Mittwoch, 8. März 2023

Auf Jakobswegen ans Ende der Welt


Gehen ist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.
Werner Herzog
What life has taught me I would like to share
with those who want to learn

Bob Marley

Himmelspfad und Sternenfeld ist kein Wanderführer, ich sage es lieber gleich. Ich erzähle auch nicht kontinuierlich von einer Fußreise, die dann doch zu einer Pilgerfahrt wurde, biete keine monotone Tag-für-Tag-Beschreibung vom Ausgang der Wanderung bis an ihr Ende, beschreibe nicht minutiös einen Tagesablauf nach dem nächsten. Obwohl ich das auch tue, denn es gehört zu einer Wanderung, dass die Ereignisse des Tages und der bewältigte Weg Schritt für Schritt und Tag für Tag immer wichtiger werden, weil sie dem Wanderer, der wochenlang nichts anderes unternimmt, als zu gehen, zu essen und zu schlafen, ihren Rhythmus auf den Leib schreiben. Ich erzähle von mehr und von anderem. Das eine oder andere Zitat, die eine oder andere Bemerkung, mag sich auf der einen oder anderen Seite wiederholen, weil sie zu den geschilderten Ereignissen passt, denn ich habe die Erzählungen meiner Wanderungen nicht kontinuierlich geschrieben, sondern an mehreren Orten, unter unterschiedlichen Umständen, mit langen Pausen zu verschiedenen Zeiten. Sie nun zu "säubern" oder zu glätten, fällt mir nicht ein, denn ich würde die Spontanität verfälschen, in der sie entstanden sind.

Sonntag, 5. März 2023

Die letzten Schritte


Entfalte deine Gedanken zu den milchweißen Spuren,
die noch kein Unbesonnener zu träumen gewagt hat.

Hawad

Ich habe es mir anders überlegt. Über dem Weg nach Muxía, über das Kap am Ende der Welt hinaus, hängt der Nimbus der Vermeidung der Endlichkeit. Wer aber einen schönen Trauum geträmt hat, erzählt uns Wilhelm Schmidt, mag in der Realität nicht mehr leben. Der Weg nach Muxía ist kein Camino de Santiago mehr. Schon die hundert Kilometer nach Finisterre Jakobsweg zu nennen, fällt mir schwer. Und jetzt auch noch die zusätzlichen dreißig Kilometer nach Muxía: Unmöglich! Die Pilgerfahrt endet in Santiago de Compostela, am Grab des Apostels. Jenseits der Jakobusstadt beginnt die profane Wanderung durch das schöne Galicien. Der wahre Pilger beendet seine Fußreise auf dem Sternenfeld, vor der Kathedrale in Santiago de Compostela. Was folgt ist Tourismus.
Nach der wochenlangen Fußreise fällt es mir plötzlich schwer stehen zu bleiben, morgens nicht mehr meinen Rucksack zu packen, ihn zu schultern, und nach einem kargen Frühstück weiterzugehen, immer weiterzugehen. Den ganzen Tag unterwegs im Freien, nur zum Schlafen unter ein Dach zu kriechen. Die Sonne, den Wind und den Regen, ungefiltert auf der Haut zu spüren. Wie habe ich mein Leben bisher nur ohne diese täglichen Atmosphären verbringen können, es ausgehalten, mich fast den ganzen Tag sitzend in Räumen aufzuhalten.

Mittwoch, 1. März 2023

Fisterra Blues


Aber für zwei Weltmeere brauche man
eben, wie für einen Göttervogel,
vor allem eines: Zeit.
Irgendwann in ihrem Lauf
zeige sich schließlich selbst
das Scheueste und Verborgendste.
Irgendwann werde alles offen
.
Chistoph Ransmayr

Der Blues des Wanderns trägt die Vergänglichkeit im Gepäck. Fisterra! Weiter kann ich nicht mehr gehen. Bin ich angekommen? Ich weiß es nicht. Ich spüre, eine Unruhe, die wohl bedeutet: Ich bin noch nicht bereit. Ich bin vor ein paar Tagen in dem kleinen Ort am Atlantik, im Nordwesten von Galicien, eingetroffen. Ich habe das Gefühl, die Zeit auf dem Camino de Santiago liegt schon lange zurück. Es ist früh am Nachmittag. Mir ist angenehm warm, umweht von einer sanften Brise, die nach Meer riecht. Es ist ruhig in den Gassen. Die Einheimischen gehen anderswo ihren alltäglichen Aktivitäten nach. Nur hin und wieder schlendert ein Pilger auf seinem Weg zum Kap vorbei. Kassiopeia heißt eins der Cafés in Fisterra. Es ist nicht allein wegen des Namens ein besonderes, sondern weil es ein deutsches Café ist, geführt von deutschen Frauen. Was das bedeutet, erübrigt sich eigentlich zu sagen! Ein Hauch von Heimat liegt in der Luft. Nach zweieinhalb Monaten unterwegs sitze ich natürlich gerne hier, auch wenn der Kaffee nur halb so gut ist, wie in den spanischen Bars nebenan. Die Schildkröte Kassiopeia in Michael Endes Roman Momosymbolisiert die Qualität der Zeit, die dann am schönsten ist, wenn sie in glücklichen Momenten einen Augenblick verweilt. Dauer verlangen heißt: sie zu verärgern. Kassiopeia kann beides, vorwärts und rückwärts gehen. Paradoxerweise fließt die Zeit mit allem, was zu ihr gehört, schnell an ihr vorbei, wenn sie langsam rückwärts geht. Dabei bewältigen sich alle Widrigkeiten wie von selbst. Es ist ein Genuss, das Gefühl bewusst zu erleben, das eine entschleunigte Lebensweise mit sich bringt. Es kommt auf den richtigen Gebrauch der Zeit an.

Dienstag, 21. Februar 2023

Jenseits von Santiago


wie schön ist die Welt ... sing,
damit ich in meiner Zelle tanzen kann,
mit meinem Schatten,
auf Zehenspitzen, zu deinem Lied,
in dem alles Bewegung ist,
alles Straße, alles Horizont, alles Wind und Regen

Michael Obert

Wer von Anfang an weiß, wohin ihn der Weg führt, kommt nicht weit, warnt ein Sprichwort. Doch ans Cabo de Finisterre ist die Entfernung nicht weit genug, um das Ziel beim Gehen aus den Augen zu verlieren. Der Weg ist nicht länger das Ziel. Ich bin seit sechs Wochen zu Fuß unterwegs. Auf der Walz, wie manch ein Handwerker noch heute. Aber auch der Ethnologe, und der Schriftsteller, der er schließlich ist, findet sein Werk draußen in der Welt. Es gab eine Epoche, da war niemand Meister, der sich nicht unterwegs weitergebildet hat. On The Road, was klingt treffender. Von Alan Ginsberg, Jack Kerouac und Aldous Huxley geadelt und seitdem tausendfach wiederholt. Wenn auch in neuem Gewand. Manche Gesellen lassen sich noch immer auf diese altehrwürdige Rite de Passage ein, bevor sie Mann und Meister sind. Drei Männer und eine Frau habe ich in Zimmermannstracht in den Gassen von Santiago de Compostela getroffen. In schwarz und weiß, mit breitkrempigem Hut, weißem Hemd und schwarzer Weste, das Messer am Gürtel ihrer groben Cordhose, mit dem knorrigen Wanderstock aus Wurzelholz in der Hand. Gesellinnen haben endlich Einzug ins Handwerk gehalten.

Dienstag, 14. Februar 2023

Die Causa Jakobus


Lauf nicht dahin, man weiß nicht,
ob Sankt Jakob oder ein toter Hund daliegt
.
Martin Luther

Damals schien das Universum lebendig zu sein.
Überall waren Botschaften, die zu deuten waren
.
Philip Pullman

Vorbemerkung

Die Beschäftigung mit dem Phänomen »Jakobus« gleicht einem Tanz auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Spekulation, zwischen Faktum und Fiktion, zwischen Geschichte und Fantasy. Seine Vita ist legendär, und von seinem Leben handeln Legenden, mit denen der Apostel seine Anhänger inspiriert, motiviert oder unterhält, deren historische Evidenz aber mehr als fraglich ist.

Freitag, 10. Februar 2023

Auf dem Sternenfeld


An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise
die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen
all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal
angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind.

Cees Noteboom

Alle Wege führen nach Rom, sagt man, doch viele führen auch nach Santiago de Compostela. Jerusalem, Rom und Santiago sind seit Jahrhunderten bevorzugte Ziele christlicher Pilger. Ich kenne inzwischen zwei Jakobswege in Deutschland und sieben weitere auf der iberischen Halbinsel, die strahlenförmig nach Galicien weisen. Marius, der sich selbst einen Caminosammler nennt, kennt noch viele mehr. Jahrelang hat er alle abgewandert, bis keiner mehr übrigblieb. Inzwischen hat er begonnen, sie rückwärtszugehen. Ich habe vergessen, ihn zu fragen, ob er unterwegs Harold Fry getroffen hat. Der fiktive britische Pilger musste zuerst lernen, dass die Herausforderung seines Wegs nicht darin besteht, den Kampf mit seiner körperlichen Leistungsfähigkeit aufzunehmen. Erst als er aufgab, fühlte er sich als Pilger, und begann, die Entfernung nicht mehr in Kilometern, sondern in Erinnerungen zu messen.

Mittwoch, 8. Februar 2023

Der portugiesische Weg


Never measure the height of a mountain
until you have reached the top.
Then you will see how low it was

Dag Hammarskjold

Ich will nach draußen gehen;
alter Kummer soll heute vergessen sein,
denn die Luft ist kühl und ruhig, und die Hügel
sind hoch und erstrecken sich bis zum Himmel
.
Sylvain Tesson

Zum zweiten Mal im Leben bin ich in Porto. Zum ersten Mal war ich in den frühen 1980ern hier, während meiner ersten Nordspanien-Rundfahrt. Gäbe es keine Grenze, niemand würde den Unterschied bemerken. Galicien und Nordportugal bilden eine gemeinsame Landschaft. An Porto erinnere ich als an eine Stadt, die zu beiden Seiten aus dem engen Tal des Douro die Hänge hinaufgewachsen ist. Eher ein kleines Städtchen, romantisch verklärt, eine malerische Kulisse, der Gegenentwurf zu einer deutschen Normalität von Routine, Ordentlichkeit und Disziplin. Nichts davon ist wahr oder nichts davon ist geblieben. Porto ist ein Moloch von Stadt, vielleicht erst geworden. Ich weiß es nicht. Sicher, die engen und steilen, kopfsteingepflasterten Gassen, die vom Fluss zur Kathedrale hinaufführen, die sich hoch oben auf einem Hügel über Porto erhebt, haben ihren Charme. Doch auch sie sind nicht wahr. Sie sind ein Relikt, das für die Touristen, die massenhaft durch sie auf- und abwärts strömen, konserviert werden. Baulicher Verfall allenthalben. Das ist nicht Porto, dass ist ein Museum, und dazu noch ein schlecht gepflegtes. Ich bin heute stundenlang durch durch breite Straßen und enge Gassen gegangen und habe mich gefragt, wer von all diesen Menschen, denen ich begegnet bin, wohnt in den Häusern, die ich auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren kann.



Wendepunkt Ourense


I think it is how most men get from one day to the next;
they set aside all experiences that do not mesh
with their perceptions of themselves.
How different would our perceptions of reality be
if, instead, we discarded the mundane events that
cannot co-exist with our dreams?

Robin Hobb

Drei nordspanische Städte bilden mein persönliches magisches Dreieck: Oviedo, Ourense und Santiago de Compostela; besonders die Landschaften Asturien und Galicien, in der sie die urbanen Zentren bilden, in die ich immer wieder zukehren will. Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser. Er kann auf jeder beliebigen Seite beginnen, vor- und zurückgehen in Raum und Zeit. Wer durch eine Stadt wandert, da wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen muss, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt. Und mit einer Landschaft verhält es sich nicht anders.
Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als ich 2017 zum ersten Mal auf einem Jakobsweg wanderte, traf ich auf dem Jaizkibel, kurz hinter Irún, Irina aus Moskau. Eine Wanderin wie sie hatte ich noch nie gesehen. Sie ging ein paar Schritte, langsam und bedächtig, blieb dann stehen, schaute sich um und drehte sich dabei fast um die eigene Achse. Dann ging sie noch ein paar Schritte, und das gleiche Spiel wiederholte sich. Ein Tanz auf dem Camino! Ob sie auf diese Weise Santiago erreichte? Ich weiß es nicht, denn schon nach drei Tagen traf ich sie nie mehr wieder. Ich fand ihr Wandern damals seltsam, weil ich nicht verstand, was sie da machte. Heute weiß ich, dass ich zum ersten Mal bewusst jemanden beim Flanieren zusah. Und heute weiß ich auch, dass das auf dem Camino de Santiago eine äußert seltene Begegnung ist.
Als literarische Figur streift der Flaneur durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom durch Straßen und Gassen und über Plätze. Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Sie bieten ihm die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Schon Karl May war der Meinung, dass man auf Reisen am leichtesten lernt, alte Vorurteile abzulegen. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Walter Benjamin vermutet, es heißt nicht viel, sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, […]. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Die Motivation des Flaneurs spiegelt sich im Streifen des Wanderers durch die Natur, weil jener in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Er spürt den Dingen nach, die zu finden nicht offensichtlich sind, will in den Landschaften, durch die er streift, versinken, sich mitunter im Gelände verirren, um unverhofft da wieder aufzutauchen, wo er bewusst nicht hinkommen kann. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten so sehr wie dem flanierenden Fußgänger. Städte und Landschaften werden sich dem Fremden nie vollständig erschließen, weil er die Sprache und Geschichte nicht kennt, fährt Cees Nooteboom fort, weil es gerade die Sprache und die Namen sind, [die] die geheimen Stimmungen, geheimen Orte, geheimen Erinnerungen bewahren. Woraus besteht ein Ort, woraus eine Landschaft? Beide integrieren alles, was sich in ihnen ereignet, gesagt oder nur geträumt und zerstört wurde. Auch aus dem, was in ihnen verschwunden ist, aus den Spuren, die sich nur dem Aufmerksamen, dem Kundigen, dem Archäologen zeigen. Ganz zuletzt bestehen Orte und Landschaften aus Erinnerungen, sind ein Archiv dessen, was sich im Lauf der Zeit in ihnen zugetragen hat. Torbjörn Ekelund hat zwölf Monate in norwegischen Wäldern übernachtet, in jedem Monat des Jahres immer nur eine Nacht. Seinen Bericht über ein Mikroabenteuer im Monat August beginnt er mit einer Reflektion über seine Erlebnisse und Erfahrungen, und fragt sich: Wenn ich an sie denke, erscheinen sie mir eher lexikalisch, wie ein Referat über mein Leben, und sie werden auch nicht jedes Mal aufs Neue durchlebt, wenn sie mir in den Sinn kommen.

Dienstag, 7. Februar 2023

Der galicische Karneval


Was du siehst,
hängt von der Richtung ab,
in die du schaust.
Herbert W. Jardner

Endlich zurück in Galicien. Nach einer Nacht, in der die Schnarcher wieder einmal den Schlafsaal beherrschten, verlasse ich die Altstadt von A Gudiña an der Gabelung Laza - Verin, wo der Camino Sanabrés zwei Varianten nach Ourense ermöglicht: die Südroute über Verin, wo der Caminho Português die Vía de la Plata erreicht, oder die landschaftlich reizvollere Etappe über Laza. Auf einem asphaltierten Höhenweg mäandert der Weg auf tausend Metern auf- und abwärts. Die Ausblicke über Galiciens Rollings Hills sind atemberaubend, die Landschaft weiter karg, die Vegetation spärlich und die wenigen Bäume klein und schmächtig. Endlose Heide. Gelb- und lilablühende Sträucher bedecken die Hänge der weich fließenden Hügellandschaft. Der Camino Sanabrés kreuzt mehrere Vendas, kaum Weiler zu nennen, ehemalige Raststätten an einem alten Handelsweg durch Galicien. In A Venda Do Capelabin bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht durch ein Geisterdorf wandere; verfallene Häuser, fast Ruinen. Selbst ein Hund, der einsam durch das Dorf streift, zieht sich vor mir zurück, als gehöre er nicht hierher. Die Bahnarbeiterunterkünfte am Rand von A Venda do Balaña stehen leer und verfallen, als ob es bereits Jahrzehnte her ist, dass hier jemand gewohnt hat. Der Ort besitzt einen Bahnhof an der alten Bahnstrecke, mit 182 Tunneln ein Meisterwerk der Ingenieurkunst. Ist erst einmal die neue AVE (Linea de Alta Velocidad Madrid - Ourense) fertig, die über Olmedo, Zamora, Pueblo de Sanabria und Lubián nach Ourense führt, dann versinkt die alte Trasse in der Bedeutungslosigkeit, und mit ihr die Ortschaften entlang ihrer Spur. Es sei denn, jemandem fällt es ein, einen regionalen Wanderweg vorzuschlagen. Weiter auf dem Galicien-Höhenweg bleibt der Blick über die Berge spektakulär, die wie hintereinander geschichtet wirken. Immer wieder überholen mich Roadrunner, die, ohne den Blick nach rechts oder links zu wenden, mit schnellem Stechschritt durch die Landschaft eilen, als ob sie schnell irgendwo ankommen müssen. Ein kleiner, kompakt gebauter Spanier, den ich das erste Mal auf den Pass von Dueña, hinauf ans Cruz de Santiago, gesehen habe, wo er auf die Straße abbog, überholt mich auch heute im Marschschritt. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass er gerade seinen Militärdienst absolviert hat, und sich so schnell nicht umstellen kann. Wie anders bewegen sich da die passiven Wanderer, die nichts leisten müssen, die in der Landschaft aufgehen, und viel langsamer vorwärtskommen. Ein letzter Pass, steil und steinig, rutschig auf zerbrochenen Schiefer, kleine Steinchen, wie gehäckselter Schrot unter den Sohlen. Überall ragen schräg geschichtete Schieferplatten aus dem Boden hervor. Braun verwittert, wirken sie zerbrechlich. Die dünnen Platten zerbrechen unter meinem Tritt wie morsches Holz. Der Abstieg nach Campobecerros. Meine Etappe neigt sich dem Ende zu, und ich kann den Weiler bereits am Fuß einer steilen Geröllhalde sehen, hier und da grüne Flecken krüppeliges Strauchwerk. Ein letztes Mal stolpere ich steil und rutschig abwärts, das Gefühl über gleitenden Untergrund zu gehen. Mit schmerzenden Knien erreiche ich die Herberge. Zwei Stunden später sind alle 18 Betten belegt.

Montag, 6. Februar 2023

Im Grenzland


Wer reist, der sucht.
Was? Das Andere.
Das Fremde. Und sich selbst.
Wer die Welt nicht aufsucht,
wird sich nicht finden
.
Christian Schüle

Die Ortschaften werden immer kleiner, immer seltener, immer menschenleerer. Vor ein paar Tagen habe ich die Vía de la Plata verlassen, die weiter nordwärts in Astorga auf dem französischen Weg endet. Ich bin in Granja de Moreruelo nach Westen auf den Camino Sanabrés abgebogen, der nördlich entlang der portugiesischen Grenze über Ourense nach Santiago de Compostela führt. Seit mindestens einer Woche wandere ich von einer Sierra in die andere, windzerzauste Hochebenen ohne Landwirtschaft, auf der blühende Sträucher und nur gelegentlich Bäume wachsen. Eine unversehrte Landschaft, eine Heide unter weitem Himmel, sonnengeflutet, sodass das Auge oft schmerzt. Ein Vogelland, ein Pferde- und Kaninchenland, so ausgedehnt, dass es ein Vergnügen ist, zu wandern.
Ich komme gut voran, aber es bleibt kalt. Die Sonne scheint, doch der Wind bläst eisig. Heute Morgen sind es wieder nur zwei Grad. Wieder steife Finger und eine laufende Nase. Nur langsam wird es in der Höhe wärmer, aber noch nicht warm. Trotzdem wird mir heiß beim Gehen, ich schwitze. Der Wind findet jede Lücke in meiner Kleidung und nimmt die fragile Wärme mit sich, die mir lose auf der Haut liegt. Ich friere, flüchte in eine Bar, trinke heißen Tee und freue mich über den Ofen, der die Luft im Raum erwärmt. Mit meiner viel zu dünnen Kleidung bin ich nicht auf diese Temperaturen eingestellt. Wieder habe ich alles übereinander angezogen, was im Rucksack ist. Ultra Light-Wandern im Frühling, auf fast tausend Metern, ist nicht umsonst zu haben. Gewicht ist Angst, das Unbehagen, die vertraute Sicherheit aufzugeben, so propagieren es die amerikanischen Thruhiker. Das ist richtig, aber es fällt schwer, auf warme Kleidung zu verzichten. Aber Wolle ist platzraubend und schwer, Funktionskleidung wiegt noch weniger als Baumwolle. Die ist ohnehin nutzlos. Ist sie erst einmal durchgeschwitzt, trocknet sie ewig nicht. Trotzdem geht es mir gut und meistens fühle ich mich unterwegs wohl. Der Flow des Wanderns schärft alle Sinne, lenkt den Blick weg von den Missempfindungen auf die Umgebung und ermöglicht eine ganzheitliche Präsenz. Er gibt mir psychisch mehr, als es mich physisch kostet.