre später fielen Zafra und Feria an Gómez Suárez de Figueroa, einen Großmeister des Santiago-Ordens, auf den der Titel der Grafen von Feria zurückgeht, deren festungsartiger Palast das besterhaltene, spätmittelalterliche nichtsakrale Bauwerk der Provinz Badajoz ist. Zafras wechselvolle Geschichte dauerte in den folgenden Jahrhunderten unter verschiedenen christlichen Adelshäusern fort, die die Stadt zu ihrer heutigen Gestalt formten. Der maurische Alcázar wurde zum Palacio de los Duques de Feria, das in einer Sackgasse gelegene spätgotische Hospital de Santiago besitzt ein bemerkenswertes spätgotisches Portal und einen Innenhof mit Elementen des Mudéjarstils sowie die mit Barock überladene Colegiata de Santa Clara mit ihrem aus Ziegeln gemauerten Kirchturm und einem Seitenaltar mit Gemälden von Zurbáran, die ich in seinem Geburtsort vermisst habe.
Die Pilgerherberge der Jakobswegfreunde Zafra ist für ihresgleichen ungewöhnlich elegant, die Beletage, die schönste Wohnung eines mehrgeschossigen Wohnhauses im Zentrum der Stadt. Die Pilger werden von einer Hospitalera empfangen, als ob sie von einer langen Reise endlich nach Hause kommen. Sie sitzt im Empfangsraum hinter einem rechteckigen, antiken Eichentisch, vor sich das Gästebuch, in das sie sorgfältig jeden Ankömmling einträgt, den Stempel für den Credenzial und verschiedene Prospekte und Stadtpläne ordentlich vor sich aufgereiht. An den Seiten des Empfangsraums führen mehrere Türen in die Schafsäle. Eine großzügig ausgestattete Wohnung mit vollständig eingerichteter, moderner Küche, zwei luxuriösen Bädern, einem Salon, der auch Frühstücksraum ist sowie einem Arbeitszimmer mit Computern. Die Decke über ihr bildet ein großes, rechteckiges Glasfenster, deren farbige Teile ein Mosaik bilden, durch das die Sonne den Raum in strahlendes Licht taucht. Als ich ankomme, zieht sie gerade eine Jalousie über das Fenster und Schatten fällt herab. Die Herberge gehört zu den Schmuckstücken, die man an den Jakobswegen immer wieder findet, besondere Etablissements, liebevoll gestaltet und engagiert geführt. Manche Hospitaleros besitzen noch immer eine Vorstellung davon, was es bedeutet, Tag für Tag zu Fuß zu gehen, und anschließend tagelang weiter zu gehen. Oft waren sie selbst einmal Pilger, und das merkt man ihrem Verhalten und dem Stil an, in dem sie die Herberge führen. Zwar gibt es auch in dieser Herberge mit Etagenbetten vollgestopfte Zimmer, doch die Atmosphäre ist eine völlig andere. Eine solche Albergue de Peregrino stellt nur den einen Pol dar, der den Pilger materiell versorgt. Dem anderen Pol bin ich in der ein oder anderen öffentlichen Herberge begegnet, deren vernachlässigte Gastlichkeit dem Pilger einiges zugemutet hat. Auf dem Dach des Hauses lädt mich eine große Sonnenterrasse zum entspannten Verweilen ein, zu Begegnungen und Gesprächen sowie mit Blick auf Zafra. Ich fühle mich gut aufgenommen und willkommen. Es ist früher Abend und noch immer angenehm warm in der milden Frühlingluft.
Zafras Altstadt umgibt zwei unterschiedlich große Plätze, die sich an den Abenden füllen. Das alte Zentrum der Stadt bildet die im 15. Jahrhundert von den Mudéjares erbaute Plaza Chica, der kleine Platz, dessen von Ziegelsteinarkaden gesäumte Häuser einen Eindruck der Ruhe vermitteln. Zu den Mudéjares, Muslime, die nach der Reconquista in Andalusien blieben, ihre Religion aber weiter ausüben konnten, gehörten geschickte Baumeister, die einen synkretistischen Architekturstil sakraler und profaner Gebäude entwickelten, der arabische und christliche Elemente verband. Erst im 16. Jahrhundert bekam Zafra die zweite Plaza, die Plaza Grande, den großen, ebenfalls von Arkadenhäusern gesäumten Platz, an Abenden ein belebtes Zentrum der Geselligkeit. Die große Plaza Grande und die kleine Plaza Chica. Alle treffen sich hier: Paare, Arbeitskollegen für einen Workout, Familien mit ihren Kindern, Jugendliche auf der Szene, Straßenmusikanten und Touristen. Auf der palmenbestandenen Plaza Grande, einst der Vorhof einer verschwundenen Kirche, fanden einst Stierkämpfe statt. Heute umgeben den Platz Restaurants und Bars, in denen man unter Schirmen oder Arkaden im Schatten sitzen kann. Durch den sogenannten Arquillo del Pan gelangt man auf den benachbarten kleinen Platz. In die Mittelsäule des kleinen Bogens ist ein Längenmaß eingemeißelt, die kastilische Elle mit 83 Zentimetern. Des Maß löst das Rätsel des kleinen Brotbogens, immerhin ein seltsamer Name, der daran erinnert, dass ich auf dem ehemaligen Markplatz stehe. Doch ich vertreibe mir die Zeit auf dem Großen Platz, sitze vor einer Bar, und beobachte das rege Treiben. Zuletzt haben sich die Gaststätten allmählich gefüllt und es ist schwierig geworden, noch irgendwo einen Platz zu bekommen. In Spanien beginnt der Feierabend nicht vor acht Uhr am Abend. Dann wird gegessen, frühestens, eher später. Erst dann ist man in den Küchen der Restaurants soweit, die Mahlzeiten zu bereiten. Für mich eine schwierige Zeit, viel zu spät, um noch etwas zu essen. Während für die Spanier die Freizeit beginnt, und der Abend oft erst nach Mitternacht endet, bin vom frühen Aufstehen und den vielen Kilometern müde. Mir bleiben meistens nur die kleineren Speisen, Tacos oder Ähnliches, die es in den Bars den ganzen Tag gibt. Den Flüssigkeitsverlust ersetze ich mit spanischem Bier; durstlöschend, schwach und ungesüßt. Nach den vielen Litern Wasser tagsüber, fehlt mir abends der Appetit auf noch mehr Wasser; erst recht nicht auf süße Limonaden. Ich frage mich, ob überhaupt jemand zu Hause geblieben ist, so voll ist es auf den beiden Plazas geworden. Es geht laut und lebhaft zu, man bummelt, schlendert, flaniert, Alt und Jung, untergehakt oder Arm in Arm, Liebespaare enger umschlungen, die Senioren distinguiert, elegant gekleidet, sich ihrer Wirkung bewusst. Zwischen ihnen huschen Kinder, die fangen spielen, auf ihren Dreirädern um die Erwachsen flitzen oder Eiswaffeln in der Hand, genüsslich schlürfend. Plätze sind in Spaniens Städten Orte des sozialen Lebens, der gemeinsamen Mahlzeiten, des geselligen Zusammenseins bei Wein und Tapas. Sehen und gesehen werden, die Leitmelodie, wenn Abend für Abend der Arbeitstag endet, Stunden später, wenn in Deutschland längst Feierabend ist. In Spanien habe ich noch kein Dorf oder keine Stadt ohne eine zentrale Plaza gesehen. Als es dämmert kehre ich zurück in die Herberge, die um zehn Uhr schließt. Einkaufen muss ich nicht mehr, auch nicht kochen. Und für das Frühstück ist gesorgt. Zafra ist eine Stadt in der ich mich wohlfühlen und leben kann - nicht zu klein, mit südlichen Flair. Sevilla Chica, der Name steht ihr gut.
Die Extremadura bleibt sich treu. Die Dehesas mit ihren Eichen bleiben verschwunden, ausgedehnte Felder, so weit, wie ich sie vor Jahrzehnten in der ungarischen Puszta mit dem Auto bereist habe. In nur zwei Tagen ist meine Welt zu einem Feld geworden; zuerst noch Getreide und Oliven, später nur noch Wein. Noch immer keine Weinberge, zwischen denen malerisch ein Fluss mäandert, sondern quadratkilometerweit reichende, ebene Weinfelder. Die Weinstöcke sind kaum wadenhoch, am oberen, knotigen Ende, die ersten frühlingsgrünen Blätter. Nur noch gelegentlich unterbrechen Olivenplantagen die Felder, schulterhohe, uralte Stämme, die ihre Äste wie Schwingen in die Luft ausstrecken, unfähig abzuheben. In der dunstigen Dämmerung sehen die wehenden Arme aus wie Gespenster, die mich ins Verderben locken wollen. Keine Dehesa mehr, keine freien Tiere. Haftstimmung. Die Extremadura beherrschen unangefochten Mastbetriebe und Felder. Die flachen, gemauerten und fensterlosen Ställe brechen wie Geschwüre in der Landschaft auf. Immer wieder weht ihr Gestank atemraubend über die Via de la Plata.
Von Zafra über Villarfranca de los Barros und Torremejía nach Mérida fehlen noch vierundsechzig Kilometer auf meist sandigen Pisten, immer weiter, meist schnurgeradeaus. Die Vía de la Plata verliert sich in der Ferne. Ich weiß nie, ob ich diese Ferne je erreiche, den Punkt, den ich vor mir sehe und auf den ich zusteuere. Irgendwann frage ich mich nicht mehr, ob ich je ankommen werde, denn die Extremadura dehnt sich immer noch vor mir aus. Das Gefühl, ich komme keinen Schritt weiter, dehnt die Zeit zur Dauer. Ich gehe und gehe und der Weg wird nicht kürzer, immer noch sticht er als spitze Nadel in den Horizont, eine Fata Morgana, auf die ich weiter und weiter zugehe, sie aber nie erreiche. Monotonie in der Extremadura bei dreißig Grad. Der Himmel ist blau. Schattenlos brennt die Sonne auf mich und saugt mir den Schweiß auf die Haut.
Inzwischen kenne ich viele der Pilger, die in Sevilla mit mir auf die Vía de la Plata aufgebrochen sind. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft geworden, die in der gleichen Geschwindigkeit vorwärtsstrebt. Bis Mérida bleiben wir zusammen. Wer schneller geht, der gehört nicht zu uns, verschwindet schnell, und hat wahrscheinlich eine andere Gemeinschaft gefunden. Seit Almadén de la Plata treffe ich sie immer wieder, überhole sie oder werde von ihnen überholt. Eine kurze Strecke wandern wir gemeinsam, nicht allein. Nodody Walks Alone, verkündete ein Graffiti, dass in Castro Urdiales, am Camino del Norte, an eine Wand gesprüht war. Wir gehen gemeinsam, gehören irgendwie zusammen, obwohl niemand sich absichtlich dazu entschieden hat. Wir sind zwischen fünfzig und achtzig Jahre alt; die wenigen jüngeren zwischen dreißig und vierzig. Da ist Camille aus Toulouse, Anfang achtzig, die Seniorin unter uns. Obwohl sie physisch nicht so rüstig ist, geht sie täglich zwanzig Kilometer. Ich merke die Anstrengung an ihrem Gang. Sie geht langsam, mit kleinen Schritten, aber stetig weiter. Ihrem Gesichtsausdruck ist das nicht zu entnehmen, sie blickt entspannt, zufrieden lächelnd, freundlich. Meistens ist sie die letzte, die nachmittags in der Herberge eintrifft. Mit ihrer offenen, freundlichen Art hat sie für jeden ein passendes Wort. Sie wird ihren Camino in Cáceres beenden, erzählt sie, da sie ein Ehrenamt zurück nach Hause ruft. Sie ist der Star auf dem Weg, den jeder bewundert. Welcher Mut, welche Begeisterung, die sie in ihrem Alter noch einmal auf den Camino de Santiago bringt. Matteo kommt aus Neapel, ein Senior in den Siebzigern, und ein professioneller Wanderer, der schon mehrmals nach Santiago und Rom gewandert ist. Dieses Mal will er nur bis Salamanca gehen, das reicht ihm, sagt er, er ist nicht mehr der Jüngste. Seine erste Etappe will er im nächsten Jahr fortsetzen. Ob es sein Alter noch zulässt, daran denkt er nicht. Er ist der Manager unserer kleinen Gemeinschaft. Er spricht Spanisch, Französisch und Englisch, und sorgt dafür, dass jeder am Morgen die aktuellen Camino-News bekommt. Er geht schnell, rastet unterwegs kaum. Immer ist er einer der ersten, die in der Herberge ankommen, während ich noch Kilometer vor mir habe. Er repräsentiert die Sequenz: Gehen, Essen, Schlafen. Etwas Anderes habe ich ihn nie tun gesehen. James lerne ich heute Morgen beim Frühstück kennen. Er kommt aus Australien und ist ebenfalls in den Siebzigern; ein stiller, sensibler, nach innen gekehrter, sehr sympathischer Mann, den alle mögen. Ihm entgeht nichts, er hat seine Mitpilger im Blick, interessiert sich für jeden. Er ist mit einer Engländerin verheiratet, die zurzeit ihre kranken Eltern in Sussex pflegt. Er werde dort nicht gebraucht, erzählt er uns, und nutze die freie Zeit für einen weiteren Camino. Er fühlt sich für Camille verantwortlich, wartet immer wieder auf sie, damit sie aufholen kann. Erst wenn er sich erkundigt hat, ob bei ihr alles okay ist, geht er allein weiter. Wer weiß, an wen sie ihn erinnert, warum er sich so verantwortlich fühlt? Vielleicht hat ein schlechtes Gewissen, weil er seine Frau zurückgelassen hat. Nun glaubt er, er muss auf Camille aufpassen, obwohl sie sehr gut zurechtkommt. Im Vergleich zu ihm wirkt sie überhaupt nicht zerbrechlich. Sie versprüht Optimismus, während James` Gesicht aussieht, als quäle ihn etwas. Sie schafft ihre Etappen besser als er. James ist in Zafra erschöpft zurückgeblieben, muss einen Tag unterbrechen und sich erholen. Noch weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist; eigentlich will er bis nach Santiago de Compostela gehen. Dominierten letztes Jahr auf den Jakobswegen im Norden Spaniens die Kerkelings, die Deutschen, sind es auf der Vía de la Plata die Franzosen. Sie wandern zu zweit, zu viert und zu sechst. So unterschiedlich wie ihre Zahl, so verschieden verhalten sich die verschiedenen Gruppen. Zwei Franzosen, Serge und Antoine, ältere Männer, die zusammen pilgern, können unterschiedlich nicht sein. Und doch sind sie Freunde. Jeden Morgen brechen sie gemeinsam auf. Nachmittags wählen sie ihr Bett in verschiedenen Ecken des Schlafsaals, gehen zusammen aus und kehren meist getrennt zurück in die Herberge. Der eine von ihnen ist groß, breitschultrig und kräftig gebaut, mit langem weißen Haar, das er im Nacken zu einem imposanten Knoten geschlungen hat, mit langem Schnur- und Kinnbart. Er wirkt sehr intellektuell, strahlt die Eleganz eines Balsac aus, eines Bohémien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ganz anders sein Begleiter, eher schmächtig und unscheinbar neben ihm, mit Silberblick, öfter mit einer Flasche Johnny Walker unterwegs. Zäh und ausdauernd, drahtig wie ein Terrier, der sich an dem festbeißt, was er sich vorgenommen hat. Ein Proletarier-Typ, mit dem man durch dick und dünn gehen kann. Sie bleiben, ganz französisch, bedauerlicherweise lieber für sich. Abends sind sie immer die letzten, die zurück in die Herberge und ins Bett finden. Zwei andere Gruppen aus Frankreich sind ebenfalls auf dem Weg: drei arrogante und distanzierte Bretonen, die mit dem freundlichen Youhei aus Japan unterwegs sind. Wie er zu ihnen gestoßen ist, obwohl er nicht zu ihnen passt, weil sie sich immer ein wenig über ihn lustig machen, weiß ich nicht. Die anderen, zwei Männer und eine Frau, kommen aus L´Orient. Sie sprechen nur Französisch, antworten auf "Good Morning!" hochnäsig mit "Bonjour!“ Wer kein Französisch spricht, den beachten sie nicht weiter. Englisch zu sprechen, verweigern sie, Deutsch erwarte ich nicht. Die mir sympathischsten Franzosen wandern zu viert, manchmal auch zu sechst, denn immer wieder stoßen zwei Ungarn dazu, ein weiteres Paar, und löst sich dann wieder von ihnen. Sie sind kontaktfreudig und leutselig, haben mit allen Kontakt, sind interessiert an ihren Mitpilgern. Sie versuchen sich in verschiedenen Sprachen, in jeder dilettantisch zwar, aber bemüht, sich zu verständigen, was auch nicht weiter schwierig ist. Sylvain spricht etwas Deutsch, übriggeblieben aus seiner Zeit als Bauzeichner in Mannheim, als er Mitte zwanzig war. Er freut sich über seine verbliebenen Sprachkenntnisse; Deutsch hat er seit Mannheim nicht mehr gesprochen. Er muss es gut gesprochen haben, wenn er solche Reste mobilisieren kann. Wir unterhalten uns in einem Gemisch aus Deutsch und Französisch, und haben lustige Radebrechs miteinander. Endlich hat er Zeit genug, ist pensioniert, und mit Martine, seiner Frau auf dem Weg nach Santiago, um sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Seine Freude ist leiblich spürbar, so sehr strahlt er. Liam kommt aus London, ist auf seinem ersten Camino, und will bis ans Kap Finisterre gehen. Markus, der Digital-Freak aus München, mit umfangreichem Equipment unterwegs, will ohne Unterbrechung von Villafranca de los Barros nach Mérida gehen. Er will Zeit sparen, was ihm einer der grauen Herren aus Michael Endes Roman geraten haben muss. Ich treffe ihn ein paar Tage später in Mérida wieder, wo er fußkrank pausiert. Wolfgang aus Heidelberg, der nur in Hotels übernachtet, am liebsten mit Badewanne für seine müden Muskeln, gehört mit dazu, obwohl er meistens an allen vorbeiläuft. Immer nur ein kurzer Small Talk, schon ist er vorbei, und in der Ferne verschwunden. Reinhold und Sally aus Bayreuth, mit denen ich gerne zusammen gewandert bin, habe ich seit Monestario aus den Augen verloren. Entweder sind weit zurückgefallen oder wandern vor mir her. Sie übernachten nicht in Pilgerherbergen, sodass sie wie Wolfgang nur gelegentlich auftauchen. Vielleicht treffe ich sie unterwegs wieder; bis nach Santiago kommen sie in nur drei Wochen ohnehin nicht, wollen aber Salamanca erreichen. Und der junge Spanier aus Valencia, mein Guardian Angel, der mich in Zafra vor dem Verlaufen rettet, und mich auf Abkürzungen sicher aus der Stadt bringt. Ausnahmsweise komme ich noch vor Matteo in Los Santos de Maimona an, ein in der Morgensonne strahlend weißen Städtchen, wie alle anderen von den Römern gegründet und im 13. Jahrhundert von den Santiago-Rittern zurückerobert. Unsere Unterhaltung ist amüsant, er spricht nur Spanisch, und ich kaum. Ein unvergleichliches Vergnügen, eine Comedy, wie wir uns von Missverständnis zu Missverständnis hangeln. Sie bilden eine charakteristische Mischung von Wanderern, meine temporären Mitpilger, die mit mir zusammen auf der Vía de la Plata unterwegs sind. Später werden es andere sein, denn der Weg ist noch weit. Von Pilgern zu sprechen, ist nicht ganz korrekt, denn wir verbringen unseren Urlaub hier, sind Naturliebhaber, oder sportlich oder touristisch unterwegs. Alle sind Wanderer wie ich, und unterschiedlich religiös. Das Angebot an Herbergen und Unterkünften ist auf sie abgestimmt. Noch halten sich die Pilgerzahlen auf der Vía de la Plata im Rahmen, anders als auf den nördlichen Jakobswegen, die mittlerweile überlaufen sind. Doch es sieht alles danach aus, als würde sich das bald ändern.
Villafranca de los Barros ist, nach Zafra, das zweite Städtchen, dessen mediterrane Atmosphäre mir gut gefällt. Zafra tritt vornehm und aufgeräumt auf, bietet etwas für das Auge, während Villafranca de los Barros einfacher und bodenständiger, aber auf seine Weise nicht weniger attraktiv ist. Die Geschichte des Orts reicht zurück in die Bronzezeit. Die Römer waren hier, die Reconquista eroberte Villafranca im 13. Jahrhundert von den Mauren zurück und christliche Landwirte siedelten sich an. Das Städtchen liegt in der Weinbauregion Ribera de Guadiana, Wein und Touristen bilden die Haupteinnahmequelle.
In Villafranca treffe ich viele meiner Mitpilger bei Milchkaffee und Bier auf der zentralen Plaza wieder. Wir sitzen auf der Terrasse einer Bar und unser Gespräch kreist wie selbstverständlich um Camino-Erfahrungen, ein Fluss sich wiederholendes Caminolatein. Es klingt wie ein Wettbewerb rivalisierender Männer, den Camille schweigend verfolgt. Den Abend verbringen wir gemeinsam in der Herberge Las Caballeras, die doppelstöckige Betten als Kojen gestaltet, ein Optimum an Privatsphäre für einen Schlafsaal. Jemand hat Rotwein mitgebracht. Es wird spät.
Etwas hat sich geändert. Ich habe begonnen, mich noch einmal neu zu erfinden. Die Extremadura liegt schattenlos unter einer heißen Sonne. Eine achtundzwanzig Kilometer lange Etappe. Schon morgens komme ich nur mühsam voran, und mir graut vor dem Tag. Es ist ein Irrtum, zu glauben, Tag für Tag werde das Wandern leichter, und irgendwann hört der Körper auf, die Mühen der Fußreise zu spiegeln. Es gibt aufeinanderfolgende Tage, da ist das so. Doch dann gibt es immer wieder einmal einen Tag, an dem ich mich morgens erschöpft auf den Weg mache, ein Tag, stelle ich mir vor, der die gesammelten Beschwerden der vergangenen Tage bündelt, um sie mir vor Augen zu führen. Schon nach wenigen Kilometern schmerzen meine Füße und Beinmuskeln, mein Rucksack drückt so schwer auf die Schultern, dass ich mich frage, welches Gewicht über Nacht dazugekommen ist. Ich bin noch lange nicht angekommen, der Tag noch jung, und die Entfernung, die noch vor mir liegt, bedrückt mich. Ich schaffe es nicht, mich mental von meinen trüben Gedanken und körperlichen Missempfindungen zu lösen, denke ständig an die lange Distanz, an meine schmerzenden Muskeln und finde meinen Rhythmus nicht. Das macht es zusätzlich schwierig, gut auf dem Weg zu sein. Heute hilft mir auch die Landschaft nicht. Um mich herum ist nichts, was mich ablenkt. Alle meine Mitpilger sind in diesem Nirgendwo verschwunden, und ich fühle mich einsam und verlassen. Es herrscht Monotonie in der Extremadura, Weite und Wind, Weinfelder und Olivenhaine. Sonst nichts. Ah ja, und Staub. Achtundzwanzig Kilometer geradeaus. Die Vía de la Plata eine staubig-steinige Sandpiste. Ich quäle mich durch sich endlos dehnende Weinfelder, die sich in der Ferne verlieren. Immer häufiger fühlt es sich an, niemals anzukommen. In der Mittagshitze steigert sich dieses Gefühl. Ich schleppe mich nur noch vorwärts, schwer auf meine Stöcke gestützt. Ein Hitzetunnel, mit schwer gewordenem Gepäck. Automatisch gehe ich weiter, setze Fuß vor Fuß, stereotyp, die Gedanken laufen sich im vorwärts, vorwärts, vorwärts tot. Nicht nachdenken, immer nur weiter. Ich verliere das Gefühl für die Zeit, nur die Dauer bleibt. Alles sieht gleich aus, die Landschaft ändert sich nicht, das Gehen wird ein Teil von ihr. Irgendwann passiert die Vía de la Plata eine Kreuzung mit motorisierten Verkehr. Die Abzweigung in eine Kleinstadt, nach Almendralejo, westlich von mir. Nur wenige Kilometer entfernt liegen ihre Häuser wie eine weiße Linie auf der Landschaft, über der es flimmert. Die Hälfte des Wegs nach Torremejía. Wein und Oliven haben Almendralejo zur reichsten Stadt in der Terra de Barros, dem Land der Fässer, gemacht. Der Name bezieht sich auf die zahlreichen Bodegas, die Kellergewölbe, in denen der Wein in Eichenfässern lagert. Almendralejo ist Sitz der Herkunftsbezeichnung D.O. Ribera del Guadiana für die Weine der Extremadura. Wolfgang unterbricht seine Fußreise, und bleibt in die Stadt. Sein Reiseveranstalter hat ihm ein Hotel gebucht, und er ist an diese Planung gebunden, denn sonst kommen alle folgenden Buchungen durcheinander. Ich muss weiter, denn ich habe für übermorgen ein Zimmer in Mérida gebucht, wo ich zwei Tage bleiben will. Ich fluche über die Dummheit zu buchen, denn ich wäre gerne mit ihm abgebogen. Wir hätten zusammen den Abend verbracht. Stattdessen tauche ich zurück in den Tunnelblick, aus dem er mich im Vorübergehen erlöst hat, schalte die Walking Machine wieder ein, und gehe und gehe und gehe weiter und versuche nicht nachzudenken und zu fühlen. Doch zuletzt, immer wenn ich erschöpft bin und Angst habe, nicht mehr weiter zu können, schießt mir das Adrenalin in die Adern. Das Hormon, das Konzentration und Aufmerksamkeit weckt, gibt mir plötzlich das Gefühl, endlos weitergehen zu können. Das Spüren lässt nach und der Wille triumphiert. Ein heißer Tag nähert sich seinem Ende.
Am späten Nachmittag treffe ich erschöpft in Torremejía ein, in einem Ort mit dem Charme einer kleinen Grenzstadt irgendwo im Nirgendwo, eine Umgebung, die jedem Italo-Westen Ehre macht. Torremejía ist eine weitere römische Gründung an der Vía de la Plata, doch nichts weist auf römische Spuren hin. Der Palacio de los Mexía aus dem 15. Jahrhundert, als die Region mit Abschluss der Reconquista von christlichen Siedlern in Besitz genommen wurde, ist zu einer touristischen Herberge in historischem Stil verkommen, die Fassade nach Aufmerksamkeit heischend mit Jakobsmuscheln und Antikenresten dekoriert. Ich fühle mich ausgetrocknet, was ich wohl auch bin, denn mein Wasservorrat ist längst aufgebraucht. Nachfüllen kann ich meine Flasche in der Extremadura nirgendwo, keine klaren Bäche wie in den Dehesas, lediglich schmutziges, abgestandenes Wasser in der einen oder anderen Viehtränke oder in einem Graben. Meine Kleidung klebt mir schweißgetränkt am Körper, sodass selbst mein Rucksack nasse Stellen aufweist. Die Straßen in Torremejía sind staubig und leer. In der Nachmittagssonne kommt niemand nach draußen. Selbst die Hunde, die am Straßenrand im Staub liegen, heben nur schläfrig den Kopf. Ein räudiger, schmutziger Köter empfängt mich am Ortseingang, wo der unebene Feldweg an einer Autoschlosserei auf eine asphaltierte Straße trifft. Wie geprügelt schleicht sich er sich an mir vorbei. Die Schule ist aus. Auf dem großen Platz vor dem Schulgebäude geht es lebhaft zu, und mir scheint, alle Bewohner, die in den anderen Straßen fehlten, haben sich hier versammelt. Sogar die Polizei ist gekommen, um zu kontrollieren, ob etwas zu regeln ist. Alle Zugangsstraßen haben sie gesperrt, Väter und Mütter versammeln sich vor dem Schultor, und nehmen ihre Sprösslinge in Empfang. Eine Polizistin wartet zurückhaltend im Hintergrund. Torremejía, eine Kleinstadt mit kaum Verkehr in den Nebenstraßen, weiß, was sie ihren Kleinsten schuldig ist.
Die Albergue Rojo Plata ist eine der schlechtesten bisher; ein enger, mit Betten vollgestopfter Schlafsaal. Ich muss Übernachtung, Pilgermenu und Frühstück als Paket buchen. Aber ich schaffe keinen Widerspruch mehr, die adrenalingeschuldete Energie hat nicht lange gereicht. Als ich den Ort endlich vor mir sah, fiel die verdrängte Erschöpfung über mich her. Was im ersten Moment als günstige und preiswerte Herberge erscheint, erweist sich als teuer. Ich habe keine Alternative, eine andere Unterkunft in Torremejía will ich nicht suchen. Wieder sitzt Matteo auf seinem Bett im Schlafsaal als ich eintrete, und begrüßt mich lächelnd. Seine Gelassenheit springt auf mich über, ich nehme meine Erschöpfung an, die versucht, mich zu erdrücken und lächele zurück. Spät abends, als die anderen eingetroffen sind, gehen wir gemeinsam ins Restaurant und genießen unser Zwangsmenu in einem Hinterzimmer des Restaurants, das zur Herberge gehört. Ein scherzender Wirt serviert ein opulentes Menu und schenkt ununterbrochen Rotwein nach.
Am nächsten Morgen mache ich mich verkatert und im Regen auf den Weg. Der Himmel über mir gefällt sich in dunklem Grau, durch das schwere Wolken mit weißen Rändern treiben. Im Frühling unterschiedet sich das spanische Wetter nicht vom deutschen, und der April wartet mit Kapriolen auf. Matteo gibt die Losung aus: Heftige nächtliche Niederschläge habe die Vía de la Plata unpassierbar gemacht, die stellenweise unter Wasser steht. Hochwasser. Nach Mérida komme ich nur über die alte Bekannte: die Nationalstraße N 630. Ich frühstücke in die Bar an der Hauptstraße, trödele, und hoffe, dass es aufhört zu regnen. Sechzehn Kilometer im Regen auf einer nassen Landstraße, auf der vorbeifahrende Autos mir das Wasser aus den Pfützen an die Hosenbeine spritzen und mich an den Rand drängen, bilden keine verlockende Aussicht. Meine Füße schmerzen noch von gestern, und der Gedanke an eine Busfahrt breitet sich in mir aus. Ich spüre, wie ich nachgebe, schaffe es aber nicht herauszufinden, wann der Bus verkehrt. Ich will nicht zu Fuß gehen, und will auch nicht warten. Letztlich ergebe mich in mein Schicksal und mache mich im Regen auf den Weg. Es dauert Stunden, bis es weniger regnet. Der Asphalt der N 630 spiegelt sich im trüben Licht. Weiter vorne kämpfen sich Sylvain und seine Gefährten gebeugt durch Wind und Regen. Wer hinter mir geht, kann ich durch den Regenschleier nicht erkennen. Vielleicht Camille und James? Doch da fällt mir ein, dass er in Zafra geblieben ist. Die Römer, die einst hier entlangmarchierten, mussten sich über ein unregelmäßiges Pflaster mühen, und die mittelalterlichen Pilger sahen sich bei Hochwasser sicher vor ein schwieriges Problem gestellt. Als alles nass genug ist, hört der Regen endlich auf. Die Sonne schimmert blass zwischen den Wolken wie durch eine milchige Glasscheibe. Wärme spendet sie nicht. Der Wind weht weiter kalt und kräftig und das Spritzwasser der vorüberfahrenden Autos haz meine Hose schmutzig gefleckt. Unter meinem Poncho bin ich geschützt vor dem Regen, aber nass geschwitzt. Ein ungemütlicher Tag, ich gehe schnell und schwitze stark. Vier Stunden später bin ich in Mérida, dem einstigen Rom Spaniens.
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