I think it is how most men get from one day to the next;
they set aside all experiences that do not mesh
with their perceptions of themselves.
How different would our perceptions of reality be
if, instead, we discarded the mundane events that
cannot co-exist with our dreams?
Robin Hobb
Drei nordspanische Städte bilden mein persönliches magisches Dreieck: Oviedo, Ourense und Santiago de Compostela; besonders die Landschaften Asturien und Galicien, in der sie die urbanen Zentren bilden, in die ich immer wieder zukehren will. Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser. Er kann auf jeder beliebigen Seite beginnen, vor- und zurückgehen in Raum und Zeit. Wer durch eine Stadt wandert, da wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen muss, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt. Und mit einer Landschaft verhält es sich nicht anders.
Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als ich 2017 zum ersten Mal auf einem Jakobsweg wanderte, traf ich auf dem Jaizkibel, kurz hinter Irún, Irina aus Moskau. Eine Wanderin wie sie hatte ich noch nie gesehen. Sie ging ein paar Schritte, langsam und bedächtig, blieb dann stehen, schaute sich um und drehte sich dabei fast um die eigene Achse. Dann ging sie noch ein paar Schritte, und das gleiche Spiel wiederholte sich. Ein Tanz auf dem Camino! Ob sie auf diese Weise Santiago erreichte? Ich weiß es nicht, denn schon nach drei Tagen traf ich sie nie mehr wieder. Ich fand ihr Wandern damals seltsam, weil ich nicht verstand, was sie da machte. Heute weiß ich, dass ich zum ersten Mal bewusst jemanden beim Flanieren zusah. Und heute weiß ich auch, dass das auf dem Camino de Santiago eine äußert seltene Begegnung ist.
Als literarische Figur streift der Flaneur durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom durch Straßen und Gassen und über Plätze. Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Sie bieten ihm die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Schon Karl May war der Meinung, dass man auf Reisen am leichtesten lernt, alte Vorurteile abzulegen. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Walter Benjamin vermutet, es heißt nicht viel, sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, […]. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Die Motivation des Flaneurs spiegelt sich im Streifen des Wanderers durch die Natur, weil jener in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Er spürt den Dingen nach, die zu finden nicht offensichtlich sind, will in den Landschaften, durch die er streift, versinken, sich mitunter im Gelände verirren, um unverhofft da wieder aufzutauchen, wo er bewusst nicht hinkommen kann. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten so sehr wie dem flanierenden Fußgänger. Städte und Landschaften werden sich dem Fremden nie vollständig erschließen, weil er die Sprache und Geschichte nicht kennt, fährt Cees Nooteboom fort, weil es gerade die Sprache und die Namen sind, [die] die geheimen Stimmungen, geheimen Orte, geheimen Erinnerungen bewahren. Woraus besteht ein Ort, woraus eine Landschaft? Beide integrieren alles, was sich in ihnen ereignet, gesagt oder nur geträumt und zerstört wurde. Auch aus dem, was in ihnen verschwunden ist, aus den Spuren, die sich nur dem Aufmerksamen, dem Kundigen, dem Archäologen zeigen. Ganz zuletzt bestehen Orte und Landschaften aus Erinnerungen, sind ein Archiv dessen, was sich im Lauf der Zeit in ihnen zugetragen hat. Torbjörn Ekelund hat zwölf Monate in norwegischen Wäldern übernachtet, in jedem Monat des Jahres immer nur eine Nacht. Seinen Bericht über ein Mikroabenteuer im Monat August beginnt er mit einer Reflektion über seine Erlebnisse und Erfahrungen, und fragt sich: Wenn ich an sie denke, erscheinen sie mir eher lexikalisch, wie ein Referat über mein Leben, und sie werden auch nicht jedes Mal aufs Neue durchlebt, wenn sie mir in den Sinn kommen.