Samstag, 24. Dezember 2022

Zwischen Land und Meer


Wege entstehen erst, wenn jemand sie geht, belehrt uns Franz Kafka. Sein Bonmot verschweigt aber, dass es sich dabei um einen besonderen Weg handelt. Einen Weg oder Pfad tritt jemand ins Gelände, und er wird deutlich sichtbarer, und mit der Zeit breiter und bequemer zu gehen, wenn es Nachfolger gibt, die den gleichen Weg beschreiten. Kafka spricht sicher nicht von einem geografischen, physischen Weg, sondern meint einen inneren Weg, den Lebensweg, für den der äußere Weg ein Symbol darstellt.

Die Metapher vom Weg, der das Ziel ist, das sich im Gehen äußert, ist durch Kalenderblätter und Zitatensammlungen abgegriffen. Und doch enthält er eine tiefe Wahrheit, die der erfährt, der sich auf den Weg macht. Zuerst ist der Camino del Norte der physische Weg, der dem Fußreisenden Energie abfordert, an dem er sich abarbeiten muss, der ihm auch immer wieder wohlgesonnen ist. Er hält für ihn eine Vielzahl verschiedener Böden und ein wechselndes Klima bereit. Das Gehen auf unterschiedlichen Wegen fühlt sich immer wieder anders an. Nur merken wir das meistens nicht, denn wer achtet beim Gehen schon bewusst auf seine Füße. Da sind die Waldwege mit ihrem trockenen, ockerfarbenen Boden, bedeckt von vermodernden Blättern, kleinen und kleinsten Aststückchen, häufig fast schon Humus, der jede Vertiefung allmählich wieder füllt. Dann blühende Kräuter, Grasinseln oder eine ungezähmte Grasnarbe, die den Weg in zwei Hälften teilt, und ihm sandiggrüne Kontraste beimischt. Wald wölbt sich wie eine grüne Kuppel über Wege und Pfade mit schimmernden Flecken, wo der Himmel durchscheint. Auf diesen Wegen sinkt mein Fuß kaum spürbar ein und rollt weich ab. Auf ihnen komme ich leichtfüßig voran. Andere Wege sind mit Rinnen und Schlaglöchern übersät, in denen noch Regenwasser vom letzten Niederschlag steht. Dann muss ich eher springen oder hüpfen, statt flanieren, sodass mein Gang ein unruhiger, hektischer Zickzackkurs wird, und der Boden unter mir meine ganze Aufmerksamkeit verlangt. Oder auch die von einer harten, grauen Schicht Asphalt verschlossenen Land- und Dorfstraßen, die häufiger werden wo Menschen leben. Der Untergrund ist glatt und eben, mit der Zeit zerrissen und mit Löchern übersät. Nichts erneuert diese Wege auf natürliche Weise, erst wenn der Mensch es will. Diese Straßen bieten meinen Füßen nicht das elastische Federn der Waldwege und Pfade durch die Felder. Meine Stöcke rutschen auf der undurchdringlichen Fläche ab. Ich sehne mich dann danach, dass die Landstraße zurück auf einen Feldweg abbiegt oder in die grüne Welt unter Bäume. Doch es gibt Etappen, wo mir der glatte Boden unter meinen müden Füßen willkommen ist. Schmale, enge Pfade, malerische Schnitte durch die Landschaft, kamen in meinem Leben bisher nicht vor. Oft nur einen Fuß breit, schlängeln sie sich an der Flanke eines Bergs entlang, an einem Flussufer und dann wieder durch vom Tau noch feuchte oder in der Sonne duftende Wiesen. Steigen sie bergauf oder bergab, werden sie breiter, mäandern mit Felsbrocken durchsetzt den Berghang hinauf zum Grat, nur um schnell wieder in das nächste Tal abzusteigen. Viele Täler und Schluchten des baskischen Mittelgebirges bilden enge, fast spitze Winkel. Lange ebene Wege sind dort selten. Abwechselnd wandere ich durch Wälder, auf kaum befahrenen Landstraßen durch kleine Weiler, hoch oben auf einer Steilküste entlang oder auf alten Maultierpfaden bergauf oder bergab. Pilgern zwischen Land und Meer, zwischen Berg und Brandung, etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen.
Nach wenigen Tagen auf dem Küstenweg wird die Frage drängender: Was suche ich eigentlich in den Bergen, auf einem hunderte Kilometer langen Weg in eine Stadt, die ein bedeutendes Symbol des katholischen Glaubens ist? Das ist der innerpsychische Weg. Ich habe es seit langem aufgegeben, an das Übernatürliche oder Übersinnliche zu glauben, doch das Unwägbare, das andere Menschen in bestimmten Situationen empfinden, die geglaubt haben oder immer noch glauben, fasziniert mich. Warum mache ich mir die Mühe und trage mein Gepäck, so wenig es auch ist, Kilometer um Kilometer bergauf und bergab? Der Wahrheit am nächsten kommt, das weiß ich inzwischen, dass ich lernen will, wenigstens in den nächsten Wochen, ganz im Jetzt zu leben. Tag für Tag zu gehen, zu tragen, zu schwitzen, mich zu bemühen, mich zu freuen und zu fluchen, zu erfahren, zu erleben, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu spüren, was gerade ist. Ohne Bedauern über das, was vergangen ist, und ohne Wünsche, Illusionen und Tagträume für das Kommende. Doch ich will nicht pilgern! Ich stelle mir eher eine Fußreise vor, unbelastet durch die Aura von Kirche und Konfession. Schon das Wort erschreckt mich, es ist mir viel zu konfessionell besetzt. Und erst recht das Ziel einer Pilgerfahrt: Heiligenverehrung, paradoxe Wunder und ein Reliquienkult, mittelalterlicher Frömmigkeit entsprungen, fern von Last und Segen der Aufklärung. Doch was uns naiv erscheint, hatte einst seinen fest verwurzelten Ort im Leben einer Gemeinschaft, war Bestandteil einer ganz anderen Weltanschauung, einer, die uns fremd geworden ist, wie mir der Weg, auf dem ich unterwegs bin. Die Heiligen haben unsere entzauberte Welt längst verlassen. In einer säkularisierten, aufgeklärten und globalen Welt stellt niemand mehr die Frage nach Erlösung durch einen Ablass. Und wovon auch? Ich kann mir viele Gründe für einen Ablass vorstellen: von der Gier, besonders der Habgier, von der Eifersucht, von Neid und Geiz, von Intoleranz und Habenwollen, von maßlosem Konsum, von der Verschwendung, der Verschmutzung und dem Verbrauch der Natur, von Boden, Wasser und Luft, und ganz besonders von der verschwindenden zwischenmenschlichen Empathie und der grassierenden Gleichgültigkeit gegenüber Moral und Ethik. Soll ich fortfahren? Kein Problem! Jeder kann sich selbst befragen, welcher Ablass für ihn der richtige ist. Ablässe werden heutzutage nicht mehr von Kirchen und Klöstern oder auf den Märkten gehandelt, sondern von Parlamenten, die erkennen, dass sie Entschädigungen für die von den reichen Nationen verursachte Klimakrise leisten müssen. Daneben ist jeder für seinen eigenen Ablass verantwortlich. Selbstbestimmung setzt Selbstverantwortung voraus. Während einer Fußreise, die den Reisenden zu sich und seiner Welt in Distanz setzt, werden die eigenen Selbsttäuschungen oft erschreckend deutlich sichtbar. Der Gedanke, auf einem Weg zu gehen, den vor mir Hunderttausende aus ganz Europa gegangen sind, der seit Jahrzehnten Pilger aus der ganzen Welt anzieht, macht mich neugierig auf mich selbst. Die Vorstellung in den Spuren von Menschen zu gehen, die diesen Weg mit ihrem Leben und ihren Idealen bevölkert, und manchmal auch bezahlt haben, lässt mich nicht los. Auf eine spirituelle Perspektive kann ich mich einlassen. Ich stelle mir vor, auf einer buddhistischen Pilgerreise zu sein, auf der ich mit der Natur verbunden bin, sodass die alltäglichen Hüllen und Stereotype abfallen. Mich häuten wie eine Schlange.

Der Morgen beginnt mit dem üblichen Ritual. Im Schlafsaal des Grand Camping wird es langsam lebendig, zuerst leise und vorsichtig, dann immer geräuschvoller. Aufstehen, einpacken und aufbrechen. Karla hat noch von ihrem heiligen Brot, ich habe Paprikapastete, zusammen ein schnelles Frühstück. Ich habe bisher keinen Proviant mitgenommen, werde das auch beibehalten; nur Wasser. Seit ich auf dem Weg bin, esse ich unregelmäßig und viel weniger als zuhause. Morgens habe ich keinen Hunger. Meistens genügt mir eine Tasse Milchkaffee und ein Croissant. Mittags ein oder zwei Pintxos und etwas zu trinken. Mein Essen hat sich ganz auf den Abend verschoben. Noch während wir frühstücken, sind die ersten schon vollbepackt unterwegs. Zu Dritt gehen wir vom Campingplatz hinunter ans Meer; auf dem Asphalt einer Landstraße, was mir nicht behagt. Hinter der ersten Kurve taucht der lange Sandstrand von Zarautz auf, wo Surfer auf den Wellen reiten. Mein Knie schmerzt noch immer, und ich komme nur schleppend voran. Es ist auch kein Trost, dass Vanessa aus Brüssel auf der Suche nach einer Apotheke ist, um ein Medikament für ihr schmerzendes Knie zu kaufen. Es beruhigt mich auch nicht, dass andere auch Knieprobleme haben. Ein Anfängersymptom untrainierter Körper auf den ersten Wandertagen. Doch weder in Zarautz, noch später in Getaria, ist am Sonntag eine Apotheke geöffnet.
Hinter Zarautz folgt der Küstenweg einer sich endlos ziehenden Strandpromenade. Wie auf einer Panoramatapete breitet sich der Strand und der noch weit entfernte Ort mit seiner gotischen Pfarrkirche vor mir aus. Eine Ansichtskartenlandschaft. Mittlerweile haben mich alle überholt. Selbst Karla, die langsam geht, ist schon vor einer Weile vorbeigekommen. In Getaria spüre ich auch mein rechtes Knie. Die Entlastung des linken Knies fordert ihren Preis. Das ungewohnte Auf- und Abwärtsgehen setzt mir zu. Ich gehe zum ersten Mal in den Bergen, und bin froh, heute überhaupt noch weiterzukommen. Ich denke sehnsüchtig an Zumaia, wo ich unbedingt übernachten, vielleicht einen Tag ausruhen will. In Getaria winkt mich Karla in eine Bäckerei. Sie hat ihr zweites Frühstück fast beendet, als ich zu ihr an den Tisch komme. Doch noch während ich meinem Rucksack ablege und mir einen Milchkaffee hole, bricht sie schon wieder auf. Die Pausen sind kurz auf dem Jakobsweg. Erschöpft setze ich mich mit meinem Milchkaffee an einen Tisch. Ich packe meine elastische Binde aus, und bandagiere vor den neugierigen Blicken der anderen Gäste mein Knie. In ihren Blicken kann ich lesen, was sie denken.
Getaria lebt vom Fischfang und vom Anbau des Txakoli, des charakteristischen Weins der baskischen Küste; und zunehmend vom Tourismus, zu dem auch die Pilger auf dem Küstenweg gehören. Der Hafen Getarias liegt geschützt im Schatten einer imposanten Halbinsel, die der Felsen Mont San Anton krönt. Die Fischer von Getaria waren einst für ihren Wagemut berühmt, denn aus diesem Hafen brachen sie schon im 14. Jahrhundert zum Walfang nach Neufundland, Grönland und Island auf. Der Name Getaria findet sich bereits auf griechischen und römischen Seekarten, obwohl das heutige Städtchen erst 1209 von Alfonso VIII. von Kastilien gegründet wurde. Im Ort steht ein Monument, das an einen berühmten Seefahrer aus dem Zeitalter der Entdeckungen erinnert, Besatzungsmitglied von Ferdinand de Magellans Weltumseglung. Juan Sebastián Elcano wurde 1486 in Getaria geboren. Erst nach Magellans Tod ernannte ihn die Mannschaft zum Kapitän. Sein Geschick brachte die überlebende Mannschaft 1522 zurück nach Sanlúcar de Barrameda, an die Mündung des Guadalquivír. In den Sockel seines Denkmals sind die Namen der beteiligten Seeleute eingraviert. Anders als ich, war Elcano kein freiwillig Reisender. Als Kapitän eines Handelsschiffs verstieß er aus Eigennutz gegen spanisches Recht. Um seine Schulden zu begleichen, verfiel sein Schiff an genuesische Bankiers. Daraufhin verpflichtete er sich der Krone zur Teilnahme an Magellans Weltumsegelung, um einer Bestrafung zu entgehen. Elcanos Karriere begann als Steuermann auf der Concepción. Als Kapitän der Victoria brachte er die beiden letzten Schiffe der Expedition nach Magellans Tod nach Spanien zurück, in den Hafen, aus dem fünf Schiffe zur Weltumseglung aufbrachen. Kaiser Karl V. erhob ihn für seine Loyalität in den Adelstand. Elcanos Wappen enthält zwei gekreuzte Zimtstäbe mit Muskatnüssen und Gewürznelken sowie einen Helm mit einem Globus. Es trägt die Inschrift: primus circum dedisti me, als Erster hast du mich umfahren.
Von Getaria führt der Küstenweg aus der Bucht hinaus und hoch auf den Berg. Steile Passagen wechseln mit moderaten Steigungen, ebene Wege sind selten. Ich gehe die meiste Zeit auf Asphalt, gelegentlich über steinige, abwärts führende Wege, ins Landesinnere, fort von der Küste der Biskaya. Die Abstiege fallen mir schwer. Die Pausen werden immer länger. Ich sehe den vorbeikommenden Pilgern nach, gerade noch lächelnd, um ein freundliches „Buen Camino!“ bemüht. Ich beneide sie um ihre Mobilität, fühle mich hinfällig und alt. Ungebeten mischen sich lästige Bedenken ein: Habe ich mich mit einer Bergwanderung übernommen? Mit dem Rücken an einen Stein gelehnt, das linke Bein ausgestreckt und neu bandagiert, denke ich über eine Unterbrechung nach. Ein oder zwei, vielleicht drei Tage. Ich beende meine kurze Etappe mittags in Zumaia. Das nächste baskische Städtchen an einer Ría, in das ich hinabsteige. Steil führt der Küstenweg in eine Bucht, an die Mündung des Urola. Einst war Zumaia ein Fischerort, von dem nichts erhalten blieb. Dafür präsentiert sich das Küstenstädtchen mit einem großen Yachthafen.
In Zumaia ist Erstkommunion. Als ich ankomme, strömen festlich gekleidete Familien aus dem Portal auf die Freitreppe der gotischen Kirche San Pedro, ihre Sprösslinge im Schlepptau. Den Jungen und Mädchen im passenden Kostüm, heute Bräute des Gottessohns, haben anderes im Sinn. Sie reüssieren im schwarzen Anzug oder weißen Rüschenkleid beim Fototermin mit ihrer Familie am Stadtbrunnen oder auf der Treppe vor dem Hauptportal. Der Bau erhebt sich wuchtig aus dem Gewirr der von Menschen überquellenden Gassen. Eng zwischen die umliegenden Häuser geklemmt, eine mittelalterliche Festung, die einen düsteren Kontrapunkt unter das fröhliche Treiben setzt. Die Familien strömen in die engen Gassen der Altstadt und besetzen die Bars, von denen es auch in Zumaia zahlreiche gibt. Überall im Ort treffe ich die festlich gekleideten Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, in feierlichem Ernst oder mühsam verborgener Langeweile. Stolz und glücklich, mit leuchtenden Augen, die vor Neugier und Spannung glänzen, stehen die Kleinen einen Augenblick im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht viel später toben sie, immer noch festlich gekleidet, mit ihren älteren und jüngeren Geschwistern zwischen den Tischen und Stühlen des Restaurants, während ihre Eltern lautstark plaudernd zu Mittag essen. Auf der Suche nach einer Bar treffe ich Karla, die uns zwei Stühle auf einer Terrasse am Hafen erobert. Zwei Engländer, Vater und Sohn, kommen dazu. Sie sind auf dem Weg nach Deba, können aber dem lebendigen Treiben und der beschwingten Stimmung in den Gassen der Altstadt nicht widerstehen. Drinnen am Tresen stehen Männer in Gruppen bei Wein oder Bier zusammen, die laut über etwas Wichtiges debattieren, das ich nicht verstehe. Der Geräuschpegel ist exorbitant, denn es fällt den Männern nicht leicht, das laut aufgedrehte Fernsehgerät zu übertönen. Mich interessieren weder die Diskussionen noch die News des Nachrichtensenders, denn ich habe zwischen den Männern den mit Pintxos beladenen Tresen entdeckt. Auf kleinen Tellern stehen dort dicht an dicht mehrere Sorten Tortilla zwischen mit verschiedenem Fisch, luftgetrocknetem Serrano-Schinken oder mit Oliven gespickte Anchovis und gebratenem Schweinefleisch beladene Teller und Platten. Jede dieser Köstlichkeiten ist mit einem Zahnstocher auf einer kleinen Scheibe Weißbrot aufgespießt. So eng steht das Pintxos-Buffet, dass für die Gläser der Männer kaum Platz übrigbleibt. Aber es ist Erstkommunion im Ort, und der Wirt hat reichlich vorgesorgt, denn Bar und Terrasse sind voll besetzt. Wir essen Pintxos, trinken Bier und warten, bis das Hospital de Peregrino im Kloster San José öffnet, und wir unsere Rucksäcke loswerden. Als wir eintreffen, erwarten uns einsam abgestellte Rucksäcke, die andere Pilger vor der Pforte aufgereiht haben. Die Herberge öffnet um 15 Uhr, und wir hoffen auf ausreichend Betten, denn die Schlange der Rucksäcke ist lang. Die Pilgerherberge belegt einen Flügel des restaurierten Klosters, eine moderne Einrichtung hinter mittelalterlichen, fensterlosen Mauern. Von außen ist das Kloster nicht einsehbar, nur eine kleine Pforte führt ins Innere. Die fünfzehn Kilometer Wanderung, die für ein Bett für die Nacht gefordert werden, haben wir nur erreicht, weil wir den Stempel von Orio im Credencial haben. Im Kloster San José leben keine Mönche mehr, und trotzdem ist der Bau gegen alles Weltliche abgeschottet. Er entspricht dem Klischee des Refugio oder Hospital, wie damals die Pilgerherbergen hießen, die nicht nur für Unterkunft und Verpflegung zuständig waren, sondern auch für die körperliche Gesundheit und die geistlichen Bedürfnisse der Pilger aus ganz Europa. Im Zeitalter des Massentourismus, der nun die Jakobswege erreicht hat, heißen sie schlicht Albergue. Die mannshohen Mauern des von außen abweisend wirkenden, rechteckigen Klosters umschließen einen großen Garten, fast einen Park, mit versteckten Sitzen, blühenden Blumen, Rabatten und Sträuchern. Drinnen liegen die zu Doppelzimmern umgestalteten, ehemaligen Zellen der Mönche an einem düsteren Gang. Einchecken, meinen Credencial abstempeln lassen, mich auf dem Bett ausstrecken und mein Knie entlasten, andere Bedürfnisse habe ich nicht. Meine erste Krise. Die ersten Zweifel. Ich bin niedergeschlagen, erst zwei Tage unterwegs und von Herausforderungen heimgesucht, die ich nicht erwartet und schlecht bewältigt habe. Nicht ich sie, sondern die baskischen Berge haben mich geschafft. Unangenehm verspüre ich Zweifel, die sich ausdehnen und mich verunsichern. Bevor mich mein Kleinmut lähmt, stehe ich wieder auf und gehe hinunter in die Stadt.

Am späten Nachmittag hat auf der Plaza Mayor die Fiesta bereits begonnen. Überall hängen Plakate und Dekorationen: Ural Kosta - Erabakitzera Goaz! Ein lokales Jahresfest, mehr kann ich von meinem nicht mehr ganz nüchternen Banknachbarn nicht erfahren. Alle sind draußen. Der ganze Ort scheint gekommen zu sein, so groß ist das Gedränge um die Bühne. Auf der Plaza schlendern Jung und Alt. An den Buden versammeln sich die Besucher und kaufen sich ein Bier im Plastikbecher, einen Imbiss auf die Hand oder Eis und andere Süßigkeiten für die Kinder, die mit oder ohne ihr Fahrzeug ungebremst über den Platz toben. Die Längsseiten säumen Bars, an denen Wein und Bier fließt, und Heavy Metal-Sound laut und kraftvoll in den Ohren klingt. Eine Musik, die nicht so recht zu dem älteren Publikum mit ihren kleinen Kindern passen will. Ungehemmt fluten die krachenden und kreischenden Riffs der Band durch die Luft, während man sich an den Tischen ungestört und lautstark unterhält, als gäbe es die Musiker und ihre Rhythmen nicht. Selbst Metalsound bringt die intensiv aufeinander einredenden Spanier nicht aus dem Gleichgewicht. Wenige beachten die Bühne, schenken der einpeitschenden Musik nur wenig Aufmerksamkeit. Für die anderen ist sie lediglich akustischer Hintergrund, auf dem Wortkaskaden über Münder plätschern. Rodeo heißt die Band. Die Lautstärke, die die Gitarren und das hämmernde Schlagzeug produziert, schüttelt die Musiker wie bockende und ausschlagende Pferde. Der harte Sound fegt wie sich kaum auf ihren Pferden haltende Reiter über den Platz. Ein Bier und es wird abgerockt. Neben mir ein Familienvater: drei Kids, er in Hip Hop-Outfit und schwarzgelber BVB-Kappe. Er wiegt seinen Jüngsten auf den Schultern, der seine Arme wild im Rhythmus der Musik schwenkt. Ich bestelle ein zweites Bier, und während mir Bass und Schlagzeug in die Beine fahren, fühle ich mich am richtigen Ort. Es fühlt sich gut an, für den Moment das Pilgerimage abzuschütteln, und sich unter feiernde Zeitgenossen zu mischen. Sehen, was sie machen, mit ihnen zu feiern. Und gute Musik zu hören. Meine Stimmung ändert sich, und mein Knie ist mir gerade sehr egal.
Zurück in der Herberge sind die meisten schon im Bett, andere sind ausgegangen. Auf der Plaza Mayor habe ich keinen von ihnen getroffen. Ich sitze im Garten, telefoniere mit Freunden, und verliere die letzten Zweifel. Wie konnte ich erwarten, dass mir der Weg nichts abfordert. Noch nie zuvor bin ich tagelang zu Fuß gegangen. Die Sonne ist hinter den Häusern verschwunden, es dämmert und wird kühl. Morgen früh gehe ich zurück auf den Camino del Norte. Allmählich kommen die letzten Pilger zurück, telefonieren, lesen, sitzen im Garten. Manche unterhalten sich.


Weiterlesen: Walfang in Deba



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