Dienstag, 13. Dezember 2022

Auftakt


Ich bin kein Pilger, ich sage es besser gleich, wenigstens nicht im konfessionellen Sinn. Besonders nicht im katholischen. Unterwegs war ich mir nicht immer sicher, was ich eigentlich war. Vielleicht war ich ein Pilger, ein Wanderer oder ein Tourist? Ich war ein Suchender, und einer Faszination erlegen, wie all die anderen, denen ich auf Jakobs Wegen begegnete. Nur war es nicht die gleiche Faszination, die uns auf den Weg brachte. Wir Vielen waren Wanderer und Touristen, auf jeden Fall Fußreisende, die eine neue Mobilität entdeckten, die so alt wie die Menschheit ist, die als Homo viator begann. Die wenigsten von uns waren nur Pilger.

Meine Erzählung über Jakobswege beschränkt sich auf keinen einzigen allein. Obwohl ich alle, von denen ich erzähle, vom Anfang bis ans Ende gegangen bin, habe ich einzelne Etappen ausgewählt, die für mich zu den schönsten, interessantesten und beeindruckendsten meiner Fußreisen auf Jakobs Wegen gehören. Sie sind dafür verantwortlich, dass ich hispanophil geworden bin. Die Etappen, von denen ich erzähle, sind keine Empfehlung für Leser*innen. Meine Beziehung zu diesen Wegen ist emotional, mitteilbar aber nicht teilbar. Wer versucht, sie nachzuwandern, wird enttäuscht, denn er wird nicht finden, was ich gefunden habe. Doch er wird etwas anderes finden, etwas, das mit ihm selbst zu tun hat. Ich will niemanden verführen, meine Wanderungen zu imitieren, ich will inspirieren, sich zu etwas Unvergleichlichem und Unvergesslichem auf den Weg zu machen. Dazu muss es kein Jakobsweg sein, jede andere Fernwanderung erfüllt den gleichen Zweck. Alte Wege, die seit Menschengedenken kreuz und quer durch Europa führen, gibt es genug.

Pilgerfahrten führen wie jede andere Wanderung aus der Enge der Stadt ins Offene. Wege gehen, die andere schon ins Gelände getreten haben, oder gleich einen neuen Weg hinzufügen, der erstmals begangen wird. Warum verlässt jemand das komfortable Nest, das er sich in der Stadt eingerichtet hat? Würde der Mensch nicht sehnen, träumen, wünschen, wohin würde er überhaupt kommen? Wer erst einmal herauskommt aus den beengenden Strukturen alltäglicher Routinen und urbaner Regeln, die nur selten seine eigenen sind, kann die Atmosphären der Landschaft spüren, wie eine Verlängerung seines eigenen Leibs; auch wenn ihm das nicht bewusstwird. Täglich wechselnd und immer wieder neu erfrischen sie leiblich und geistig. Er spürt sie im Gehen am eigenen Leib: den unebenen Weg, die Temperatur der Luft, die Wärme der Sonne auf der Haut, ihre brennende Hitze, das Wehen, Säuseln, Rauschen und Brausen des Windes in den Wipfeln der Bäume, die Aromen des Bodens, feucht und modrig nach dem Regen, staubig in heißer Sonne, der Duft der Blüten am Wegesrand und das Harz der Kiefern und Fichten sowie das Huschen eines flüchtenden Tiers im Augenwinkel. Die vielen Laute der Stille, ein kurzes Knacken, ein schnelles Rascheln oder Flattern, nicht identifizierbar, weil das Visuelle fehlt. Die landwirtschaftlich verursachten Störungen der natürlichen Balance, die Wunden der Natur, deren Disharmonie, Geometrie, Hässlichkeit und Gestank mich immer wieder einmal im Vorübergehen streifen. Immer aufs Neue und immer wieder anders: die Berührung von Sonne, Wind und Regen, Hitze, Kälte und Feuchtigkeit auf meiner Haut. Sinnlich intensiv gespürt, wenn die Zeit in einem Augenblick der Entrückung stillsteht. Die vagen Töne und Klänge, die sich vom Hintergrund der Stille schwach wahrnehmbar abheben. Das Orchester des Waldes, wenn nichts Fremdes stört, die Symphonie der Wellen in den Klippen am Meer, das leise, streichelnde Murmeln und Pfeifen des Windes oben am Berg. Die Enge der Brust in plötzlichem Erschrecken, wenn der Weg unerwartet im Weglosen endet. Wenn unheimliche Empfindungen den Wanderer bedrängen, die unmittelbar nach mentaler Bewältigung drängen. Der leichte Schauer, der fast angenehm den Rücken hinunter rieselt, der Thrill, das erregende Kribbeln im Bauch, wenn etwas nicht stimmt, und ich nicht erkennen kann, was es ist. Immer wieder verändert sich die Mentalität der Landschaft um mich herum: ihr Licht, ihre Farbigkeit und ihr Geruch; die wechselnden Geräusche meiner Schritte, das Zwitschern der Vögel und Summen der Insekten. Stundenlang im Regen wandern, durchnässt bis auf die Haut, tagelang unter brennender Sonne, bis das reine Blau des Himmels, die Brauntöne der Erde und das tiefe Grün des Waldes alles ausfüllen. Immer wieder durstig, weil das Wasser niemals reicht, dem tätowiert die Natur ihre Muster unlöschbar auf die Haut. Das alles verschwimmt zu einem vielsagenden, ganzheitlichen Eindruck, der sich in Empfinden und Gefühl ausdrückt. Wer das erlebt hat, der will immer wieder hinaus oder nie wieder. Warum sich nicht von einem Traum, einer Idee oder einer Umgebung anziehen lassen, sich solcherlei anderen verrückt Erscheinendes überziehen wie ein neues Kostüm. Wer kann es verübeln, sich in eine Welt jenseits von Alltagsroutinen zu träumen.

Jede Reise ist in gewisser Weise unwägbar, das trifft besonders auf Wanderungen in unvertrauten Landschaften zu. Das Land ist nicht nur seine Landschaft, sondern auch seine Geschichte, von der sie durchdrungen ist. Von dieser Geschichte zu wissen, das erkennt Paul Scraton während einer Wanderung entlang der Ostseeküste, bedeutet eine Landschaft anders zu erleben. Unser Wissen über eine Landschaft gestaltet unsere Wahrnehmung sowie unser Gefühl für die Orte, die wir erkunden. Wir erleben sie durch unser Vorverständnis und unsere Erinnerungen an sie. Heutzutage verschwinden immer mehr Orte und Landschaften. Christiane Hoffmann, die den Fluchtweg ihres Vaters von Schlesien nach Westdeutschland nachwandert, macht die Erfahrung, dass viele der westpolnischen Ortschaften, in denen ihr Vater auf seiner Flucht vor der Roten Armee übernachtet hat, nicht mehr existieren. Sie findet sie weder auf Straßenkarten noch in Google Maps. Orte und Landschaften können sich fundamental verändern und ihre Identität verlieren, die sie für ihre Bewohner im Lauf der Zeit angenommen haben. Robert Macfarlane kürt auf Twitter die Bezeichnung blandscape. Er versteht darunter Landschaften oder Orte ohne Diversität, entblößt von regionaler Unverwechselbarkeit, monokulturell, ohne Artenvielfalt, die zu einer Etappe im ökonomischen Verwertungsprozess geworden sind. Blandscapes ersetzen natürliche Lebensräume durch reizlose, nichtssagende Regionen, ohne jegliches visuelle Interesse. Austauschbare Terrains, die die Verbindung mit etwas sehr Wichtigem verloren haben: die lebendigen Erinnerungen an sich selbst. Diese urbanen Randgebiete nennt Alan Berger drosscapes, Schwellenräume, die weder Stadt noch Land sind. Abfalllandschaften, Industriegebiete und Investitionsruinen gehören dazu. Eine unberührte Landschaft ist ein Mythos, und ich weiß, dass Landschaft aus einer komplexen Interaktion zwischen natürlichen Prozessen und menschlicher Aktivität besteht. Obwohl es uns oft nicht so vorkommt, ist Landschaft in Europa längst zu einem Teil der menschlichen Kultur geworden. Eine solche Kulturlandschaft ist ein Ensemble, das auch die Natur einschließt, die nicht mehr unabhängig von ihr bestehen kann. Echte Wildnis gibt es nur noch in einigen überseeischen Gebieten, in Regenwäldern, Wüsten, im Hochgebirge oder im ewigen Eis, in den Landschaften, die für den Menschen lebensfeindlich oder ökonomisch unrentabel sind, den Landschaften, denen Jay Griffiths ihr Buch Wild. An Elemental Journey gewidmet hat. Aus diesem Grund verwenden Paul Farley und Michael Symmons Roberts das Verb landscaping, »belandschaften«, für den gestaltenden menschlichen Eingriff in die Natur, für Kulturlandschaften, die immer alltäglicher werden, bis nichts mehr daran erinnert, das es einst auch hier keine Menschen gab. Eine künstliche Landschaft, die als ein idealisiertes Bild der Natur auftritt. Doch wir sehnen uns nach einer Vielfalt von Orten und Landschaften. Deshalb müssen wir uns zu Fuß aufmachen, um die verbliebenen Orte aufzusuchen, die Landscapes, Drosscapes und Blandscapes, müssen die Lost Places durchwandern. Wir müssen uns an sie erinnern, um von ihnen erzählen zu können. Wir müssen sie wandernd erschließen, damit neue Geschichten über sie erzählt werden können; damit sie bleiben, erinnert und nicht zu trüben Flecken werden. Wenn die Erinnerungen verschwinden, und mit ihnen die alten Namen, die Handlungen und Ereignisse, der sie ihre Gestalt und ihren Charakter verdanken, geht die mit ihnen verbundene Geschichte ebenfalls verloren. Die Landschaft verliert ihr Gesicht und ihre Eigentümlichkeit. Die neuen Namen rufen keine Erinnerung mehr an ihre Vergangenheit wach. Die Geschichten, die sich Menschen über ihr Land erzählen, sind mehr als Erzählungen, die sie erdacht haben. Sie entstehen aus ihrer Verbindung mit dem Land, und sind eng an die Landschaften gebunden, nicht nur generationenlang, sondern über viele Jahrhunderte. Tief eingeschrieben in das kollektive Gedächtnis einer Kultur. Dies trifft in besonderem Maß auf die Jakobswege zu, die seit der Entdeckung des Grabs des Apostels mit Erzählungen und mit Geschichte, mit Fakten und Fiktionen, imprägniert sind. Es ist wichtig, die alten Wege über Hügel, Täler und vorbei an Gewässern immer wieder zu gehen, sich zu erinnern, damit die alten Geschichten nicht vergessen werden, die die Mentalität einer Landschaft geprägt haben. Verändert sich die Beziehung der Menschen zu ihrer Landschaft, geht ihr identitätsstiftender Charakter unwiederbringlich verloren. Es ist unvermeidlich, dass wir ihr unseren Stempel aufdrücken. Wir machen sie so zu einer Kulturlandschaft. Das ist weder gut noch schlecht. Es ist der Prozess des menschlichen Lebens und der kulturellen Entwicklung. Schlecht wird es erst, wenn der Mensch im Umgang mit der Landschaft das angemessene Maß verliert.

Bis auf den Aufbruch von zu Hause ist kaum etwas planbar, am wenigsten der Weg, am Anfang mehr Wunsch und Sehnsucht, auch nach dem ersten Schritt noch unwägbar. Am wenigsten sind es die Begegnungen unterwegs. Irgendwo in der Ferne anzukommen, ist anfangs nur eine Vision, der Weg noch unbekannt, höchstens eine abstrakte Linie auf einer Karte und den vielen Vorstellungen, die ich mir gemacht habe. Die tägliche Übung besteht darin, beständig und ausdauernd vorwärtszugehen, bis sich die Gedanken des Wanderers mit seinem Wissen über eine Landschaft verbinden, bis sie sich in seinen Empfindungen spiegeln. Wege winden sich unter Bäumen, über Hügel, durch Täler und immer wieder durch Ortschaften, an Gewässern entlang und durch dichte Wälder. Entlang der Trassen, die den Verkehr befördern, durch die Brachen und Gewerbegebiete am Stadtrand, vorbei an Einkaufszentren, Industrieanlagen, Schrottplätzen und Autohäusern sowie den gesichtslosen Hochhaussiedlungen der Vorstädte. Dann wieder durch Jahrhunderte alte Städte mit authentischen Atmosphären, durch Ortschaften, Dörfer und Weiler, viele von ihnen befrachtet mit den Spuren längst vergangener Ereignisse. Ein Ensemble von Gassen und Plätzen, Denkmälern und Ruinen, die wir Altstadt nennen. Stadtrand und Altstadt erzählen unterschiedliche Geschichten, nicht weniger erinnerungswert. Ich suche den Stadtrand nicht, und wenn ich hineingerate, spüre ich, wie meine Schritte schneller, meine Gedanken und Empfindungen unangenehm berührt, meine Gefühle abweisend werden. Die zupackende Ausstrahlung der Kultur einer Altstadt inspiriert mich. Neugier entsteht, Fragen drängen sich auf, und ich versinke in der Zeit, deren Reste sie repräsentiert. In der Stille des Waldes umhüllt mich die meditative Stimmung des Gehens. Der Wind in den Zweigen, das vielstimmige Vogelkonzert in der Frühe, wenn die Sonne aufgeht, der Frieden und die Beharrlichkeit, die Bäume ausstrahlen, ihre Festigkeit und Dauer, die mich beeindruckt und demütig macht, verstrickt meine Gedanken in wechselnde Eindrücke. Während des Gehens verändert der Weg meine Wahrnehmung, die sich an die Gestalt der Landschaft und den Rhythmus meiner Schritte anpasst und die Gedanken fließen lässt. Wenn sich Mensch und Umgebung in ein harmonisches Miteinander finden, entsteht ein Flow physischer und psychischer Bewegung: absichtslos und unkontrolliert, Raum und Zeit gewinnen eine erfrischende Qualität. Der Raum um mich herum rückt näher, umgibt mich, dringt in mich ein. Die Zeit dehnt sich und rückt von mir ab. Wen kümmerts, ob sie vergeht oder stillsteht? Jetzt kann für immer bleiben. Hier ist gut und ausreichend vorhanden. Ich gehe, also bin ich! Wandern ist eine Bewegung im Raum, Erinnerung eine Bewegung in der Zeit.

Gehen ist zuallererst eine körperliche Aktivität, die sich psychisch auswirkt. Gehen heißt, durch den Körper wahrnehmen, zu spüren und zu empfinden. Gehen fördert und schult die sinnliche Wahrnehmung, und öffnet unser Bewusstsein für unsere Umgebung, für die Welt. Gehen ist meditativ. Gehen ist nicht nur eine Vorwärtsbewegung durch den Raum, Gehen bringt den Fußgänger zu sich selbst zurück. Gehen überlässt dem Menschen die Initiative, und öffnet ihn für die Welt. Jeder macht diese Erfahrung für sich. Darum sind Fußreisen auch nicht wiederholbar. Sigmund Freud spricht vom inneren Ausland, das er durch die Analyse des Verdrängten erkunden will. Der Reisende hebt auf seiner spirituellen Queste unbewusste Schichten ins Licht des Bewusstseins. Über das Fremde zu schreiben, besonders das Fremde in ihm, bleibt immer nur ein Versuch. Heimat ist ein kulturspezifisches Konzept, das den Ort beschreibt, an dem sich jemand zu Hause fühlt. Ein Dialekt, eine Landschaft, die Familie und bestimmte Traditionen, der Ort der Kindheit, alles eng mit der Persönlichkeit und Identität eines Menschen verbunden. Heimat geht weit über bloße Zugehörigkeit hinaus. Heimat besitzt eine Bedeutung, die spürbar, aber nur schwer erklärbar ist, da sie sich auf den Charakter und die Atmosphären einer Landschaft bezieht, deren Eigentümlichkeit man mit dem ersten Atemzug, mit dem ersten Blick, unwiderruflich aufsaugt. Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl. Nostalgie, aus den Lexemen nostos und algos gebildet, aus nach Hause kommen und Schmerz, ist nicht länger Eskapismus, sondern die Gelegenheit, ein Gefühl wiederzuentdecken, das Heimat und Fremde zugleich ist.
Es gibt immer wieder den richtigen Moment im Leben, die richtige Gelegenheit, etwas zu verändern, etwas völlig anderes, scheinbar Verrücktes, zu tun. In dem Augenblick, in dem etwas anders, das Fremde zu einem Teil des Ganzen wird, betritt man die hybride Zone des Übergangs. Der Fokus des modernen Pilgers liegt auf seinem affektiven Betroffensein von den Atmosphären und Erzählungen, die ihm der Weg bietet, zu denen er eine leibliche Beziehung eingeht. Weniger im Besuch von mit Bedeutung aufgeladenen Orten und Gebäuden. Die Diversität moderner Pilger, ihre Herkunft und Motivation, löst sich vielfältig in der Einheit der Pilgergemeinschaft auf, eine Einleibung, die Victor Turner als Communitas beschrieben hat. Das Wiedererstarken der Pilgerbewegung ist in Bewegung geratene Spiritualität, die sich immer mehr von den Dogmen der katholischen Kirche lossagt. Die zentrale Motivation modernen Pilgerns äußert sich in der Suche nach Sinn in einer globalisierten Welt mit zunehmend entpersönlichten Beziehungen. Dieses Bedürfnis nach Sinn erwächst aus der Entfremdung des einzelnen Menschen von seiner vertrauten Lebenswelt, die zu einer wachsenden Unsicherheit über seine Identität führt, zu Zukunfts- und sozialen Ängsten. Rituale der Selbstvergewisserung sind wieder dringend erforderlich, sodass pilgern neben der rituellen auch eine therapeutische Dimension gewinnt, sofern sich beides überhaupt trennen lässt. Pilgern bietet eine rituelle Struktur in einem ahierarchischen und unstrukturiert freiheitlichen Raum für diesen psychischen Entwicklungsschritt. Dieser Prozess entfaltet sich mit den Mitteln der eigenen lebensweltlichen Erfahrung des Pilgers, der Vorstellung sein Leben als Reise aufzufassen, die er seinen eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten anpasst. In diesen Zeiten meldet sich die Vernunft, die dazu rät, nichts Unwägbares zu tun. Wir sind aufgefordert, eine Entscheidung zu treffen, Vertrautes loszulassen, bevor sich die Tür zu etwas faszinierend Neuem ein weiteres Mal schließt. Jede Biografie enthält diese Gelegenheiten: das Ende der Jugend mit seinen Fragen und Herausforderungen, die das Erwachsenwerden stellt, die Lebensmitte, mit ihren persönlichen und beruflichen Krisen, und das Dritte Alter, das age of eminent leaders, mit der Gelegenheit, sich noch einmal neu zu erfinden.
Eine Renaissance des Gehens liegt in der Luft. Auf den europäischen Jakobswegen, den Caminos de Santiago, sowie auf Fernwanderwegen weltweit, sind sie zahlreich unterwegs. Der Boom der Outdoor-Industrie und die Regale mit Reiseliteratur in den Buchhandlungen sprechen Bände. In immer mehr Menschen, deren Leben sich im Beton und Asphalt der Städte, zwischen Arbeitswelt, Eigenheim und sozialen Zwängen verbraucht, erwacht eine neue Sehnsucht nach dem Unverbrauchten und Ursprünglichen. Aus einem Impuls heraus, den sie zunächst nicht erklären können, machen sie sich unvorhersehbar auf den Weg, und vagabundieren durch die Welt. Nach Jahrzehnten vergeblicher Kassandrarufe von Wissenschaftlern, Klimaaktivisten und spirituellen Lehrern leugnen nur noch ideologisch verbohrte Fanatiker, dass wir mitten in einer globalen Klimakrise leben, die unsere Lebensgrundlagen zerstören kann. Der Planet Erde ist kein Problem, dass gelöst werden muss, vielmehr müssen wir unsere Haltung der Erde gegenüber verändern. Wir werden diese Krise nicht überwinden, wenn wir nicht lernen, uns als Teil der Natur zu begreifen. Ein ökologisch sanfterer Fußabdruck ist dringend erforderlich. Seit sich vor mehr als drei Millionen Jahren ein Australopithecus in die Steppen Ostafrikas wagte, und sich auf zwei Beine aufrichtete, ist das Gehen für den Menschen die angemessenste Fortbewegung. Es ist notwendig geworden, dass wir uns erinnern, dass wir als Homo viator die Welt besiedelt haben. Gehen ist nicht rückständig, sondern aus der Mode gekommen. Nichts spricht dagegen, sich wieder aufzumachen, um die Schönheit der Natur mit allen Sinnen zu erleben, den Geschichten zu lauschen, die die Landschaft erzählt und auf Wegen zu wandern, die Jahrtausende alt sind. In der Natur zu wandern, sie als Verlängerung des eigenen Leib zu spüren, hilft sie als gleichberechtigt zu respektieren.
Im Umfeld von Hypermobilität sind Fußreisen subversiv. Schon allein die Vorstellung, wieder zu Fuß zu gehen, fühlt sich revolutionär an. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor: Sein und Teilhabe statt Besitzen und Haben. Bewahrung statt Verschwendung, Bewegung statt Konsum. Weniger statt Mehr; eine neutrale Klimabilanz. Im urbanen Milieu ist der Abgesang des Individualverkehrs längst überfällig geworden. In manchen Kreisen ist es inzwischen out, ein eigenes Auto zu besitzen. Eine autofreie Welt, eine andere Vision. Viele Mitmenschen und Zeitgenossen schaffen es vielleicht nie, und verfallen weiter der Bequemlichkeit des Konsums. Verantwortung ist nicht delegierbar. Wir sind die Vielen, verkündet die Elektro-Pop-Musikerin Bernadette La Hengst ihr Programm. Wir, das sind die Sitzenbleiber und die Zeitvertreiber, die Genießerinnen und die Umverteiler, die Vertriebenen und die Philosophen, die Liebenden und die Grenzenlosen, die Visionäre und die Hoffnungsvollen, die Gutmenschen, die was ändern wollen, die Alternativen und die Avantgarde, und die eigensinnig Einzelnen mit ihrer eigenen Art. Wie anders stehen sie zur Welt. Eine innere und äußere Balance von Natur und Kultur zu erreichen, lautet das Ziel: nachhaltig, ökologisch und friedlich. Nur eine ökologische Welt bildet einen sozial gerechten Lebensraum. Es lohnt sich Ulrich Grober zu entdecken, und seine Bücher zu lesen. Ich kenne nicht viele Autoren, die die Problematik unseres Lebensstils so radikal benennen, ohne in die dystopischen Grabreden einzustimmen, die in diesem Zusammenhang üblich sind, die leicht Zuversicht und Motivation zerstören. Dystopien führen in eine Ohnmacht, die suggeriert: Inzwischen ist es längst zu spät. Zukunft ist möglich, wenn wir nachhaltiger leben, weniger besitzen, weniger zerstören, weniger verbrauchen, weniger entsorgen, mehr teilen; unsere Habgier zügeln, wieder staunen und uns freuen, über die Welt, die uns erhält. Alles, was wir dazu brauchen, fasst Grober in wenige Worte, die als zukunftsfähiges Leitmotiv taugen: Richtungen ändern. Vom Weg abweichen. Im Weglosen gehen. Souverän über Raum und Zeit verfügen. Gehen und tragen. Alles, was man braucht, im Rucksack bei sich haben. Sich etwas zumuten. Bis hart an die eigene Grenze gehen. [. . .] zur Innenschau, der Zwiesprache mit sich selbst, dem Hören auf die innere Stimme: Essenz des Wanderns. Achtsam sein, hinsehen und zuhören, sich in der Kakophonie der Konsumdiktion nicht selbst verlieren. Der fiktive Südseehäuptling Tuiavii aus Tiavea erklärt kategorisch: Die vielen Dinge machen den Papalagi arm. Eine radikalere Kritik an der westlichen Zivilisation und Lebensart ist nicht möglich. Ist die Frage, ob jemand ein Pilger oder jemand anderes ist, in diesem Kontext nicht überflüssig, wenn nicht sogar sinnlos?
Die Renaissance des Pilgerns findet fern von mittelalterlicher Frömmigkeit statt. Es geht noch lange nicht immer um eine Beziehung zu Gott. Moderne Pilger wollen das Joch des Materialismus abschütteln, sich mit der Natur verbünden, gegen deren Ausbeutung und die Entfremdung von sich selbst. Sie träumen von dem viel beschworenen, sanften ökologischen Fußabdruck, der das Wort für eine andere Zukunft ergreift. Aus dem immer weiter so des Neoliberalismus erwächst keine Alternative. Immer wieder muss dem dekadent gewordenen Establishment, das nichts so sehr hasst, wie Veränderungen und das Glück aller, ein Spiegel vorgehalten werden; einer Bourgeoisie, die unsere Welt zerstört, um ihre Destruktivität als Norm durchzusetzen. Politiker und Wirtschaftsbosse, die die Welt durch ihre eigene Unfähigkeit, das Gute zu sehen, der Habgier ausliefern, erklären uns gebetsmühlenartig, dass wir immer mehr brauchen, noch mehr von dem Konsum, der uns verdummt und verfettet, uns immer weiter von unseren natürlichen Bedürfnissen entfremdet. Was wir benötigen, ist die Umkehr zu einem ökologischen, sozialen Paradigma, zu einer wirklichen Alternative. Aber die finden wir nicht auf dem Arsch sitzend. Wir brauchen keinen neuen Jesus, keinen Che Guevara und auch keinen Ghandi. Wir brauchen keine Sozialrevolutionäre oder weitere Heilsbringer und deren Fehleinschätzungen. Es ist genug geredet, es geht darum, was wir wissen, umzusetzen. Nicht der Cyborg ist das Modell der Zukunft, sondern der Fußgänger.

Reisende suchen etwas, dass nicht zu finden ist. Deshalb müssen sie es deutend konstruieren. In meiner Re-Konstruktion finden sich frühkindliche Prägungen, mannigfaltige spätere Lebenserfahrungen und Gelerntes, sowie die theoretisch-analytische Weltanschauung meiner Bildung, einmal abgesehen davon, welche Ängste, Wünsche und Hoffnungen sich noch unter diesen Stoff mischen, der sich nicht immer von meinen Träumen trennen lässt. Diese Melange wirkt als persönlicher Mythos, ein unbewusstes Repertoire, aus dem das Ich schöpft. Es ist bedeutsam, Beobachtungen und Erfahrungen retrospektiv bewusster wahrzunehmen und zu bewerten. Vergangene Fußreisen mischen sich unter diesen Stoff, anderswo Gehörtes und Gelesenes, Vermutetes, Gespürtes und Gefühltes. Selbst Träume und Idealisierungen sind schnell bei der Hand, wenn der Erzählende zum Protagonisten seiner Geschichte wird. Ich schreibe meinen Wanderungen hinterher; retrospektiv, in der Erinnerung. Wenige Dinge sind trügerischer als Erinnerungen, erkennt Carlos Ruiz Zafón in seiner Barcelona-Tetralogie, und mir wird wieder bewusst, dass jeder Text auch etwas Gemachtes ist, eine Fiktion. Jede Erinnerung hat ihre eigene Sprache, in der sie beschrieben werden will, denn Erinnern ist immer eine Konstruktion des einmal Gewesenen, das in der Realität nicht auf dieselbe Weise existiert. Ein Reisender befindet sich auf seiner eigenen spirituellen Queste, die tief in ihn hineinreicht. Zurückgekommen, hebt er verborgene, sedimentierte Schichten ins Licht des Bewusstseins. In meinen Erzählungen versuche ich herauszufinden, was Fußreisen für mich bedeuten, für andere bewegen können. Was eine wochenlange Fußreise in jemand anderem auslöst, weiß ich nicht. Ich bin kein objektiver Zeuge. Ich beobachte, sammele und erzähle als erlebendes Ich, dem sich das erinnernde Ich reflektierend gegenüberstellt. Alles Beschriebene habe ich selbst erlebt. Niemand anderer kann das wiederholen. Jeder muss seinen eigenen Weg austreten. Niemand kann einem Reisenden seine selektive Wahrnehmung verübeln, denn jeder Text, solange es sich nicht um eine Betriebsanleitung handelt, ist etwas Fiktives, Gemachtes. Doch selbst darüber besteht keine Gewissheit, weshalb sich Victor Segalen fragt, ob das Imaginäre an Kraft verliert oder gewinnt, wenn es dem Realen gegenübertritt.
In der Pilgerherberge in Tábara reichte der Hospitalero nach dem gemeinsamen Abendessen einen Korb mit Merksprüchen herum, aus dem jeder der Anwesenden einen Zettel zog. Ich nahm ein Los aus dem Korb, und war zufrieden und einverstanden. Das Leitmotiv, das mir an diesem Abend zufiel, erklärt den Weg des Wanderers zum Lebensweg:

El espíritu del camino
Der Geist des Jakobwegs
no se encuentra sobre él
ist nicht auf ihm zu finden,
está en el interior de
sondern in jedem Pilger,
cada peregrino que lo recorre
der ihn geht.


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