Sonntag, 29. Januar 2023

Tage in der Römerstadt


One day,
you'll look to see I've gone.
For tomorrow may rain,
so I'll follow the sun
.
The Beatles

Ein Drittel der Vía de la Plata liegt mit unterschiedlichen Begegnungen und Erlebnissen hinter mir. Der Weg führt nach Norden, immer weiter nordwärts, und meistens zieht die Sonne ihre Bahn über mir. Oft wünsche ich mir, zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich glaube, wenn ich mich in Raum und Zeit bewege, anstatt irgendwo zu warten, ist das einfacher. Vielleicht nur eine Illusion, doch sie fühlt sich gut an. Beim Wandern entsteht die richtige Balance zwischen Geschwindigkeit, dem Verlauf der Zeit, der Stabilität des Bodens unter meinen Sohlen und der Beharrlichkeit des Raums.
Die Landschaft wird wieder schöner, das Wetter leider nicht. Erneut ist es kalt geworden, und ich muss meine Daunenjacke auspacken, die ich vor ein paar Tagen, allzu optimistisch, tief im Rucksack verstaut habe. Die Etappen werden länger und es ist schwierig geworden, sie zu verkürzen. Es gibt nicht so viele Herbergen wie auf den nordspanischen Jakobswegen. Mehr als einnmal liegen dreißig bis vierzig Kilometer zwischen den Unterkünften; wildcampen ist in Spanien offiziell nicht erlaubt, außerdem benötigt es zusätzliche Ausrüstung. Ich wandere lieber leichtfüßig über die Wege als mit zu viel Gepäck auf dem Rücken.

Samstag, 28. Januar 2023

Diesseits des Duero


Auf jedem Spaziergang gibt es etwas zu erleben,
und jeder Pfad hat etwas zu erzählen
.
Robert Macfarlane

Abschied von Andalusien. Die südspanische Landschaft, nördlich von Sevilla, nur eine kurze Begegnung. Andalusien ist noch viel mehr. Wirklich kennengelernt habe ich die Landschaft dieses Mal nicht. Dazu reichen fünf Tage nicht aus. Meine Erinnerung nehmen die zahlreichen Dehesas ein. Nordwestliches Andalusien - Dehesaland der Stein- und Korkeichen, auf denen ich nach Tieren Ausschau halte, und hin und wieder Vögel sehe, sie meistens nur höre. Ein eingezäuntes Land, das mir seine Tore öffnet, und mich durch die friedliche Parklandschaft einer Baumsavanne wandern lässt, die meine Sinne streichelt und meine Gedanken ruhig werden lässt. Viehzucht und Fleischproduktion dominieren die Landwirtschaft. Selbst die domestizierten Tiere leben in Freiheit: Rinder, Schafe und das schwarze, iberische Schwein. Keine Mastbetriebe, die kommen erst später. Die hügelige Landschaft breitet sich in Wellen aus. Maultierpfade mäandern auf und ab, einmal steil und steinig aufwärts, abwärts und aufwärts, dann wieder schmal und im Gelände kaum auszumachen, dann breite Wirtschaftswege, der Boden von Rädern verdichtet. Morgens begleitet mich mein Freund der Kuckuck unsichtbar ein Stück des Wegs und ruft mir aus der Ferne einen Gruß zu.

Mittwoch, 25. Januar 2023

Baumsavannen und weiße Dörfer


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die eine Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich da ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.

Dienstag, 24. Januar 2023

In Sevilla


You, who are on the road
Must have a code that you can live by
And so, become yourself
Because the past is just a goodbye
.
Crosby, Stills and Nash

Seit gestern bin ich in Sevilla, am Beginn einer wochenlangen Fußreise durch das nördliche Andalusien, durch die Extremadura, Kastilien-Léon und Galicien. In drei Monaten will ich diese Landschaften zu Fuß durchqueren. Tag für Tag. Ich will sie mit allen Sinnen wahrnehmen, will sie sehen, ihre Atmosphären spüren, riechen und schmecken, was sie bereithalten, hören, was in ihnen vorgeht, sie berühren und mich von ihnen berühren lassen. Schon allein die Namen lösen Fantasien und Assoziationen aus, die bis in eine kaum bekannte Geschichte hinabreichen und darüber hinaus in das Reich der Sage und des Märchens. Andalusien gehörte einst zum maurischen Spanien; Kalifen, Astrologen, Heiler und Fakire, Schlangenbeschwörer und Märchenerzähler, prachtvolle Paläste und Moscheen. Tausend und eine Nacht, aristotelische Philosophie, weltumspannende Weisheit. Drei Kulturen kamen in dieser Epoche auf der iberischen Halbinsel zusammen, damals, als die westgotische Kultur versank. Wer in Spanien wandert, findet überall ihre Hinterlassenschaften, nicht nur materiell. Die modernen Spanier und Spanierinnen verkörpern sie alle. In den Straßen von Sevilla findet man sie in Phänotyp und Temperament vertreten: die Nachkommen der Goten, Mauren und Juden.

Montag, 23. Januar 2023

Einstimmung


Erst die Möglichkeit
einen Traum zu verwirklichen,
macht unser Leben lebenswert
.
Paulo Coelho

Henry David Thoreau fordert uns in seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern auf, in Richtung unserer Träume zu leben. Dann werden wir Erfahrungen machen, verspricht er, die wir uns gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Pilgerfahrt, die sich in postmodernen Zeiten fast vollständig von konfessionellen Doktrinen gelöst hat. Beim Aufbruch fragte ich mich nicht, ob ich ein Pilger bin, wenn ich auf Pilgerwegen wandere, die von ungezählten Pilgerfüßen in die Landschaft getreten wurden, Spuren, die nicht verwehen; selbst Jahrhunderte später nicht. Ich kam durch Orte und Landschaften, fand Artefakte, denen die Anwesenheit unzähliger Pilger eingeschrieben ist, jahrhundertelang. Durch Dörfer, die vorspiegeln, es gab sie schon immer. Durch Landschaften, deren Transitheiligtümer, Kirchen und Paläste Geschichte atmen. Ich hatte mir eine Fußreise vorgestellt, eine lange Wanderung, die zu einer Pilgerfahrt wurde, anders als ich erwartete. Die vielen Wege, die ich gegangen bin, mündeten wie Flüsse in einen Ozean, ein Strom erweitertes Leben, zu fernen Horizonten, die meinem Blick anfangs verborgen waren, auf ein Ziel gerichtet, das ich selbst war. Solche Ziele liegen immer am anderen Ufer, jenseits des Vertrauten, inmitten der Liminalität. Mittendurch führt der Weg ans Ziel, nicht außen herum. Letztlich ist der richtige Weg unvermeidbar, sonst gilt Adornos Wort, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Zukunft ist Apräsenz! Der erste Schritt einer Wanderung, gleichgültig, wie man sie nennt, führt immer in einen Schwellenzustand. Altes trägt nicht länger, Neues muss erst erworben werden: Abschied und Neubeginn, dazwischen liegt die Gegenwart einer Fußreise, der Wanderung, der Pilgerschaft. Wer sonst bricht zu einer solchen Wanderung auf? Der Wanderer wird zum Schwellenwesen, zum Pilger, wenn er die zwischen den beiden Polen liegende liminale Zone betritt.

Sonntag, 22. Januar 2023

Ultreya! Die letzte Etappe


Durch die Porta de Santiago verlasse ich Lugos Altstadt. Durch leere Geschaftsstraßen geht´s hinunter an den Rio Miño. Die Läden sind so früh noch geschlossen und Pinchos gibt es in keiner Bar. Wieder einmal fällt mein Frühstück aus. Vorbei am Schwimmbad, das bis in den Fluss reicht, steigt der Camino Primitivo zurück in die Berge. Am anderen Ende der Stadt, an der neuen Fußgängerbrücke über den Fluss, verabschiedet ein silberner Legionär in voller Rüstung mit Schild und Speer die Pilger auf die letzten hundert Kilometer. Er ist zu müde, um Wegzoll zu fordern. Seine Rüstung hat an diesem regenschweren Morgen ihren Glanz verloren. Wer durch Lugo spaziert, bewegt sich unübersehbar auf historischem Boden. Tritt in die Spuren von Legionären, von Verwaltungsbeamten und Senatoren, römischen Plebejern, die Lugos Straßen einst bevölkerten, Versprengte auf interkulturellem Parkett. Gestern auf der Plaza Mayor, noch bevor ich vor der Kathedrale stehe, blicken ein Legionär und ein Senator auf mich herab. In Bronze gegossen strahlen sie unwidersprochen die Autorität von Besatzer aus.

Lucus Augusti, die Römerstadt


Der Camino Primitivo hat sich in Galicien verändert. Besonders die Beschaffenheit der Wege ist spürbar anders geworden. Sie haben zunehmend ihre Natürlichkeit verloren, sind zu breiten, planierten Forstwegen geworden, monotone Pisten, denen die Wanderromantik abhandengekommen ist. Sie sind mehr zu Kultur geworden als Natur geblieben. Ich glaube, es hat einmal andere Wege gegeben, in den vergangenen Jahren, als der Jakobsweg noch kein touristisches Event gewesen ist. Wenn es mir nicht gelingt, in den Atmosphären der Landschaft aufzugehen, lenken die perfekten Wanderwege meine Achtsamkeit für das Wesentliche ab, und stören mein Naturerlebnis. Plötzlich hat sich die Balance von Natur und Kultur verschoben. Gleich jenseits der Puerto del Acebo begann es; eigentlich bereits auf der improvisierten Grenze aus groben Steinen. Die gelbe Muschel hat sich nicht, wie erwartet, um 180 Grad gedreht, doch die Strahlen weisen uneindeutig mal in die eine, mal in die entgegengesetzte Richtung.

Samstag, 21. Januar 2023

In Galicien


Als ich aus dem Fenster in den Garten der Herberge schaue, sehe ich die nebeligen Schleier, die die Berggipfel umschmeicheln. Orange scheint eine blasse Sonne auf Castro. Ich weiß es sofort: Der Tag verspricht ein guter zu werden. Ich packe mein Zeug zusammen, bringe es hinunter in den Garten und frühstücke. Ratlos stehe ich vor dem Automaten, aus dem mein Kaffee kommen soll. Juán, der mich gestern arrogant ignoriert hat, ist plötzlich ein freundlicher Mann. Wir kommen holpernd ins Gespräch, vielmehr stolpere ich in sein kehliges Spanisch. Juán ist das Klischee eines Machos, ein Mann, der den Ton angibt, dem Hilflosen aber uneigennützig zur Seite steht. In höflichem Befehlston weist er mich an, was ich tun muss, um an den begehrten schwarzen Trank zu kommen. „Gib mir einen Euro . . . !“ lautet sein erster Befehl.

Freitag, 20. Januar 2023

Spuren der Vergangenheit


Berducedo ist eine von siebzehn Parroquias, eine der kleinen administrativen Verwaltungseinheiten und Kirchengemeinden unterhalb der Gemeindeebene (municipio), ähnlich einer Pfarrei oder einem Kirchspiel. Das Dorf duckt sich tief in eine Senke zwischen zwei Gipfel. Die beiden antiken Pilgerherbergen, Hospital de Fonfaraón am nordöstlichen und Hospital de Buspol am südwestlichen Pol, geben der Landschaft das Gepränge einer Halfpipe, die besser zu Fuß als mit einem Skateboard zu durchqueren ist. Berducedo bildet den ruhenden Pol zwischen den Berggraten, eine Atempause für den Wanderer, bevor es wieder aufwärts geht. In Berducedo nimmt die Wanderung durch eine außergewöhnliche Bergwelt für eine Weile ein Ende. Erst in Buspol beginnt der nächste steile Aufstieg, noch einmal hoch auf über tausend Meter, der viel zu schnell ins Tal des Navía führt, achthundert Meter hinab an einen langgestreckten See; ein Fußabdruck, den ein Riese in längst vergangenen Tagen in die Berge getreten hat.

Mittwoch, 18. Januar 2023

In lichten Höhen


Wer zur Bruderschaft gehört, schreibt Robert Louis Stevenson in sein Südseetagebuch, sucht nicht das Malerische, sondern bestimmte glückliche Stimmungen. Campiello oder Borres? So lautete die Frage gestern. Ich habe mich aus Neugier auf die touristische Atmosphäre am Jakobsweg eingelassen und mich für Campiello entschieden. Ein Ort, der einen Boom erlebt, der von der Konkurrenz um die Pilger profitiert. Wäre ich in Bali statt in Asturien, stände vor beiden Herbergen eine Ganesha-Skulptur. Shivas Sohn, würdigt man ihn auf die rechte Weise, schenkt glücklichen Handel und Wohlstand. Bisher ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, eine Jakobusstatue aus Holz oder Stein in Campiello aufzustellen. Aber das kann noch kommen.

Regentage in Asturien


Der Tag beginnt mit Bob Dylan im Ohr. If dogs run free, singt der Barde mir ins Ohr, then why not we across the swooping plains? Die Wolken hängen schwer und nass über den Bergen. Durch den nebeligen Dunst flimmern die Gipfel wie eine Fata Morgana. Doch ich spüre, dass sie da sind. Früher oder später werden sie sich in ihrer majestätischen Schönheit zeigen. Bisher war es jeden Tag so: bis mittags war es bewölkt oder regnerisch, die Nachmittage waren hell und sonnig. Wie hoch die Berge wirklich aufragen, beschäftigt meine Fantasie. Die Bilder der letzten Tage haben sich zu einer Galerie versammelt, die einen Raum in mir füllen. Ich erinnere mich oft an die baskischen Berge, fast gegenwärtige Erinnerungen, lebhaft, pittoresk, lustbetont. Das Konterfei der neuen Landschaft kann die alte nicht auslöschen, sie ergänzt und erweitert meine Erinnerung und triggert meine Erwartungen.

Dienstag, 17. Januar 2023

Das Kloster zur Bärenpforte


Selten sind die Dinge, was sie zu sein scheinen. Aber sind sie deshalb gleich etwas Anderes? Sehnsucht! Unruhe! Fernweh! Das sind die drei Gefühle, die mich schon früh von zu Hause weglockten. Hätte ich vor einigen hundert Jahren gelebt, ich wäre zur See gefahren. Doch ich bin Ethnologe geworden und an Kultur, besonders an der spannenden Symbiose von Kultur und Landschaft, Geschichte und Literatur interessiert, an den Erzählungen, die sich Menschen über die Phänomene und die Ereignisse erzählen, die ihnen begegnet sind. Was mit Petroglyphen an Felswänden und Gemälden in finsteren Höhlen begann, mündete in eine unglaublich vielfältige, narrative Literatur. Es gibt unzählige Geschichten, und manche ragen wegen der Aura der Erstmaligkeit, die sie umgibt, unter ihnen hervor. So blieb es nicht aus, dass ich mich irgendwann auf dem Jakobsweg wiederfand, um den Apostel zu besuchen. Nicht im katholischen Sinne, nicht einmal im religiösen, eine Begegnung, die nicht wenig mit meiner Neugier auf ein Danach zu tun hat. Im Leben gibt es immer wieder Persönliches zu erledigen, und meine katholische Sozialisation gehört dazu.

Montag, 16. Januar 2023

Im Gefolge des ersten Pilgers


Reisegeschichten sind die ältesten Geschichten der Welt. Homers Odyssee oder die Aeneis des Vergil, aber auch die Legenden um den Apostel Jakobus und seine Ankunft in Galicien gehören dazu. Reisende, Händler und Vaganten, sowie die Heimkehrer, die lange fort gewesen sind, und viel Wunderbares gesehen haben, erzählen sie den Daheimgebliebenen. An den Abenden, im Schein der Kerzen oder des Feuers, dass vor dem Haus lodert, wenn die Arbeit getan ist und die Sonne versinkt. Wenn sich die Menschen versammeln, um miteinander zu reden, beginnen die Schatten auf der Leinwand des Erzählers zu tanzen. Die Geschichten erwachen zum Leben, wecken Sehnsucht und appellieren an die Fantasie der Zuhörer. Der Erzähler bringt Erinnerungen ins Leben zurück. Du wirst nie erfahren, ob es ein guter Weg ist, wenn du ihn nicht selbst gegangen bist!