wie schön ist die Welt ... sing,
damit ich in meiner Zelle tanzen kann,
mit meinem Schatten,
auf Zehenspitzen, zu deinem Lied,
in dem alles Bewegung ist,
alles Straße, alles Horizont, alles Wind und Regen
Michael Obert
Wer von Anfang an weiß, wohin ihn der Weg führt, kommt nicht weit, warnt ein Sprichwort. Doch ans Cabo de Finisterre ist die Entfernung nicht weit genug, um das Ziel beim Gehen aus den Augen zu verlieren. Der Weg ist nicht länger das Ziel. Ich bin seit sechs Wochen zu Fuß unterwegs. Auf der Walz, wie manch ein Handwerker noch heute. Aber auch der Ethnologe, und der Schriftsteller, der er schließlich ist, findet sein Werk draußen in der Welt. Es gab eine Epoche, da war niemand Meister, der sich nicht unterwegs weitergebildet hat. On The Road, was klingt treffender. Von Alan Ginsberg, Jack Kerouac und Aldous Huxley geadelt und seitdem tausendfach wiederholt. Wenn auch in neuem Gewand. Manche Gesellen lassen sich noch immer auf diese altehrwürdige Rite de Passage ein, bevor sie Mann und Meister sind. Drei Männer und eine Frau habe ich in Zimmermannstracht in den Gassen von Santiago de Compostela getroffen. In schwarz und weiß, mit breitkrempigem Hut, weißem Hemd und schwarzer Weste, das Messer am Gürtel ihrer groben Cordhose, mit dem knorrigen Wanderstock aus Wurzelholz in der Hand. Gesellinnen haben endlich Einzug ins Handwerk gehalten.
Gehen und Denken, das Spüren nicht vergessen, dass neues Denken inspiriert und das Gehen motiviert. Ein Kreis, der sich als Spirale aufwärts schraubt. Stundenlanges, tagelanges Gehen erzeugt einen Flow, der Zeit, Raum und Leib in Einklang bringt. Die Zeit wird zur Dauer, nicht messbar, nur spürbar. Der Leib weitet sich in den Raum hinaus, und das Denken wird assoziativ. Ich habe geschrieben: Ich gehe, also bin ich! Künstler*innen und Wissenschaft*innen vertreten heutzutage die Meinung, der Mensch-Maschine, dem Maschinen-Menschen, gehört die Zukunft. Mir gefällt der Gedanke, dass der Mensch der Zukunft fähig werden soll, zu Hause und in der Welt zugleich zu leben, auf der Schwelle und im Haus. Von Cyborgs verstehe ich nichts, und kann mir ein solches Leben auch nicht vorstellen, obwohl ich befürchte, dass er das Modell der Zukunft sein könnte. Vieles spricht dafür. Die meisten Menschen fürchten den Zwischenbereich, denn er ist nicht mehr ritualisiert und begleitet. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich an Sicherheiten zu klammern, doch die gibt es in der Liminalität des Dazwischen nicht. Sicherheiten sind trügerisch, wo immer man sie zu finden hofft. Was bleibt, ist das Versprechen des Konsums, der die Illusion aufrecht erhält, wir können den uns zufallenden Veränderungen entfliehen. Ich bin in den letzten Wochen durch einen Zwischenraum gewandert, der das eine nicht mehr ist, und das andere noch nicht war. In einer Blase, in der die Welt nicht mehr meiner bekannten glich. Herausgehoben aus der vertrauten Welt, war ich in einer Fremde gelandet, die es bisher nur in meiner Fantasie gab. Immer nur der gegenwärtige Pfad, der Weg oder die Straße. Am Nachmittag ankommen, etwas zu essen und ein Bett finden. Über dieses Ziel hinaus gingen meine Gedanken selten, wenn überhaupt, dachte ich rückwärts. Gedanken machen sich beim Gehen manchmal von selbst auf die Beine. Das Denken lockert sich und wird assoziativ. Erstaunlich was es dabei zuweilen findet. Erst in der Begegnung mit Mitpilgern zerplatzt die Blase. Für die Dauer der Begegnung. Danach fließt sie wieder über mir zusammen.
Immer weiter gehen, kein unmittelbares Ziel zu haben, daran erkennt man den Pilger, der schließlich aufhört weit vorauszuschauen, sodass sein Ziel zur Idee gerinnt. Das eigene Weltbild spielt dabei die entscheidende Rolle. So ist es gleichgültig, welchen Werten jemand folgt. Ist der Weg lang genug, unterscheiden sich diese kaum noch voneinander. Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Konfession, die die Pilger eint, es ist die spirituelle Erfahrung der Communitas, die die Pilgergemeinschaft zu einem Leib verbindet. Nobody walks alone ist mehr als Propaganda, mehr als ein leeres Wort. Religion ist ein Grundbedürfnis, das sich für jeden auf die zu ihm passende Weise äußerst. Wer es schafft, den Blick von der Konfession und deren ideologischer Verblendung zu wenden, der versteht, was ich meine.
Santiago de Compostela war gestern. Heute bin ich wieder auf dem Weg. Immer weiter nach Westen. Soweit es geht. Ich bin aus der unpersönlichen Atmosphäre der Herberge geflohen und verlasse die Jakobusstadt früh am Morgen durch fast leere Gassen. Vorbei an der Kathedrale, die in der dämmrigen Morgenstimmung verlassen liegt. Außer mir sind nur einige andere Pilger unterwegs, allein oder in Gruppen. Getrennt verlassen wir die Stadt, wie Kuriere, die eine Mission vorantreibt. Wie eine verschworene Gemeinschaft, die sich ihrer Präsenz bewusst ist, ohne sich immer gleich auf sie zu beziehen. Niemand anders ist unterwegs. Es wird heller, als ich die Stadt durch einen Park verlasse. Sofort führt der Weg wieder hoch hinauf. Von weitem sehe ich die drei Türme der Kathedrale, eine Skyline, die gespenstisch den Morgendunst perforiert.
Ich will ans Cabo de Finisterre gehen, um zuzuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt. Im Westen, wo jenseits des Horizonts die elysischen Gefilde liegen, und wohin die Kelten ihre Toten schickten. Mit nichts anderem zwischen mir und der Sonne als den Wellen des Atlantiks. Atlantis ist nicht mehr, wenn es denn jemals dort lag, um mir die Sicht zu versperren. Es heißt, die mittelalterlichen Pilger sind auch bis an den Rand des Atlantiks gewandert. Sie dachten sich dort das Ende der Welt: finis terre. Das Meer war ihnen unbekanntes Terrain, bevölkert von Ungeheuern und Dämonen. Am Horizont gähnte ein Abgrund, ein Riss in der Welt, der alles, was ihm zu nahe kam, verschlang. Die neue Welt ein Traum, geträumt von kühnen Seefahrern und berechnenden Kaufleuten und Politikern. Visionen, befördert durch die unerbittliche Allianz von Ruhm, Profit und Macht. Was wollten die mittelalterlichen Pilger am Rand der Welt? Was ich dort will, dass weiß ich. Ich will noch einmal ans Meer, auf die endlose Weite von Wasser und Himmel hinausschauen, bevor ich zwischen die Mauern von Berlin zurückkehre. Niemand kann mit Sicherheit zu sagen, ob der Jakobsweg schon immer ans Ende der Welt führte. Für mich endet er auf den steil abfallenden Klippen eines Kaps.
Den ganzen Weg von Santiago de Compostela bis in das Provinzstädtchen Negreia verkündeten hölzerne Wegweiser: Camino de Santiago, obwohl der Apostel und die Stadt hinter mir im Osten verschwunden sind. Immer wieder komme ich an Zeugen der Geschichte dieses Wegs vorbei, ob Pilgerweg, Via Romana oder jahrhundertealte Handelsstraße. Brücken, die vielleicht die Römer gebaut haben, die hier irgendwo auf dem Weg von Lucus Augusti nach Iria Flavia vorbeigegangen sind. Christliche Wegkreuze, Stiftungen frommer Zeitgenossen. Nachmittags will ich in Negreira sein, über den Alto do Mar de Ovellas, mit einer Steigung von dreihundert Höhenmetern der vorletzte Berg meiner Wanderung. Ich gehe über asphaltierte Landstraßen und durch kleine Weiler nach Augapesada. An Bars herrscht unterwegs kein Mangel; für Erfrischendes ist gesorgt, sehr angenehm an einem heißen Tag. Kaum habe ich das Straßendorf auf einer schnurgeraden Straße durchquert, zeigt der Jakobsweg noch einmal, was er an Steigungen zu bieten hat. Am Ortsende biegt der Weg auf einen steil ansteigenden Waldweg ein. Zu Beginn geht es noch moderat bergauf, dann auf einem Waldweg immer steiler und steiniger. Auf jeder Bank verschnaufen erschöpfte Pilger im Schatten. Innerhalb von zwei Kilometern steige ich den Berg hinauf, zuletzt auf einer schattenlosen Landstraße. An einer Quelle diskutieren zwei Franzosen, ob sie das Wasser trinken können. Nach der staubigen Kletterei erfrischt mich das kalte Wasser. Ich wasche Gesicht und Arme, lösche meinen Durst und gehe zurück auf die Landstraße. Auf dem Gipfel angekommen, lohnt die Aussicht den Aufstieg nicht.
Die Brücke von Ponte Maceira ist unbestritten das Highlight des Tages. Bis dorthin war der Weg unspektakulär, über die Landstraßen einer dicht besiedelten Region, eintönig und langweilig. Schattenloses Gehen unter immer heißer brennender Sonne, schließlich so heiß, dass mein Körper Hitze abstrahlt wie ein überhitzter Kaminofen. Ein Gefühl von heißer, vibrierender Luft unmittelbar unter der Haut. So heiß wie heute war es auf meiner ganzen Fußreise nicht. Der Sommer kündigt sich an. Die mächtige alte Brücke in Ponte Maceira hat die Jahrhunderte unbeschadet überstanden. Autos fahren heute über die einspurige, gepflasterte Brücke wie in früheren Tagen Kutschen und Fuhrwerke. Die Streitwagen, Truppentransporte und Marketenderinnen im Tross der Römer, zu allen Zeiten die Karren der Bauern, Händler und Siedler. Erneuert oder restauriert wurde die majestätische Brücke anscheinend nie, jedenfalls sehe ich keine Spuren. So wie sie immer noch über den Tambre führt, in Sichtweite eines halbkreisförmigen Wehrs, war es wohl schon immer. Im stummer Zwiesprache erzählen mir die Steine der Brücke von Jahrhunderten, die zu zeitloser Dauer verschmelzen, als ich auf ihren alten Pflaster den Fluss überquere. Hinter dem Wehr plantschen Pilger, unbekümmert wie Kinder, im Wasser. Negreira ist noch fern, und die Wege und Landstraßen beinahe schattenlos. Kreuz und quer mäandere ich von einem schattigen Fleck zum nächsten, den vereinzelte Sträucher und Baumgruppen auf Erde und Asphalt werfen. Die Hitze füllt mich ganz aus. Von meinem Hemd tropft mir Schweiß in Hose und Schuhe. Meine Füße fühlen sich an als stünden sie in warmem Wasser. Die Sonne ist unerträglich geworden. Ihre wohltuende Wärme hat sie bereits vor einiger Zeit verloren. Nun brennt sie unbarmherzig vom Himmel, und ich muss an die rotbraune, trockengebrannte Erde in der Trockenzeit denken, über der die Luft flimmerte.
Ich bin nicht wählerisch. Am Stadtrand von Negreira versuche ich die erste Herberge am Weg. Es gibt nichts zu essen, und da Sonntag ist, gehe ich weiter in die Stadt hinein. Eine Viertelstunde später sitze ich im kühlen Aufenthaltsraum der Albergue San José und trinke bis sich mein Magen wie ein Wassertank anfühlt und Feuer und Hitze gelöscht sind. Große Schlafsäle mit neuen Etagenbetten und einem verschließbaren Schrank. Hell, luftig und geräumig. Jugendherbergsatmosphäre. Ich beziehe mein Bett, wasche meine durchgeschwitzte Kleidung und verbringe Stunden im Garten der Herberge in der beharrlich ausharrenden Hitze. In der aufgeheizten Luft vermeide ich jede Bewegung. Am frühen Abend gehe ich essen. Eine leichte Brise weht die Straße hinab, die die Hitze angenehmer macht. An den Tischen vor der Bar ist es voll geworden. Die Sonne steht tief und wirft die Schatten der Häuser auf den Asphalt. Je weiter ich nach Westen komme, desto später geht die Sonne unter. Es ist 22:30 Uhr als es dämmert und im Schlafsaal dunkel wird. Mein Ladegerät ist verschwunden. Wahrscheinlich habe ich es in der Herberge in Santiago vergessen. Nach einer Unterhose und der defekten Kamera der dritte Verlust. Nicht schlecht nach sechs Wochen auf dem Trail.
Ich habe gut geschlafen. Kein Schnarcher störte meinen Schlaf. Die Spanier im Schlafsaal stehen um fünf Uhr auf und beenden meine Nacht. Sie packen ihre Rucksäcke und sind schon verschwunden, bevor ich richtig wach bin. Licht an, Licht aus, Schranktüren quietschen, Türen schlagen zu. Weiter zu schlafen ist unmöglich. Leise zu sein, für Spanier ein Ding der Unmöglichkeit. Nun habe ich Stunden Zeit, bevor die Läden öffnen und ich mir ein neues Ladegerät kaufen kann. Ich trödelte durch die Stadt, suche ein Geschäft für Elektrobedarf und trinke Milchkaffee in der einen oder anderen Bar. In jeder beschallt ein laut gestelltes Fernsehgerät den Raum. Niemand schaut hin. Männer stehen am Tresen und unterhalten sich lautstark, während Frauen für einen schnellen Expresso vor der Arbeit einen Platz an einem der Tische bevorzugen. Lounge und Bar, denke ich, wie in England, doch in einem Raum. Kurz vor elf Uhr verlasse ich mit einem neuen Ladegerät und aufgeladenem Smartphone Negreira.
Auf Feld- und Waldwegen wandere ich nach Piaxe und Vilserio, unter heißer Sonne. Ein Hirschkäfer, auf dem staubigen, grauen Weg, bedroht mich mit aufgerichteten Zangen. Ein Mann, der vorbeikommt, kennt den spanischen Namen des Käfers nicht; nur den galicischen, den ich vergessen habe. Doch das reicht für ein Gespräch über das Woher und Wohin. Er fragt mich in passablem Englisch aus, und wir plaudern über Dies und Das, besonders über Unterschiede zwischen Deutschland und Galicien. Später kommt mir ein Rentner einen Berghang hinunter entgegen, der seinen Hund ausführt. Er hat fünf Jahre bei Opel in Rüsselsheim gearbeitet. Unsere Unterhaltung wird zu einer spaßigen Angelegenheit: er mit den Resten Deutsch, die ihm geblieben sind, ich mit den wenigen Brocken Spanisch, mit denen ich mich seit Wochen durchschlage. Doch wir verstehen uns gut, lachen viel und verabschieden uns mit Handschlag.
Der kurze Aufenthalt in Piaxe, die lauwarme Limonade und die trostlose Umgebung vor der Herberge treiben mich schnell weiter. Ein Pilger aus dem Münsterland, der die Vía de la Plata heraufgekommen ist, erzählt mir von großer Hitze, von Wassermangel, langen Etappen mit Tunnelblick. Wieder bin ich zufrieden, mich im letzten Augenblick für España Verde, das grüne Spanien an der Nordküste entschieden habe. Auf die Vía de la Plata, erzählt er mir, muss man bereits im Februar. Doch als ich folgenden Jahr selbst auf der Vía de la Plata unterwegs war, war alles anders. Ich habe die Tage nicht gezählt, an denen ich stundenlang durch Regen gewandert bin. Nördlich von Zamora habe ich im Mai morgens immer noch gefroren. Ich bezweifele, ob sich der spanische und deutsche Frühling so sehr unterscheiden. Jedenfalls nicht in den Mittelgebirgen, das weiß ich inzwischen.
Eine gute Stunde später bin ich in Vilaserío und der Hitze entronnen. Die Albergue Casa Vella ist eine gute Wahl. Dicke Bruchsteinmauern mit kleinen Fenstern, innen schattig und kühl, der Eingang im Schatten einer großen Terrasse, einladend der niedrige Tisch, um den mehrere Sessel stehen. Von einem erhebt sich gerade mein Gastgeber und kommt lachend und mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ein schönes Gefühl, willkommen zu sein. Die Einrichtung ist einfach und bescheiden. Die Betten sind im ganzen Haus verteilt, nicht von bester Qualität, aber: endlich wieder einmal keine Etagenbetten in einem vollen Schlafsaal. Ich erledige mein tägliches Ritual, und verbringe den restlichen Tag im großen Garten im Schatten von Obstbäumen in einer Hängematte. Die Herberge ist ein Familienbetrieb. Mutter und Sohn bieten dem Pilger ein zu Hause wie in einem Landhaus, im Familienkreis, was in den öffentlichen und privaten Herbergen am Weg selten ist. Die familiäre Atmosphäre in Haus und Garten hat ihren Preis, vermittelt dem Pilger aber einen Augenblick die Illusion, angekommen zu sein, während er sich in der Anonymität der öffentlichen Herbergen in die Privatheit seines Betts zurückzieht. Mehr hat er nicht, und um so mehr verlässt er sich auf seine Körpergrenzen. In der Casa Vella bin ich wieder Individuum, nicht einer unter Dutzenden Schläfern.
Die Sonne steht schon hoch am Himmel, als ich am nächsten Morgen aufbreche. Noch ist es angenehm kühl. Mehr als gestern wandere ich durch eine bäuerlich intensiv genutzte Landschaft. Wiesen, auf denen das Gras hüfthoch steht. Ausgedehnte Maisfelder, die Pflanzen noch klein und noch lange nicht reif. Die Viehherden sind verschwunden. Weiden, auf denen Kühe oder Pferde grasen, habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen. Landwirtschaft im Interesse der Massentierhaltung. Die Weiler, durch die ich gehe, stinken nach Fäkalien und Gülle. Die Straßen sind mit getrockneten und frischen Kuhfladen verschmutzt. In großen Hallen sind die Kühe eingesperrt, während die Hofhunde, die nicht mehr angekettet sind, faul dösend in den Einfahrten liegen. Als ich vorbei gehe, hebt nur der eine oder andere bedächtig seinen Kopf. No leche!, klärt mich eine Bäuerin auf. Carne! sagt sie und lacht breit, mit leuchtenden Augen. Fleisch ist in den Bars und Restaurants das wichtigste Nahrungsmittel. Kaum ein Gericht, das fleischlos ist. Die Mahlzeiten auf der Speisekarte sind um das Stück Fleisch, oder am Meer um den Fisch, arrangiert. Auch im gemischten Salat finde ich immer Thunfisch und Eier.
Der Weg von Vilaserio nach Olveiroa bietet keine Höhepunkte. Ich gehe vorwiegend auf Asphalt, schattenlos und heiß. Noch vor zehn Uhr erreiche ich Santa Mariña, wo es die nächste Herberge gibt. Obwohl ich mich gestern noch entschieden habe, hier zu bleiben, bin ich heute zu unruhig. Ich habe mich von den neun Kilometern schnell ausgeruht, bin frisch und will weiter gehen. Es ist noch viel zu früh, um schon zu bleiben. Als ich weitergehe, schaut mir nur die Katze, die vor einem Haus in der Sonne liegt, sehnsüchtig nach. Die folgenden dreizehn Kilometer nach Olveirio bleiben eintönig. Eine Ausnahme bildet der kurze Anstieg auf den vierhundert Meter hohen Monte Aro, der noch einmal mit einem steilen Anstieg aufwartet.
Eine Heidelandschaft hoch oben unterbricht die allgegenwärtige Kulturlandschaft und präsentiert sich im natürlichen Gewand. Unterwegs begegne ich den fünf deutschen Jugendlichen wieder, denen ihre Eltern den Camino Francés zum Abitur geschenkt haben. Ein passendes Geschenk wie ich finde, und die fünf haben es immerhin bis hierhin geschafft. Offene, fröhliche Gesichter, die hintereinander vor mir den Bergpfad hinaufsteigen. Finanziell gut ausgestattet, nutzten sie den Jakobsweg für eine Urlaubsreise. Diesem Pilgertyp begegnete ich vor einer Woche zwischen Melide und Santiago häufig. Oben angekommen, ein letzter grandioser Blick über die galicische Landschaft, die im Westen immer flacher wird. Bis auf die Brücke in Ponte Olveiroa, über den breiten Fluss Xallas, nur schattenloser Asphalt, und auf Asphalt geht es weiter nach Olveiroa, einem unscheinbaren Weiler, der zufällig auf der richtigen Entfernung von Negreira liegt, sodass eine öffentliche Herberge eingerichtet wurde. Und wie immer öffnen früher oder später private Herbergen mit einen gehobeneren Standard und Preisniveau. Sie heben sich gezielt von den Jugendherbergsstatus der öffentlichen Herbergen ab, um besser situierte Pilger anzuziehen. Komfortabel lässt sich so ein Jakobsweg auch als Urlaub verbringen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen in Olveiroa leben, aber mit drei Herbergen ist der Ort überproportional ausgestattet.
Warum bricht jemand auf, bevor es hell wird. Jeden Morgen zwischen fünf und sechs erfasst den Schlafsaal eine scheinbar ansteckende Unruhe und Betriebsamkeit, Waschraum und Toilette sind im Handumdrehen ein Schlachtfeld. Es klappert und raschelt, knistert und quietscht. Eine Tür schlägt laut zu, dort fällt etwas scheppernd zu Boden, etwas weiter entfernt, schaltet jemand eine Taschenlampe ein. Trotz des erheblichen Geräuschpegels, der inzwischen auch den letzten Schläfer aus seinen Träumen gerissen hat, spricht niemand, allenfalls ein leises Flüstern ist ganz in der Nähe zu hören. Eine halbe Stunde später ist der morgendliche Spuk vorbei. Alle sind fort, die Karawane zieht weiter. Die wenigen, die wie ich dem spontanen Appell zum Aufbruch vor Sonnenaufgang widerstanden haben, entspannen sich, drehen sich auf die Seite, und versuchen Anschluss an ihren brutal unterbrochenen Traum zu finden. Wenn es um halb sieben hell wird, stehe ich auf und packe in dem beinahe leeren Schlafsaal meine Sachen zusammen.
Spanische Pilger sind Meister im morgendlichen Wettrüsten des Aufbruchs. Das ist nichts Neues, und hat mich von Beginn an von Herberge zu Herberge begleitet. Sie waren auch immer die ersten auf dem Weg. Ein paar Stunden später habe ich viele von ihnen auf einem Rastplatz oder in einer Bar wiedergetroffen. Den einen oder anderen mögen sie mit ihrer Hektik angesteckt und zum vorzeitigen Aufbruch verführt haben. Auch mir ist es in den ersten Wochen immer wieder schwer gefallen, mich diesem Sog zu entziehen. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass sich der morgendliche Aufbruch immer früher, schneller und hektischer abspielt, je mehr das Ende des Weges näher rückt. Die Pilger gehen täglich wachsende Etappen und brechen immer früher auf. Ich dagegen werde immer langsamer. Proportional zu dem steigenden Tempo meiner Mitwanderer verkürze ich meine Etappen noch mehr. Ich mag es entschleunigt, wenn sich der Tag verlangsamt. Warum sonst gehe ich zu Fuß? Wenn zu viel um mich herum darüber gesprochen wird, wie weit und wie schnell heute jemand gelaufen ist, fühle ich mich schnell unwohl. Leistungsdenken, Gruppendruck und eine Verschiebung der Werte haben auf dem Camino Einzug gehalten. Für mich bleibt zu Fuß gehen eine Anti-Bewegung gegen das Schneller, Weiter und Höher der Leistungsgesellschaft. Pilgern auf den Jakobswegen, was immer das für den einzelnen bedeutet? Wer sich Pilger nennt, dem bietet sich die besondere Gelegenheit, die Auszeit zu nehmen, von der viele sehnsüchtig reden. Wer bewusst und absichtlich zu Fuß geht, leistet Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die Konsum- und Leistungsgesellschaft, die dem Einzelnen suggeriert, es komme auf ein Mehr an. Dass Weniger auch Mehr sein kann, diese Erfahrung macht nur, wer sich dem alltäglichen Mediengewitter entzieht.
Der Camino de Santiago geht bis ans Ende der Welt. Obwohl es nicht viel Sinn macht, heißt er immer noch so. Das Pilgern auf den Jakobswegen hat das Grab von Jakobus dem Älteren im Blick, und sollte auch an seinem Grab unter der Kathedrale von Santiago de Compostela enden. Warum geht der Pilger, dessen Pilgerfahrt seinen Zweck erreicht hat, noch weiter? Und dann noch weiter, denn die Pilgerfahrt endet seit ein paar Jahren nicht mehr in Finisterre, sondern wird fortgesetzt, bis nach Muxía, einem kleinen Ort, nördlich vom Cabo de Finisterre, an der Costa de Muerte gelegen. Kirchengeschichtlich betrachtet, oder aus der Perspektive eines Wallfahrtsort oder Transitheiligtums, ein Ort mit dubioser Aura. Muxía, eine Erfindung des Tourismus, um eine strukturschwache Region zu stärken? Noch ein paar Tage mehr, weil es nach wochenlangem Gehen schwer ist, stehen zu bleiben, einfach loszulassen, was inzwischen vertrauter Alltag geworden ist? Plötzlich ist es wieder wie am Anfang, etwas hat aufgehört, etwas anderes beginnt. Was war nur vor Wochen noch alltäglich? Ist vorher das Gleiche wie nachher? Niemand kommt unverändert von einer solchen Reise zurück. Wer das glaubt, der irrt.
Es hat sich herumgesprochen, und der Weg nach Muxía gewinnt an Beliebtheit, gehört inzwischen ins Programm einer Camino-Wallfahrt. Oft habe ich unterwegs gehört, ehrfürchtig und mit geheimnisvollem Unterton, dass von Muxía gesprochen wurde. Viele wollen auf die Schnelle hin, vor ihrer bevorstehenden Heimreise. Vielleicht um die beiden Orte ihrer Pilgerbiographie hinzufügen, um neben der Compostela auch die Fisterra und Muxíana mit nach Hause zu bringen. Auch dort gewesen zu sein unterscheidet diese Pilger von denen, die nicht weiter gehen, denn die gibt es auch, und sie bilden die Mehrheit. Doch der Weg nach Finisterre und Muxía wird voller in diesen Tagen. Nur wer genau hinsieht, erkennt den Unterschied zwischen den Jakobswegen und dem Weg ans Kap am Ende der Welt. Der Weg nach Finisterre ist touristisch erschlossen. Er ist kein Pilgerweg im traditionellen Sinne, obwohl er so tut als ob er einer wäre. Aber ihm fehlen Legende und Reliquie. Da ist Muxía schon besser ausgerüstet. Die öffentlichen Herbergen sind rar und in schlechtem Zustand. Dafür gibt es zahlreiche professionell geführte private Pensionen gehobenen Niveaus, die in der dünn besiedelten galicischen Provinz gleich das sogenannte Pilgermenu am Abend und Frühstück am Morgen anbieten. Vollversorgung für den modernen Pilger, dessen Tagwerk darin besteht, zu gehen, zu essen und zu schlafen, und zwar möglichst schnell und unkompliziert. Verglichen mit den Jakobswegen, die ich gegangen bin, liegen die Preise auf dem Weg nach Finisterre um ein Drittel höher. Unter diesen Bedingungen, die auch auf den traditionellen Jakobswegen Fuß gefasst haben, ist die Selbstverpflichtung des Pilgers zur Armut, mit wenigem auszukommen, und sich dem in unserer Gesellschaft geforderten Konsum zu verweigern, ein gefährdeter Wert; seit die Tourismusindustrie damit begonnen hat, das Pilgern auf den Jakobswegen kapitalistisch zu vermarkten. Wer das nicht glaubt, der sehe sich das neu überarbeitete Wegesystem für bequemes Wandern an, besonders in Galicien, Wanderwege für Sonntagsnachmittagsspaziergänge. Oder die neuen Meilensteine, die die exakte Entfernung angeben; mit drei Stellen hinter dem Komma. Wem das noch nicht reicht, der besuche das nagelneue, gelb strahlende Camiño de Santiago Centro de Informacíon de Peregrino (Conceillo de Dunbria), oder übersetzt für den internationalen Pilger: Way of Saint James, Pilgrim Information Center (Dumbria Town Hall). Die Region westlich von Santiago de Compostela bereitet sich auf den Ansturm vor. Bald wird der wahre Pilger heimatlos sein. Ihn in der Masse zu erkennen, ist schon jetzt schwierig geworden.
Wann, wenn nicht jetzt, habe ich mich gefragt, habe meinen Rucksack gepackt, und bin losgegangen. In der Gegenwart will ich mein Leben neu orientieren und es zurückgewinnen. Das Wissen um die Vergänglichkeit der Zeit, führt zu einem bewussteren Gebrauch der verbleibenden Lebenszeit. Die Erkenntnis, dass mein Leben begrenzt ist, brach mit einer schweren Krankheit über mich herein und zerstörte meine naive Unbekümmertheit und meinen narzisstischen Glauben an eine nie hinterfragte Unverletzlichkeit. Wahrscheinlich hat mich dieser Schreck auf den Jakobsweg gebracht. Dann hätte auch ich das Klischee erfüllt. Wenn Krankheit und Schmerz eine leiblich spürbare Grenze ziehen, zerbricht der Tod die schützende Mauer der Selbsttäuschung. Mich mit der Gewissheit meiner Endlichkeit zu arrangieren, das Denken an den Tod als Übung zu praktizieren, entwickelt die Gelassenheit und den Gleichmut loszulassen. Was das Leben tötet ist nicht der Tod, sondern die Angst vor dem Tod, die dann reiche Nahrung findet, wenn man glaubt, unverletzbar, letztlich unsterblich, zu sein. An den Tod denken, fördert die Ermutigung zu leben. Wann, wenn nicht jetzt, ist die richtige Zeit, im Angesicht dieser Grenze zu leben, und mir mein Leben schön zu machen. La vida es preciosa! sprühte jemand auf die Wand, der vor mir hier gegangen ist. Erschöpft von Hitze und Durst habe ich dieses Leitmotiv beinahe übersehen. Ich bin zurückgegangen, um zu begreifen, welche Botschaft mir hinterlassen wurde. Ein Satz, der in meinen Gedanken wurzelt, tönt weiter nach und erinnert mich daran, warum ich in die Jakobusstadt aufgebrochen bin, die bereits kilometerweit mir hinter liegt, mit all ihrer steinernen Pracht, den goldenen Idolen und tausenden Bewunderern. Das Äußere, die ins Materielle geprägte Idee, fasziniert und bleibt Oberfläche. Mir ging es nie um die dubiose Hinterlassenschaft eines Favoriten von Jesus von Nazareth, nicht um den heidnischen Kult, der sich vor Jahrhunderten um dessen Reliquie gebildet hat. Seit Santiago de Compostela hinter liegt, sehe ich deutlicher, dass ich mit meiner Fußreise eine Grenze abschreite. Und diese Grenze, die ich gehend ziehe, macht mich wieder frei für das Leben.
Im Foyer der modernen Pilgerherberge A Casa da Fonte in Cée stimmen Led Zeppelin den Wanderer mit ein paar Zeilen aus Stairway to Heaven auf die letzten Kilometer seiner Fußreise ein:
And as we wind on down the road
Our shadows taller than our souls
There walks a lady we all know
Who shines white lights and wants to show
How everything still turns to gold
And if you listen very hard
The tune will come to you at last
When all are one and one is all
To be a rock and not a roll
Eine kurze Etappe die bleibt. Als ich durch Corcubión auf den Berg hoch steige, ist es wieder angenehm warm. Der Himmel ist leicht bewölkt, die Sonne verschwindet immer wieder für kurze Zeit hinter den Wolken. Wanderwetter! Von Cée nach Fisterra bleiben zwölf Kilometer, ein längerer Spaziergang. Der Weg führt abwechselnd über Landstraßen und durch einen Eukalyptus-Eichenmischwald. Die Stämme der Eukalyptusbäume sind dünn, die Kronen windzerzaust. Obwohl es warm genug ist, verströmen sie keinen frischen Duft. Zwischen den kräftigen Eichen machen sie einen kränklichen Eindruck. Ob ihnen ihre Gäste, die Koala, fehlen. Nach Fisterra wandere ich durch schlafende Ortschaften, die auf die Saison warten, die kurz bevorstehen muss. Die Bars, die von weitem eine Rast versprechen, sind noch geschlossen, aber hinter Sandiñiero finde ich, hoch über der Bucht, eine Mauer mit Aussicht. Ich habe noch ein paar Erdnüsse und das Wasser aus der Quelle an der Albergue A Casa da Fonte, das noch kühl ist.
Bevor ich den langen Strand erreiche, der sich bis an den Ortsrand von Fisterra zieht, breitet sich kaum hundert Meter unterhalb des Jakobswegs eine Bucht mit einem breiten, menschenleeren Sandstrand aus. Für mich der richtige Ort für ein Reinigungsritual am Ende meiner Fußreise, das in Lavacolla ausfiel. Das Wasser des Atlantiks ist gerade so erfrischend wie es sein muss, ohne wirklich kalt zu sein. Nach zehn Kilometern eine angenehme Kühle auf der Haut, die porentief geht. Während ich in den Wellen des Atlantiks auf und ab schaukele, überkommt mich das Gefühl, all der Schweiß und Schmutz der Reise und alle Mühen lösen sich in dem leichten Wellengang auf und werden ins Meer gespült. Mein Körper fühlt sich neu und frisch an. Das erste Mal seit Wochen spüre ich mich leicht und schwerelos, ohne die Wucht der Euphorie, die langes Wandern oder ein Gipfel über der Welt auslöst. Es ist mehr, als nur im Meer zu schwimmen. Es ist das Bewusstsein, mich zu reinigen, den Staub der Wochen, und all das Verbrauchte, abzuschütteln, das diese beschwingten Gefühle auslösen. Am Strand finde ich auch meine Jakobsmuschel, die ich mir nun an den Rucksack hängen kann. Doch die Bucht bleibt nicht lange leer, und ich teile sie mir mit anderen, die wie ich vom Weg abweichen, sich die zusätzlichen hundert Meter Entspannung gönnen. Solche, für die Zeit nicht das Wichtigste ist. Wie viele einmalige Gelegenheiten lassen die meisten Wanderer ungenutzt verstreichen? Der typische Camino-Wanderer, wie ich ihn erlebt habe, geht an den Besonderheiten, die der Weg bietet, viel zu oft vorbei. Sein Blick hängt sklavisch an den gelben Pfeilen, an denen er sich festhält, und denen er folgt. Für das nah am Weg liegende reicht seine Aufmerksamkeit dann oft nicht aus. Er ist auf ein Ziel fixiert, das in der Ferne liegt, und das ihn antreibt, während ich unterwegs bin, um zu gehen. Inzwischen weiß ich etwas, dass mir am Beginn meiner Fußreise nicht bewusst war: Ich kann überall hin gehen. Für mich macht es keinen Unterschied mehr, wohin ich gehe. Es ist vollbracht. Der kurze Weg nach Muxía kann nur eine Zugabe für solche sein sein, die schwerer loslassen können. Einen Moment lang fühle ich mich wie einer dieser mittelalterlichen Pilger, die ihre Muschel von hier mit nach Hause brachten - unerwartet reich beschenkt. Ob es schon zu ihrer Zeit einen Souvernirhandel mit Jakobsmuscheln gab?
Ein Café am Ende der Welt. La Familia del Mundo! Ein Café con leche grande im Ikeaglas. In einem Zeitstrudel bin ich fünfzig Jahre zurück in meine Vergangenheit katapultiert worden. Eine Zeitreise im Zeitraffer in das Café einer Hippiekommune. Fünfzig Jahre später, und nichts hat sich geändert. Die Oberfläche, die Präsentation, ist die gleiche geblieben. Über die Innenwelt der um die Dreißigjährigen, die das Café betreiben, weiß ich nichts. Für viel Persönliches ist mein Besuch zu flüchtig, ein Lächeln, eine Umarmung, zu mehr reicht es nicht. Während draußen Pilger vorbeiziehen im High-Tech-Wander-Equipment und Funktionsmaterialien, ist drinnen die Zeit stehen geblieben. Manch einen der Vorbeikommenden, die ich durch das Fenster sehe, wirft ein ungläubigen Blick herüber, andere, die nichts ahnend eintreten wollen, weichen überrascht zurück. The World Of Family! Über den Eingang hat jemand in bunten Lettern geschrieben: Peregrinos Welcome!. Alles ist vorhanden: Die Musik, die Videoprojektionen, die farbig, mit esoterischen Symbolen bemalte Decke. Die langen Haare, die Bärte, die extravagante Kleidung oder die extravagant getragene Kleidung. Die E-Gitarre mit Kofferverstärker, die im Raum liegt, und auf der jeder spielen kann, der sich berufen fühlt. Die Gitarre spielenden Typen, die schrägen Typen und der süße Duft von Marihuana. Und Reggae, immer nur Reggae, als ob es keine andere Musik gibt. Ein alternatives Pilgerziel am Ende der Welt. Im äußersten Westen Europas. Mitten im Raum steht ein junger Mann, Dreadlocks und Vollbart, und jongliert mit einer Weltkugel. Ein Plastikball, so groß wie eine Bowlingkugel. Er lässt die Welt von einem Arm über seine Schultern auf den anderen und zurückrollen. Nicht sehr geschickt, denn die Welt fällt oft zu Boden. Dann rollt sie durch den Raum und zwischen die Tische. Schaden nimmt sie dabei nicht, und dem jungen Mann macht das nichts aus. Er hebt die Kugel auf, und lässt sie erneut um seine Schultern rollen. Aus den Lautsprechern gibt es dazu Reggaemusik - Mishka, Above The Bones.
We gonna rise yeah,
High above the flames
Our hearts open as the endless sky
No more deception
No more shame
Just a reflection of the natural high
Ah, do you remember that melody?
Ah, oh yeah, do you remember that song so free?
I wanna go home
Take me home
I've got to go home
Take me home
Wie ein Mantra fließen mir die Worte ins Bewusstsein. Ein Resümee! Ein Abschied! Worin besteht der richtige Gebrauch der Zeit, die uns zur Verfügung steht? Ich glaube, dass sich das Maß an Lebenskunst darin zeigt, seine Zeit für seine Verwirklichung zu nutzen. Es ist entscheidend, sich immer wieder neu aus der Prozesshaftigkeit zu verabschieden, die die verstreichende, messbare Zeit suggeriert, seine Zeit mit Genuss und ohne Bedauern zu vergeuden. Sich Zeit nehmen, sie sich absichtlich mit sinnlosen Beschäftigungen zu vertreiben. Die Kunst des Müßiggangs zu pflegen. Liegt die Subversivität des tagelangen Zufußgehens nicht gerade darin, absichtslos in den Tag hineinzuleben? In meiner Epoche, die Leistung, Effizienz und Schnelligkeit zu den Werten erklärt, denen sich jeder zu unterwerfen hat, besitzt die leere Zeit die Qualität, dysfunktional und frei von Zweck und Ziel zu sein, und mir den Weg zu mir selbst zu weisen. Wenn mich nichts ablenkt, ich ganz bei mir bin, erst dann spüre und erfahre ich, wer ich bin. Unabhängig vom mich umgebenden Getriebe der Welt zu sein, löst alles Negative auf. Gehen ist leere, unstrukturierte Zeit, auch wenn es sich dem Sitzenden oder Fahrenden nicht sofort erschließt. Unterwegs sein, heißt neue Gedanken zu denken, Erfahrungen zu reflektieren und zu verarbeiten, seine Kohärenz neu zu formieren. Und ganz besonders: sich dem Gedränge der eigenen Lebenswelt gegenüberzustellen und sich dem zu öffnen, was auf einen zukommt, auf das, was am Wege liegt. In der World Of Family herrscht Müßiggang, eine angenehm unaufgeregte Atmosphäre, die mir nach den Stunden des Wanderns gefällt. Der Flow hält an, obwohl ich in einem Raum auf einem Barhocker sitze. Wie eigenartig. Das Hippie-Café ist eine Enklave, aus der draußen verstreichenden Zeit herausgepflückt. Ein fünfzigjähriges Residuum, das dem Wandel widerstanden hat. Es passt nicht in die Struktur-Zeit des Chronos, des Messbaren, die uns im Alltag beherrscht. Um mich herum herrscht Kairos, der die Geduld lehrt, die richtige Zeit abzuwarten, sie zu erkennen, wenn sie eintritt. Eine weitere blaue Stunde, die sich lohnt, dem Chronos streitg zu machen.
Gestern bin ich in Fisterra angekommen. Das Städtchen liegt am Ende einer Landzunge, die sich nach Süden in den Atlantik schiebt. Dort habe ich eine Anhöhe gefunden, die am Rand des Praia do Mar de Fóra, einer kleinen Bucht, über die Klippen aufsteigt. Baumlos, eine Heide, die sich aus dem breiten Streifen Sand befreit hat, der ans Meer grenzt. Die Flut rollte unter mir immer schneller an Land, und brach sich donnernd an den Felsen. Ein fantastisches Schauspiel, diese Urenergie mit ihren symphonischen Klängen: eine an Lautstärke zunehmende Disharmonie; Klatschen, Pfeifen, Gurgeln und Schmatzen. Der Sonnenuntergang spät am Abend, als die Sonne die vorbeiziehenden Wolken in ein orange-rotes Farbenmeer tauchte, unvergleichlich. Der Rest von Licht, den der Himmel reflektierte, reichte gerade noch für den Abstieg.
Fisterra war einst ein Fischerdorf, dem Hafen sieht man das kaum noch an, auch wenn sich zwischen den Sportbooten einige kleine Fischkutter weigern aufzugeben. Fisterra im Rausch des Pilger-Tourismus: Pensionen, Souvernirläden, Restaurants, alles auf den Bedarf des internationalen Pilgertums ausgerichtet; alles von mäßiger Qualität. Die Menschen in den Läden und der Gastronomie, mürrisch, unfreundlich, wenig am Gast interessiert. Fisterra teilt das traurige Schicksal eines europäischen Ferienorts. In den Gassen um den Hafen mehr Ausländer als Einheimische, die sich für Pilger halten, sich aber wie Touristen benehmen. Die Blicke, denen ich begegne, scheinen leer, und schauen durch mich hindurch.
Das Leben ist die schönste Reise
Doch jeder stirbt auf seine Weise
[. . . ]
Und ich erwachte still und leise
Denn jeder träumt auf seine Weise
Es ist schon lange her, dass ich diese Zeilen geschrieben habe. Jeder auf seine Weise, und das ist gut so. Den Traum, den jemand träumt, darf man nur in Frage stellen, wenn er anderen, der Gemeinschaft schadet. Gleiches gilt für den Tourismus und die Weise, in der jemand auf den Jakobswegen unterwegs ist. Seit ich die baskischen Berge hinter mir gelassen habe, über die Pässe des Camino Primitivo gewandert bin und am Ende auf der Vía de la Plata zum zweiten Mal nach Fisterra gekommen bin, habe ich meinen eigenen Rhythmus gefunden, einmal unabhängig von ihr, das andere Mal in der Gemeinschaft. Er ist mir immer wieder schwer gefallen, mich nicht anstecken, nicht mitreißen zu lassen. Toleranz hilft immer. Jeder hat das gleiche Recht wie ich hier zu sein. Es sind meine Erwartungen, die Enttäuschungen im Gepäck haben, doch ich habe unterwegs so manches losgelassen. Der Unterschied zwischen einem Touristen und einem Reisenden besteht im ständigen Wechsel von Raum und Perspektive. Dem Reisenden bleibt keine Alternative: er muss sich dem öffnen, was ihm unerwartet auf seinem Weg entgegenkommt, ihm zufällt. Der Wanderer experimentiert mit seinem Weg, während der Tourist ihn von Beginn an kennt. Die Metapher vom Weg, der das Ziel ist, ist kein leeres Gerede. Wandern, besonders zu Fuß gehen, ist das Gegenteil einer geplanten Reise. Wandern heißt zu akzeptieren, dass etwas auch durchaus anders werden kann, weil der uneingeladen eintreffende Zufall alle Erwartungen durchkreuzt, und dem Wanderer nichts anderes übrig bleibt, als sich auf die veränderte Situation einzulassen. Wer allerdings mit dem Zufall rechnet, dem öffnen sich nicht selten ungeahnte Möglichkeiten.
Gestern geriet ich auf einer hoch gelegenen Heidelandschaft plötzlich aus der warmen Morgensonne in dichten Nebel. Das Wetter schlug um, Nebel zog auf, und die Sicht lag unter fünfzig Meter. Weit sehen konnte ich nicht, eine wabernde Unschärfe verbarg alles um mich herum. Der Weg, der an meinen Füßen begann, schlüpfte nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und blieb verschwunden. Daran änderte auch nicht, dass ich weiter ging. Mir kam es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben ließ, die sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammerte. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Nur ein paar Schritte noch, dann drang ich durch die feuchte Wand, die wie eine Grenze auf dem Weg lag. Sofort wurde es feucht und kalt. Die Sonne verblasste und verlor ihre Kraft. Die Stimmung schlug um, und die Landschaft versank in einer unheimlichen Atmosphäre. Es ist seltsam, im Nebel zu wandern. Hesses Gedicht fällt mir ein, das dieses Gefühl beschreibt. Nass geschwitzt fror ich im kalten Wind, der mit dem Nebel kam, nicht stark genug, ihn zu verwehen. Es roch erdig, etwas modrig, die feuchte Luft benetzte mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzten im kühlen Wind. Ich konnte sie fühlen, nicht sehen, denn sie versteckten sich vor mir im grauen Nichts. Geräusche drangen plötzlich wieder gedämpft unter die warme Frühlingssonne. Nur ein einziger Schritt, und die unwirklich gewordene Landschaft lag hinter mir. Als ich mich hundert Meter später umdrehte, sah ich zwei andere Pilger aus der Nebelbank wie aus einer anderen Realität in die Sonne treten.
Irgendwo hin gehen kann ich jeden Tag. Ich glaube nicht mehr daran, dass ich weit weg gehen muss, um bei mir anzukommen. Viel schwerer fällt es mir, nicht zu gehen, einen oder mehrere Tage zu unterbrechen. Dann spüre ich eine Unruhe, eine Unrast, die sich ungefragt in mir ausbreitet. In Fisterra angekommen, besteht die Herausforderung nicht länger darin, tagelang zu gehen, sondern nicht jeden Tag zu gehen, von morgens bis nachmittags.
Die Sommersonnenwende habe ich verpasst. Datum und Uhrzeit spielen keine besondere Rolle mehr. Ich weiß selten, wie spät es ist, oder welches Datum. Manchmal fällt mir auch der Wochentag nicht ein. Zurück in Berlin wird sich das wieder ändern, dafür sorgt die Umgebung mit ihren getackteten Strukturen. Welche Gedanken widme ich meiner Zukunft? Eine komplizierte Frage. Ich habe viel Zeit damit verbracht, das nicht zu tun, und mich mit dem Augenblick begnügt. Meine Zukunft kann ich nicht wirklich beeinflussen. Ich kenne meine Wünsche, doch es kann auch etwas Anderes sein.
Das Gefühl, angekommen zu sein, ist ein Energiebrunnen. Fast neunhundert Kilometer zu Fuß. Der Gedanke, noch einmal zurück auf Start, um die Strecke nochmal zu gehen, kommt mir in den Sinn. Meine Energie ist unbeschreiblich. Wandern ist der richtige Gebrauch der Zeit, und der beste Weg ins Gleichgewicht zu kommen. In Fisterra vertrödele ich mit Vergnügen meine Zeit. Ich werfe die Stunden mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Wie gut das tut! Sonnenschein und spektakuläre Sonnenuntergänge, fast leere Sandstrände, der angenehm kalte Atlantik, erfrischend und gratis. Ich genieße den Müßiggang, der meine lange Wanderung beendet, doch den Weg ans Cabo de Finsterre zögere ich hinaus. Die letzten drei Kilometer. Die meisten Pilger kommen nach Fisterra, haken das Kap plus Sonnenuntergang ab, wie es der Reiseführer empfiehlt. Und schon sind wieder weg. Ein letztes Foto vom Null-Kilometer-Monolith. Die Wanderkleidung am Kap verbrennen? Das mag im Mittelalter mit der verlausten Garderobe in Ordnung gewesen sein. Der moderne Pilger trägt Decathlon-Funktionskleidung. Funkenflug und Waldbrandgefahr! In Portugal sind gerade zweiundsechzig Menschen bei einem verheerenden Waldband ums Leben gekommen. Ich werde mich hüten, mein bewährtes Equipment zu verbrennen. Sonst müsste ich mir gleich ein neues Hemd kaufen, denn ich habe nur das eine. Kleiderverbrennung! Ein überkommenes Ritual, das zu unnötigen Konsum auffordert.
Am Ende der Welt habe ich in den Klippen gesessen, den ganzen Weg im Rücken. Wie merkwürdig, wenn es irgendwo nicht mehr weiter geht. Nichts mehr vor mir liegt als eine weite leere Wasserfläche. Am Ende der Welt habe ich beschlossen, dass mein Weg noch nicht zu Ende ist.
Weiterlesen: Fisterra Blues
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